Ein strammer Nordwestwind fegt über das Oldenburger Land. Auf einem Feldweg im südlichen Zipfel von Oldenburg sind graue Gestalten unterwegs, die mit der neblig-winterkahlen Gegend zu verschmelzen scheinen. Einen mit Luftballons und grünem Gemüse geschmückten Handwagen im Schlepp marschieren sie stramm ihrem Ziel entgegen: Im nächsten Landgasthaus „deftig Ollnborger Gröönkohl äten“ (deftigen Oldenburger Grünkohl essen). Der Kohldampf auf die gehaltvolle Winterspeise kommt in der frischen Luft praktisch von allein. In den Wintermonaten gilt hier – ist das Essen verkohlt, ist das Dinner perfekt.
Eine Kohltour zählt zu den Höhepunkten des Jahres
Von November bis März werde der Grünkohl in keinem anderen Ort Nordeuropas so gefeiert und genossen wie in der niedersächsischen Stadt, versichert Bettina Koch vom Tourismusbüro. „Selbst bei Schnee oder Schiedwetter.“ Man ist ja im Norden. Eine „Kohltour“ sei das, was Süddeutschen und Rheinländern Fasching und Karneval ist. Gesellige Gruppenspaziergänge und ein Höhepunkt des Jahres.
Dazu brauchen die Nordlichter keine stattlichen Prunkwagen und müssen auch keine Kamelle schmeißen. Statt blitzender Orden baumelt ein grauer Minikrug um den Hals. Das Band ist ausreichend lang, damit Schluckspechte auch beim Laufen daraus nippen können. Der wärmende Schnaps ist bei bestem Glühweinwetter stets griffbereit. Der Rest liegt im Bollerwagen. Zum Beispiel Utensilien für sonderbare Wurfwettbewerbe. Meistens fliegt eine handgroße Boßelkugel beim Volkssport der Norddeutschen übers platte Land. Zum „Kugeln“ und für Touristen gewöhnungsbedürftig sind aber auch Wettkämpfe mit Säcken, fliegenden Besen und Teebeuteln. Manchmal lamentieren Beobachter „die spinnen, die Oldenburger“. Diese Missachtung einer mehr als 150 Jahre alten Tradition quittieren Einheimische dann postwendend mit einem strafenden Blick.
Um Enge und Langeweile zu entfliehen und Geselligkeit zu fördern, hatte „Turnvater Jahn“ Leibesübungen mit Wandern kombiniert. Erste Turnwanderungen, auch Turn“fahrten“ genannt, fanden in Oldenburg 1846 statt. Weil dem sportlichen Tun aber ein Kick und die finale Würze fehlten, war das Interesse überschaubar.
Zum Grünkohl gehört Pinkel, eine fette Wurst
15 Jahre später trafen sich an einem frostigen Tag ausschließlich Männer zu einem dreistündigen Marsch. Die Belohnung folgte auf dem Fuß. Im Ziel erwartete sie ein deftiges Mahl mit Grünkohl, Schweinefleisch, Bratkartoffeln und fetter Wurst. Die Oldenburger Kohltour hatte ihren Jungfernlauf. Frauen schnürten erst 1894 ihre Wanderstiefel, mussten aber von Männern getrennt marschieren. „Weil sich das so schickt“, urteilten damals Sittenwächter des Turnerbundes. Die Weiterentwicklung der sportlichen Initiative hin zu einem gesellig-kulinarischen Gaudi sei dann eine Frage der Zeit und gesellschaftlichen Entwicklung gewesen – mit allen Zutaten für ein touristisches Marketingprodukt, berichtet Bettina Koch.
Alle Würste werden Brüder, wenn es um den Kohl geht. Wurschtige Zutaten für die Hausmannskost sind Mettenden wie Bregenwurst, Lungwurst, oder „Polnische“. Den Zipfel ganz vorne hat jedoch die favorisierte „Pinkel“. Pinkel?? Na klar! Beim Räuchern tropfe ja Fett, also Flüssiges herunter. Die Grützwurst „pinkelt“, lautet eine zotige von vielen Erklärungen.
Der Teebeutel-Weitwurf gehört zur Kohlfahrt dazu
Fast vier Kilometer haben die wackeren „Kohlfahrer“ mittlerweile in der Heide-, Moor- und Waldlandschaft sowie auf dem Deich am Hunte-Kanal zurückgelegt. Immer wieder macht die gesellige Acht Pause für Spiele und Wettbewerbe. Teebeutel werden am Zettel des Bandes zwischen die Zähne genommen. Dann mit dem Kopf zum Schwung ausgeholt und der Beutel gegen den Wind geschleudert. Der weiteste Wurf gewinnt. Albern sein kann richtig Spaß machen. An der nächsten Biegung hüpfen Teilnehmer in Säcken und versuchen den vorausrollenden Bollerwagen einzuholen. Über die eigenen Füße stolpern ist okay, liegen bleiben nicht.
