Nibelungen klingt nach Helden und Drachenblut, nach Hunnen und Verrat. Die einen verorten das mehr in Bayreuth und haben dabei Wagner-Opern im Ohr, die anderen mehr in Worms mit den Festspielen dort oder gehen ins Kino, wo gerade Hagen zu sehen ist. Aber wer des Sitzens überdrüssig ist und sich die Welt lieber auf den Füßen aneignet, hat auch eine Möglichkeit, den Sagenfiguren nahezukommen: auf dem Nibelungensteig. So nennt sich der Weitwanderweg, der einmal von West nach Ost quer durch Odenwald führt. Weitwandern heute braucht nicht nur schöne Wege und eine spektakuläre Landschaft, es braucht auch ein Thema, ein Motto. Hier befinden sich im Marschgepäck neben Wasser und Müsliriegel gleich noch Siegfried, Brunhild und Kriemhild on top. Zum Glück wiegt diese Last nichts, sonst wäre der Rucksack zu beladen.
Die Anreise zum Nibelungensteig ist auch mit dem Zug möglich
Wir, die kleine Wandergesellschaft, zwei Freunde und ein Sohn, haben uns für die Tour erst einmal aus profanen Gründen entschieden: Die Anreise ist für jeden gleich lang, außerdem gibt es am Start wie am Zielpunkt einen Bahnhof, wir können also bequem mit dem Zug kommen. Und als Drittes die Landschaft. Vier Tage im Pfälzer Wald wären tatsächlich vier Tage im Wald gewesen. Bäume, bis man sie nicht mehr sehen möchte. Der Odenwald ist anders.
Rund 130 Kilometer Strecke sind auf der kompletten Strecke zurückzulegen, 4400 Höhenmeter heißt es auf der Internetseite des Wegs. Ein Hotelier am Steig erzählt uns später, dass er auch schon einmal einen Gast hatte, der den Steig an zwei Tagen zu je 65 Kilometer weggebolzt hat, mehr rennend als sehend. Dann wird das Ganze zu einer sportlichen Herausforderung. Allerdings hat der Odenwald dermaßen viel Charme, dass man das Gegenteil machen sollte: so langsam wie möglich, um den Wechsel aus Natur und Geschichte, Burgen, Felsformationen und hübschen Orten zu genießen.
Wir haben nur viereinhalb Tage Zeit. Von Anfang an ist klar, dass wir nur die Hälfte wandern werden: von Zwingenberg an der Bergstraße bis nach Erbach. Es fängt gut an, die Züge sind pünktlich, die engen Gassen in Zwingenberg, die hübsche kleine Altstadt mit den Sandstein-Häusern lässt einen spüren, dass das auch eine Weingegend ist. Das rote „N“ auf weißem Grund ist sofort zu finden. Als wir am Fuß des Melibokus stehen, unserem ersten Anstieg, ist klar: Die Karte ist nicht so wichtig, besser kann ein Wanderweg nicht markiert sein. Und noch besser: Der Wetterbericht sagt vier Tage ohne Regen voraus. Keine Selbstverständlichkeit. Noch schnell ein Selfie, dann geht‘s bergauf, man könnte auch anschwitzen dazu sagen.
Auf dem Nibelungensteig entfaltet der Odenwald sofort seine Magie
Oben wartet eine Aussichtsplattform, von der aus sich die Rheinebene überblicken lässt. Der Kühlturm des Kernkraftwerks Biblis ragt heraus im Nibelungenland. Dort, wo es dunstig wird, liegt Worms. Eigentlich stehen an der ersten Etappe satte 27,6 Kilometer an, dazu 1200 Höhenmeter im Aufstieg - achteinhalb Stunden Wanderzeit. Wer geübt ist und die vielen Kilometer gewohnt, bitte schön. Schon bei der Planung haben wir das unterteilt, wir mussten ja noch anreisen. Während wir vom Melibokus weiterwandern, beglückwünschen wir uns dazu. Unser Tempo: gemütlich.
