Zu Fuß vom Main bis nach Rom: Alois Klüpfel lief 1851 Kilometer alleine - nur mit seiner Trompete
Kaum in Pension, erfüllte sich Alois Klüpfel seinen Lebenstraum und pilgerte von Unterfranken nach Rom. Warum? Und wie schafft man das mit 65 Jahren?
Vorsichtig zieht er das grüne Handtuch aus dem prallen Rucksack. Die Finger zittern leicht, als er seine Trompete auswickelt. Sonnenstrahlen spiegeln sich auf dem goldenen Instrument. Alois Klüpfel richtet sich auf und setzt das Mundstück an. Die ersten Töne sind leise, das Videobild wackelt. In grauem Shirt und Wanderhose steht der 65-Jährige mitten auf dem Petersplatz. Die Aufnahme schwenkt über fotografierende Touristen Richtung Dom, Klüpfels Töne werden lauter, stolzer. Er hat es geschafft.
Mit seiner Trompete ist er von Ochsenfurt (Lkr. Würzburg) bis nach Rom gelaufen. Alleine. Zu Fuß. Freudentränen fließen. Klüpfel spielt, stimmt "Nun danket alle Gott" an. Bis plötzlich ein Polizeiwagen neben ihm hält.
Eine Tour in 74 Etappen und wochenlange Planung
Alois Klüpfel lacht bei der Erinnerung. Er sitzt am Esstisch, auf der dunklen Holzplatte liegt ein dicker Ordner, daneben die Trompete, sorgsam auf das grüne Tuch gebettet. Draußen weht der Wind Schneeregen gegen das Fenster. An den Wänden hängen Bilder von Ochsenfurt und ein schlichtes Kreuz. Klüpfel trägt Hemd, Strickjacke und Stoffhose, äußerlich eher Typ Lehrer als Weitwanderer. Der Eindruck täuscht und trifft zugleich. Er grinst. Zig Fältchen bilden sich um die Augen. Bis zur Pensionierung war er Rektor einer Grundschule, dann lief er los.
Klüpfel schiebt seine Brille ins Haar, schlägt den Ordner auf und zieht eine eng bedruckte Tabelle hervor. Das DinA4-Blatt ist das Herzstück seiner Tour. Die Planung. Wochenlange Arbeit. 74 Etappen, jede in einer eigenen Zeile ordentlich dokumentiert. Dauer, Länge, Höhenmeter. Am Ende steht die stolze Summe von 1851 Kilometern. Jeden Meter davon ist Klüpfel gewandert. Oder gepilgert. Er zuckt mit den Schultern. Irgendwie sei er beides gewesen, in Deutschland eher Fernwanderer und spätestens ab Bologna Pilger – "das ist einfach unterwegs entstanden".
Den ersten Schritt machte der dreifache Vater im Juli 2021. Losgegangen im Kopf aber ist er viel früher. "Rom war immer ein Traum", sagt Klüpfel. Schon im Lateinunterricht in der eigenen Schulzeit. Geklappt hat es nie, weder als Abiturfahrt, noch als Familienurlaub, weder mit der Bahn, noch mit dem Flugzeug. "Ich war nie da – aber Rom hat mich immer fasziniert." Und irgendwann entstand die Idee: wenn schon nach Rom, dann zu Fuß.
Wieso will man 1851 Kilometer zu Fuß gehen?
Während des Berufslebens blieb dafür keine Zeit. "Ich hatte meinen Traumberuf und habe ihn wirklich bis zum letzten Tag gerne ausgeübt", sagt Klüpfel. Die Pension, das war klar, würde eine Veränderung sein. Aber sie brachte auch Zeit. Zeit loszugehen. Nur: Warum? Wieso will man 1851 Kilometer zu Fuß gehen?
Genau das hätte ihn unterwegs eine Gruppe Straßenarbeiter gefragt. "Sie wollten wissen, ob ich besonders schlimme Sünden angehäuft hätte", erinnert sich Klüpfel. Das aber sei es nicht. "Ich mache das als Dankeschön für mein bisheriges Leben, für meinen Beruf, für meine Familie."
Und ja, er sei gläubig, wenngleich er der Kirche oft kritisch gegenüberstehe. Als Route entschied er sich daher für Pilgerwege, folgte erst der Via Romea und später dem Antonius- und Franziskusweg.
Dort ist nicht erst seit Hape Kerkelings Pilger-Bestseller "Ich bin dann mal weg" einiges los. Beispiel Via Romea: Der Weg führt über insgesamt rund 2300 Kilometer von Stade in Norddeutschland nach Rom. Genaue Zahlen, wie viele Menschen darauf jährlich unterwegs sind, gibt es nicht. Pilger und Pilgerinnen würden meist einzeln und privat laufen und damit ohne erfasst zu werden, sagt Thomas Dahms, Vorsitzender des Fördervereins Romweg. Die Tendenz sei aber steigend, viele gingen auch nur einen Teil der Strecke.
