Es flitzt. Es raschelt. Bei fast jedem Schritt. Es huscht im vom Sommer verblichenen Gras. Auf den alten groben Steinstufen. Am Brunnen des Dorfplatzes. Zack, schon hat die nächste smaragdfarbene Eidechse ihren Sonnenplatz aufgegeben, ist um die Ecke gesaust. Dorfbewohnern hingegen begegnet man nur selten, wenn man durch die schmalen, steinernen Gassen streift. Corippo ist ein still vor sich bröckelndes Juwel. Die Gebäude ganz aus Stein gebaut, die Mauern aus groben Steinen aufgeschichtet, die Dächer aus Schieferplatten. Über Jahrhunderte hinweg hat sich wenig verändert. Die Marienbilder an manchen Wänden erzählen von einem einfachen und gottesfürchtigen Leben. Wer hier umherwandert oder den steilen Weg zu den Häusern ganz oben aufsteigt, meint die Gegenwart mit jedem Meter hinter sich zu lassen. Eine einsame Stille. Gerade noch zehn Einwohner wohnen im Dorf. Der jüngste Einheimische ist um die sechzig. Doch war da nicht ein Kinderlachen zu hören? Und lag in dem Nebenraum des Infozentrums von Corippo nicht ein Kinderfahrrad? Warum eine junge Familie sich darum bemüht hat, ausgerechnet in dieses verlassene Bergdorf zu ziehen und wie sie wieder frisches Leben in den Ort bringt. Dazu aber später.
Corippo liegt im Abseits der berühmten Ponte dei Salti
Corippo! Das alte Dorf liegt ein wenig abseits der Attraktionen im berühmten Schweizer Verzasca-Tal. Die großen Besucherströme ziehen weiter unter auf der Talstraße an dem Weiler vorbei. Nur ein paar Touristen und Touristinnen streifen an diesem Tag durch die Gassen um, machen Fotos am plätschernden Dorfbrunnen. Die meisten biegen erst gar nicht nach Corippo ab, sondern fahren weiter nach Lavertezzo zur Ponte dei Salti, der alten, geschwungenen Brücke von Lavertezzo. Ein mittlerweile ikonischer Instagram-Ort. Hier fotografieren sich Menschen aus aller Welt beim Sprung ins dunkelgrüne Wasser der Verzasca, oder auf den hellen ausgewaschenen Steinen, fahren morgens in so großer Zahl ins Tal und abends wieder heraus, dass der Verkehr im Ort geregelt werden muss. Ein ständiges Kommen und Gehen zur Ponte dei Salti hin und von der Ponte dei Salti weg, das nur an der riesigen Staumauer am Anfang des Tales noch einmal ausgebremst wird, wo sich James Bond in Golden Eye die scheinbar endlose Betonwand hinuntergestürzt hat. Seither muss sich das Tal über mangelnde Aufmerksamkeit nicht beklagen.
Wie erstaunlich, dass es trotz allen Trubels noch immer stille Pfade auch im Verzasca-Tal gibt. Wer den Sentiero di Verzasca von Mergoscia nach Corippo wandert, ist in dem dichten Kastanienwald meist allein unterwegs - ein paar Eidechsen dürfen natürlich nicht fehlen. Ist hier die Zeit gestehen geblieben? An einem Bildstock vorbei geht es über eine steinerne Brücke in das Dorf hinauf, das wie ein Wespennest, grau und kompakt, an den steilen Berghang geklebt scheint. Die Steinstufen holprig und rau, die 70 Häuser allesamt einfache Rusticos. Enge Räume, kleine Fenster, früher teilten sich oft mehrere Familien die Gebäude. Wie das funktionierte, kann sich heute keiner mehr vorstellen. In Corippo war vor allem im Sommer was los, wenn das Vieh ins Verzasca-Tal getrieben wurde und versorgt werden musste, erzählt Stefanie, 61 Jahre, grauer Kurzhaarschnitt, die in Brione, ein paar Dörfer, weiter lebt und jetzt in Corippo arbeitet. Im Winter zogen die Familien zurück nach Quartino. Doch die Leute kamen immer seltener zurück nach Corippo, viele wanderten aus, versuchten in Amerika und Australien ihr Glück. Zurück blieben meist nur die Alten. Rund 300 Einwohner lebten im 19. Jahrhundert in Corippo, 1950 nur noch etwa siebzig. Heute sind es zehn.
Schon 1975 wurde Corippo unter Denkmalschutz gestellt
Das Dorf steht seit 1975 unter Denkmalschutz, weil es als Ensemble einmalig gut erhalten ist. Damals entstand auch der Plan, das Dorf wiederzubeleben, die Fondazione die Corippo gründete sich. Doch mehrere Versuche, Einwohner zurückzulocken, scheiterten. 40 Jahre später wurde ein neuer Anlauf genommen. Die Idee wurde vorangetrieben, in der Ortsmitte nach italienischem Vorbild einen sogenannten Albergo Diffuso einzurichten, ein über mehrere Häuser im Dorf verteiltes Hotel. Die Fondazione di Corippo, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, nicht nur den Ort, sondern auch die Struktur der Landschaft zu erhalten, nahm 3,6 Millionen Schweizer Franken in die Hand, erwarb Häuser im Ort und renovierte sie behutsam. Die Namen der Hotelzimmer erinnern an ihre ehemaligen Bewohner und tragen ihre Namen: Martino, Angiolina, Siro und Luigino. Restauriert wurde auch die alte Mühle, die nun wieder funktionstüchtig ist. Auch die Streuobstwiese wurde rekultiviert. Herzstück jedoch ist die neue Osteria direkt am Marktplatz, gegenüber der 500 Jahre alten Barockkirche Santa Maria del Carmine.