Der Odenwald entfaltet sofort seine Magie. Es geht durch Laubwälder und über sandige Böden. Immer wieder öffnet sich der Wald, führt der Weg über Wiesen, quert er Täler, gibt er weite Blicke frei. Das ist abwechslungsreich, wird nie langweilig. Zum Finale unserer ersten Etappe wird es spektakulär: Der Steig führt das Felsenmeer hinab, eine Formation wie von einem Geschlecht von Riesen geschaffen und surreal. Mitten im Wald tauchen die Felsen auf und führen hinab ins Tal. Natürlich gibt es eine geologische Erklärung dafür, Wasser, eine bestimmte Gesteinsformation - und viel Zeit. Zwischen den Felsen liegt eine zigmeterlange Säule, von den Römern aus einem langen Felsen geschlagen, aber dann nie ab- und wegtransportiert, ein Relikt aus der Antike.
Anfangs hatten wir mal darüber gesprochen, mit dem Zelt zu wandern. Aber das hätte geheißen, Matten, Schlafsäcke und Kochgeschirr mitzunehmen. Und die Campingplätze wären nicht so gut am Steig entlang verteilt gewesen. Jetzt haben wir ein Dreibettzimmer, zwei Doppelzimmer, ein Doppel- und ein Einzelzimmer sowie eine Ferienwohnung für die vier Nächte gebucht, jede Nacht eine andere Konstellation. Viel wichtiger, jede Nacht direkt am Ende der Etappe. Auch wenn Reichenbach im Lautertal nur 2.500 Einwohner hat, es gibt dort eine Infrastruktur für Wanderer. Und das Gasthaus „Zur Traube“ hat auch am Montag geöffnet, darauf gleich mal einen Schoppen „Äbbelwoi“.
Der Nibelungensteig verzaubert gleich wieder
Am nächsten Tag geht es frisch weiter. Es macht einen Unterschied, ob man 27 oder nur 13 Kilometer in den Beinen hat. Kein Muskelkater am zweiten Tag, das macht alles sehr viel angenehmer. Und der Steig verzaubert gleich wieder. Raus aus dem Örtchen, hinein in diesen Zauber aus Wiesen und Wald, Hügeln und Tälern. Spätestens nach einer halben Stunde Weg schaut alles anders aus, es wird nie langweilig. Man kann sofort verstehen, dass dieses Hofgut Hohenstein am Wegesrand keine Schwierigkeiten hat, Hochzeitsgesellschaften anzulocken.
Und kurz danach treffen wir auf ein älteres Paar, das bewaffnet mit einem Farbeimer und mit Pinseln unterwegs ist. „Macht ihr die Markierungen?“, wollen wir wissen. Schon sind wir im Gespräch. Ehrenamtliche wie die beiden machen uns das Wandern einfach. Sie haben sich das als Hobby im Ruhestand gesucht, seien draußen in der schönen Natur, zuständig jetzt für diesen Abschnitt. Plötzlich fällt die Frau vornüber wie ein gefällter Baum. Wir helfen ihr auf. Die Schnürsenkel ihrer Wanderschuhe haben sich zufällig an den falschen Ösen eingehakt. Ihr Knie aufgeschürft, es blutet. „Ihr müsst umdrehen, wieder zurück“, sagen wir bestimmt. Kann gut sein, dass in einer halben Stunde gar nichts mehr geht, wenn die Schmerzen kommen. „Gute Besserung.“ So schnell kann es vorbei sein mit dem Wandern.
Das Finale an diesem Tag hat es in sich, hoch nach Lindenfels in der Sonne. Der Schweiß rinnt jetzt wieder. Aber dieser Ort belohnt dann auch, sitzt auf einem Höcker zwischen zwei Erhebungen, thront über einem Tal und hat auch noch eine Burg. Unser Ziel erst einmal - die Burgschänke. Und uns ist sofort klar, dass ein Misanthrop der besonderen Art die vernichtende Google-Bewertung geschrieben hat. Freundlicher geht nicht, und selten hat Bier so gut geschmeckt. Wir bewerten die Schänke auch auf Google: mit fünf Sternen.