So wie Alois Klüpfel, der in Franken startete. Vorab vergrub er sich in Wanderführer, studierte Karten, plante alle Etappen mit der Navigations-App Komoot. Online lernte er Italienisch. Die Ausrüstung hatte er bereits vom Bergsport. Er klettert mit seinen Söhnen in der Würzburger Kletterhalle, wandert, nimmt alle zwei Jahre an der Kreuzbergwallfahrt von Ochsenfurt teil. Trotzdem: "Am Anfang war mir nicht klar, ob ich das körperlich schaffe", gibt der 65-Jährige zu.
Die Via Romea führt direkt durch Ochsenfurt
Das Entscheidende aber ist: Er ging los. Von der Haustür, über die Alte Mainbrücke in Ochsenfurt, genau hier verläuft die Via Romea. Seine erste Etappe führte ihn 35 Kilometer weit bis Tauberzell. Dann ging es Stück für Stück weiter bis Landsberg am Lech. Die ersten 313 Kilometer waren Anfang Oktober 2021 absolviert – und "da war mir klar: Jetzt will ich es auch ganz schaffen".
Noch vor dem Winter wanderte er über die Alpen nach Bozen, direkt über den Brenner. "Da ist der Weg sehr schmal und nur mit einer Leitplanke von der Brennerautobahn getrennt, das letzte Stück läuft man sogar auf der Staatsstraße", erzählt der Ochsenfurter. "Aber mit Rucksack und Pilgerabzeichen nehmen alle Rücksicht."
Unterwegs schlief er in Jugend- und Pilgerherbergen, in Klöstern oder Schullandheimen. Täglich telefonierte er mit seiner Frau, lief aber immer alleine. "Ich habe mich nie einsam gefühlt", sagt der 65-Jährige. "Man kommt ganz schnell mit Leuten in Kontakt, vor allem mit einem Instrument." Seine Wandertrompete, 1004 Gramm schwer, die er oben im Rucksack mitgetragen hat, habe ihm immer wieder Türen geöffnet. Und den ein oder anderen Kaffee umsonst beschert: "Wenn du in Italien die Hymne spielst, brauchst du nicht mehr für deine Getränke sorgen."
Trompete spielte er überall - auf Bänken, Plätzen und in Kirchen
Weit über 100 Lieder könne er auswendig und "gespielt habe ich überall". Auf Bänken am Rand der Wege, im Wald, auf Plätzen und immer wieder in Kirchen. "Ich habe mich einfach reingesetzt und angefangen – 20 Minuten und danach war ich wieder fit."
Die Reaktionen seien meist positiv gewesen. Klüpfel strahlt. Es waren die Begegnungen mit Menschen, die das Pilgern für ihn ausgemacht haben. "Das war das Schöne: Du lässt dich einfach auf das ein, was unterwegs kommt", sagt er. "Der Pilger, so wie ich ihn verstehe, ist nicht unbedingt frömmer als andere – aber er ist offener für Neues."
So erreichte er in der Nähe der Ochsenfurter Partnerstadt Bibbiena ein Schullandheim und wurde spontan von einer Schulklasse zum Frühstück eingeladen. Als Dank packte er die Trompete aus und spielte. Erst Meister Jakob, dann die italienische Hymne. "Da haben sie die Hand aufs Herz gelegt und mitgesungen." Danach sei er in eine nahe Kapelle und habe dort gespielt – "das war ein Klang, Wahnsinn". Nach fünf Minuten sei das kleine Gotteshaus plötzlich voll besetzt gewesen, alle Schüler hätten staunend gelauscht.
In den großen Domen störte sein Spiel
Ärger habe er als trompetender Pilger selten auf sich gezogen. Nur in den großen Domen, sagt Klüpfel. In Bologna. Oder in Innsbruck, dort habe er gestört. Abbringen lassen vom trompeten oder von seinem Weg habe er sich dadurch aber nicht.
Im März 2022 fuhr er mit dem Zug zurück nach Bozen, genau an den Punkt, wo er im Herbst zuvor angekommen war. 450 Kilometer galt es nun bis Bologna zu überwinden. Teilweise sei er hier durch Gegenden gekommen, sagt Klüpfel, in denen die Corona-Pandemie noch stark präsent gewesen sei. "Ich bin natürlich nicht mit Maske gelaufen und dort sind mir die Leute immer wieder ausgewichen oder auf die andere Straßenseite gegangen."