Und das liegt an Jeremy und Désirée, die seit zwei Jahren den Gasthof und das Hotel führen. Mit ihrem Sohn Ernesto, 4, und den einjährigen Zwillingen Leopoldine und Adelaide haben sie die Anzahl der Einwohner um 50 Prozent erhöht und senken gleichzeitig den Altersdurchschnitt erheblich. Und dann wäre da noch Zorro, der Familienhund, der freudig schwanzwedelnd durch die Gassen fegt. Eidechsenjagd?
Jeremy nimmt sich einen Espresso lang Zeit, dann möchte er mit seiner Familie schwimmen gehen. Wie fühlt sich das Leben an in diesem stillen, einsamen Dorf? Hier in Corippo zählten andere Werte, sagt Jeremy. Die Ruhe, das saubere Wasser und dass Ernesto, sein vierjähriger Sohn einfach lossausen könne, ohne dass man sich Sorgen machen müsse. Nie würde er in einem der schicken Hotels unten direkt am Lago Maggiore arbeiten wollen. Hier könnte er Familie und Gastronomie gut unter einen Hut bekommen, erzählt der gelernte Koch, der bereits in mehreren ausgezeichneten Restaurants gearbeitet hat.
Was Jeremy und Désirée am Verzasca-Tal schätzen
Das Paar hat eine außergewöhnliche Lebensgeschichte. Jeremy arbeitete erfolgreich in der Ölindustrie in Nigeria und Tansania, bis er keinen Sinn mehr darin sah, noch mehr Geld zu verdienen. Désirée studierte erst Jura, bevor sie ihre Liebe zur Gastronomie entdeckte und Hotelkauffrau lernte. Gemeinsam haben sie bereits in mehreren Häusern in der Schweiz und in Peru gearbeitet, dann hätten sie über einen Freund von diesem Projekt erfahren und sich beworben. Unter rund 100 Bewerbern wurde das Paar ausgewählt. Wohl auch deswegen, weil es plante, das ganze Jahr über in Corippo mit den Kindern wohnen zu wollen. Nun leitet Jeremy die Küche und Desiree managt das Hotel im Hintergrund, checkt E-Mails, die Buchungen und hilft an der Rezeption aus, „wenn es brennt“.
Gerade hat eine Wandergruppe Cappuccino und Sorbetto bestellt, ein paar Hotelgäste haben es sich etwas tiefer in den Liegestühlen im Garten gemütlich gemacht. Die Gästezimmer in den Rusticos sind einfach eingerichtet. Ein Bett, ein Stuhl, eine kleine Garderobe. Das Bad ist baulich wie ein Würfel ins Zimmer gesetzt. Keine Minibar, aber einen Obstteller, kein Fernseher, aber grandiose Aussicht auf die bewaldeten Berge. Einfache Einrichtung, „aber Matratzen wie in einem Fünf-Sterne-Hotel“, sagt Jeremy. Das sei wichtig. Genauso wie gutes Essen. Wildthymian-Risotto mit gebratenen Pfirsichen steht etwa auf der Karte. Oder mit Sumach gewürztes Kalbstatar auf Auberginenkaviar nach libanesischer Art. Die klassische, traditionelle Tessiner Küche will Jeremy den zahlreichen Grotti also den traditionellen Wirtshäusern, im Verzasca-Tal überlassen.
„Es läuft gut“ im Albergo die Corippo. Viele Zimmer seien lange im Voraus gebucht. Und auch im Winter und im Frühjahr kämen immer mehr Gäste. „Langsam spricht es sich herum, dass man auch zu dieser Zeit, hier gut wandern kann“, sagt Désirée. Dabei war das Projekt bei den Einwohnern anfangs nicht unumstritten. Sie hätten es lieber gesehen, wenn die Bausumme für die Reparatur der alten Wasserleitungen und die Schaffung von Parkplätzen verwendet worden wäre. „Es gab schon Vorbehalte“, sagt Jeremy. Nun sei das Miteinander im Dorf aber gut und einen kostenlosen Kaffee für die Bewohner Corippos gebe es sowieso. Ganzjährig arbeiten sechs Angestellte im Albergo, während der Hauptsaison sind es vierzehn. Eine davon ist Stefanie, die froh ist, hier einen Arbeitsplatz gefunden zu haben. „Im Tal gibt es nicht mehr viel“. Trotz der vielen Touristen. Ein paar Kneipen, Souvenirshops, in Brione eine Bäckerei, ein Lebensmittelgeschäft und ein Geldautomat. 900 Einheimische leben noch im ganzen Verzasca-Tal. Die Eidechsen hat keiner gezählt.
Kurz informiert
Anreise: Die Verbindung mit den Postbussen ist hervorragend. Ab dem Bahnhof in Locarno dauert die Fahrt gute halbe Stunde. Im Verzasca-Tal kann man an jedem Ort ein und aussteigen.
Wandern: Durch das ganze Verzasca-Tal führt der 34,7 Kilometer lange Sentiero di Verzasca meist direkt am Fluss entlang. Startpunkt könnte Mergoscia sein, Anfahrt nur mit dem Bus, hier gibt es keine Parkplätze, über Corippo, Lavertezzo bis nach Sonogno. Es gibt viele Bushaltestellen, so dass die Tour auch abgekürzt oder unterbrochen werden kann.
Übernachten: Albergo di Corippo, Bassa Corippo, 6631 Corippo, Schweiz, E-Mail: ciao@corippoalbergodiffuso.ch., Tel. 0041/ 91 745 18 71, Zimmer für zwei Personen ab 180 Franken.
Info: über Corippo: https://www.fondazionecorippo.ch/de/ oder generell zum Tessino: www.ticino.ch
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