Der Nibelungenknäuel verdichtet sich am dritten Tag der Wanderung
In den Lindenfels verdichtet sich der Nibelungenknäuel. Hier steht schon einmal eine Plastik, die Siegfried und den Drachen Fafnir zeigt, nebenan im Ort befindet sich das deutsche Drachenmuseum. Am nächsten Tag führt der Steig nach Grasellenbach, den dritten Etappenort - dort wird auf viereinhalb Kilometern Strecke noch einmal die alte Sage auf Schildern erzählt: Der Königshof in Worms, der junge Draufgänger und Drachentöter Siegfried, die hübsche Kriemhild, die Reise nach Island, Siegfried, die Tarnkappe und die besiegte Brünhild. All das. Am vierten Tag, unserer Königsetappe von Grasellenbach nach Bullau, unseren 30 Kilometern, führt der Steig kurz hinter Grasellenbach am Siegfriedbrunnen vorbei, jener Brunnen, aus dem der durstige Siegfried ein letztes Mal trank, bevor ihm Hagen von hinten den Speer in den Rücken rammte. So aufgeladen diese Szene ist, so unscheinbar wirkt die Quelle. Zu seinen Ehren kam der unscheinbare Ort, weil sich eine Kommission aus Historikern im Jahr 1851 darauf geeignet hat, dass es diese Quelle bei Grasellenbach gewesen sein soll, an der Gunther, Siegfried und Hagen auf der Jagd haltgemacht haben.
Lange bleiben wir allerdings nicht. An dem Tag gilt es, Strecke zu machen. Wald, Wiesen, alles ändert sich gerade landschaftlich ein bisschen, weniger Sand, weniger Kiefern. Wir laufen, queren ein paar Ortschaften, kommen mittags am Marbach-Stausee an, eine kurze Abkühlung, etwas gegessen und weiter. Unter dem Himbächel-Viadukt hindurch, diesem Stück deutscher Ingenieurskunst aus dem späten 19. Jahrhundert, eine eingleisige Eisenbahnbrücke, die wie ein römisches Aquädukt das Tal überbrückt. Dieses absurde 19. Jahrhundert, da die Spätromantik und der Kult um die alten Sagen, dort die industrielle Revolution. Und schon geht es wieder bergan, die letzten fünf, sechs, sieben Kilometer laufen wir gegen die Steigung an, die Beine werden schwerer.
Bullau, unser letzter Etappenort, liegt nicht mehr direkt auf dem Nibelungensteig, sondern auf einer Zubringerstrecke zum Wanderweg. Es gibt nur eine Straße, die in den Ort führt. Man könnte auch abgeschieden dazu sagen. Das sieht man dem Gästehaus am Abend an, das aus der Zeit gefallen scheint mit der Originaleinrichtung aus den späten 1970er Jahren. Aber das Odenwälder Bier schmeckt auch dort, nach einem langen Wandertag umso mehr. Als wir uns am nächsten Morgen auf den Weg zum Bahnhof nach Erbach machen, ist klar: Nächstes Jahr gehen wir den zweiten Teil des Nibelungensteigs an.
Infos zum Nibelungensteig
Der Wanderweg: Der Nibelungensteig führt von Zwingenberg an der Bergstraße nach Freudenberg am Main. Rund 130 Kilometer Strecke sind zurückzulegen, gut 4000 Höhenmeter fallen dabei an.
Die Etappen: Aufgeteilt ist der Weitwanderweg in sieben Etappen von 13 bis 27 Kilometer Länge. Außerdem gibt es noch Vorschläge für Varianten, etwa die Tour schon Worms in der Rheinebene zu beginnen.
Beste Jahreszeit: Als beste Wanderzeit sind das Frühjahr und der Herbst empfohlen. Der Nibelungensteig hat aber auch im Sommer seinen Reiz. Und die Hoteliers an der Strecke sagen, dass er ganzjährig begangen wird.
Info: im Internet unter www.nibelungensteig.de
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