Mit der weitesten Etappe seiner Tour wechselte er von der Via Romea auf den Antoniusweg. 39 Kilometer läuft er von Bassano nach Camposampiero, mit dem 14 Kilogramm schweren Rucksack auf dem Rücken. "Da war ich richtig fix und fertig", sagt Klüpfel. Und natürlich sei es anstrengend gewesen, jeden Tag zu laufen. Natürlich schmerzten ab und an die Muskeln und die Achillessehne zwickte. Das erste Paar Wanderschuhe, das habe er bereits in Bozen ersetzen müssen. Aber: "Momente, in denen ich aufgeben wollte, gab es nicht".
Rund 38.000 Höhenmeter lief Alois Klüpfel bergauf und ebenso viele bergab
Im Gegenteil. Das Laufen befreie. Klüpfel sucht nach Worten. Wie ein Gefühl beschreiben, das schwer greifbar ist? "Wenn du läufst, dann nimmst du die Gegend bewusster wahr, mit allen Sinnen." Über weite Strecken führen die Pilgerwege durch "pure Natur", durch Stille. Entlang glasklarer Gebirgsbäche, durch blühende Wiesen, über wurzelige Waldwege. "Deine einzigen Sorgen sind: essen, trinken und schlafen. Und dass dein Körper durchhält."
Besonders zwischen Bologna und Assisi, "das war die Traumstrecke", sagt Klüpfel. "Da sind unheimlich viele Klöster, Kapellen, Gedenkorte an Franziskus. Da geht, glaube ich, niemand entlang, ohne fasziniert zu sein." Den Weg habe er dank der Handy-Planung immer gefunden. Fast immer. Einmal versperrte ein Felssturz den Weg. Klüpfel stieg ins Flussbett ab, schlug sich durch den Matsch.
Überhaupt ging es auf der Tour "dauernd rauf und runter". Im übertragenen Sinn, aber eben auch im Wortsinn. Rund 38.000 Höhenmeter bergauf und ebenso viele bergab legte Klüpfel zurück. Wenn ihn jedoch unterwegs jemand mitnehmen wollte, bei Regen oder Wind, lehnte er ab. Er wollte es schaffen, komplett.
Alois Klüpfel: Unterwegs wird man bescheidener
Unterwegs, sagt er, verändere man sich. Die Gedanken. Man werde bescheidener. Das Wenige wurde wertvoller, ein einfaches Pilgeressen schmeckte nach acht Stunden Fußmarsch himmlisch. Eine Dusche und ein Bett reichten zur völligen Zufriedenheit. Fast erschlagend sei es gewesen, wenn man als Pilger plötzlich wieder in die Zivilisation trat. "Ich kam in Assisi an, bin in die Basilika hinein – und rückwärts wieder raus", erzählt Klüpfel und lacht. "Ich habe die vielen Leute nicht ausgehalten."
Genau zum Schulanfang Mitte September ging Klüpfel auf sein letztes Teilstück, von Assisi nach Rom. In Deutschland begann die Schule erneut ohne ihn, "das habe ich richtig genossen". Er folgte dem Franziskusweg, lief teils auf Radwegen. Von Fahrradfahrern weggeklingelt werde man als Pilger aber nicht.
Klüpfel springt auf. Er holt seinen Rucksack, zeigt stolz die blaue Plakette mit den gekreuzten Schlüsseln. Das Erkennungszeichen des Rompilgers.
Dann, am 28. September 2022, war es so weit: die letzte Etappe, die letzten Kilometer. Was denkt man da? Alois Klüpfel schweigt, sammelt sich. "Man erschrickt ein Stück vor den unzähligen Menschen und Autos", sagt er. "Aber ich wollte durch Rom laufen." Ganz genau habe er sich seine Route durch das Gewirr italienischer Straßen überlegt. "Es war faszinierend. Man wird ganz still."
Auch bei der Erinnerung sucht Klüpfel nach Worten. "Wenn man die letzten Schritte geht und kurz vor dem Petersdom steht, da geht einem so vieles durch den Kopf, was unterwegs war." Klüpfels Augen leuchten. "Und ich war wirklich stolz, dass ich mich dort getraut habe, die Trompete rauszuholen." Er greift nach dem Handy und öffnet das Video. Noch einmal schallt "Nun danket alle Gott" aus dem Lausprecher des Smartphones. Die Leute um ihn herum hätten geklatscht, erzählt er. Und die Polizei? "Die haben mich ganz freundlich gebeten, ob ich nicht aufhören könne. Da habe ich gesagt: Ich bin sowieso fertig – ich habe es geschafft."
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