Allmählich breitet das Dunkel seinen Mantel über das stille Land. In Bümmerstede leuchten hinter einer Baumreihe die Fenster des riedgedeckten Dorfkrugs, der ersehnte Höhepunkt der Grünkohltour. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so hungrig bin“, kommt hier nach etlichen verbrannten Kalorien niemanden in den Sinn.
Als die Gäste einige der in Oldenburg pro Saison rund 100.000 aufgetischten Kohl-Portionen serviert bekommen, erfahren sie vom „Kultstatus“ des 1889 gegründeten „Brümmersteder Krug“. Seit mehr als zwei Jahrzehnten liefere das Restaurant die C und B2 Vitaminbombe zum traditionellen Grünkohl-Essen nach Berlin. Dort bringe man jedes Jahr Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kultur auf den Geschmack, verrät der Gastwirt. Die Wahl des Grünkohlkönigs gibt es dann als Vorspeise oder Dessert. Nach Christian Lindner hält in diesem Jahr seine Kohlmajestät Boris Pistorius das Zepter „bannig stolz“ in der Hand.
Was aus Grünkohl alles gemacht werden kann
Wer nun dem winterlichen Spaß-Walk mit nordischem Frischeschock nichts abgewinnen kann, kommt bei einer kulinarischen Entdeckungstour in Oldenburg auf den Geschmack. Vor der Tourist-Info beim mittelalterlichen Lappan-Turm schließt sich eine Gruppe Maike Vormelker an und folgt der Gästeführerin durch die seit 1967 erste autofreie Altstadt Deutschlands. In Hofläden und Shops staunen die Scouts, wie bunt grün sein kann. Grünkohltee, -gin, -brot, -pulver, -pesto, sogar Grünkohlpralinen wetteifern in Regalen um die Kaufgunst des Publikums. „Probieren Sie“, fordert eine Verkäuferin die Geschmacksnerven heraus. Während die süße Delikatesse im Mund zergeht, erläutert die Gästeführerin den Herstellungsprozess der eigenwilligen Komponente: Dunkle Schokolade werde zunächst mit mildem italienischen „Palmizio“-Grünkohl gefüllt. Für die grüne Farbe mischt man das Kohlpüree mit Spinat, gibt Sahne und einen Schuss Korn hinzu und streut als i-Tüpfelchen bunte Pfefferkörnchen auf die Praline.
In der augenzwinkernd selbsternannten Kohltour-Hauptstadt ist Grünkohl eine Wissenschaft für sich. Biologen nehmen an der Universität Oldenburg das Blattgemüse seit zehn Jahren ganz genau unter die Lupe, untersuchen wie vielfältig die weltweit rund 150 Sorten sind oder wie sich Umweltfaktoren und Nährstoffgehalt auswirken. Rund 100 verschiedene Grünkohlsorten wachsen im Forschungsgarten der Hochschule. Dem Team um Christoph Hahn gelang sogar eine eigene Züchtung. Bei der klimaresistenten „Oldenburger Palme“ reichen für den guten Geschmack bereits niedrige Temperaturen, widerlegt „Doktor Grünkohl“ die alte Bauernregel vom Frost vor der Ernte. Wissen geht durch den Magen.
Nach zwei Stunden kulinarische Stadtführung ist der Wissenshunger gestillt, der Appetit dafür umso größer. In „Ols Brauhaus“ dampfen in Kochtöpfen schon die ersten Portionen – mit ausschließlich regionalem Fleisch von Landschweinen, die sich ein Leben lang „sauwohl“ fühlen, versichert die Bedienung. Dann stellt sie als flüssige Beigabe den „Grünen Anton“ auf den Tisch. Grünkohl schmeckt sogar aus einem Bierglas.
Kurz informiert
Grünkohlsaison: Am 3. November wurde die Saison auf dem Rathausmarkt in Oldenburg mit einem Grünkohlessen eröffnet. Touren und „kohlhaltige“ Aktionen finden bis Ende März statt.
Auskünfte: www.oldenburg-tourismus.de und www.kohltourhauptstadt.de; Über Bollerwagen-Verleih sowie kulinarische und kulturelle Stadtrundgänge informiert die Tourist-Info Oldenburg 0441 / 36161366. Auf Anfrage vermieten auch einige Restaurants Bollerwagen.
Tipps zum Einkehren: Der Bümmersteder Krug (www.buemmersteder-krug.de) veranstaltet von Januar bis März jedes Wochenende Kohlbälle mit Musik. Im Gasthof „Zum drögen Hasen“ können Aktionen für Gruppen gebucht werden (www.zum-droegen-hasen.de) „Ols Brauhaus am Hafen“ schenkt u.a. das Kohlbier „Grüner Anton“ ein. Zünftige Grünkohl-Wochenenden bietet der Landgasthof „Hengstforder Mühle“ im benachbarten Ammerland an (www.hengstforder-muehle.de)
Unterkunft: 100 Meter vom Hbf. entfernt liegt das stadtnahe Hiive Hotel. DZ ab 103 Euro. www.hiive.de
Literatur: „Lieblingsplätze Oldenburger Land, Gmeiner Verlag, 17 Euro.
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