Am 22. Januar 2022 um 22.22 Uhr wird Kaunas in Litauen Europäische Kulturhauptstadt. Rund um die Algirio-Arena, eines der größten Basketball- und Eishockeystadien Osteuropas, erwacht dann das Biest am Ufer der Memel. Ein mythisches Tier, das die Geschichte und Seele der Stadt verkörpern soll. Das Biest, heißt es in Kaunas, „war und bleibt der letzte Kaunasianer“. Seine Erweckung im Sinne der Kulturhauptstadt soll Zukunft und Vergangenheit der ehemaligen Hauptstadt Litauens vereinen, Geschichte und Kunst zusammenbringen. Märchen und Anekdoten, Straßentheater, Comics für Kinder, ein Steampunk-Roman, Film und Fernsehen werden das Biest zum Leben erwecken, das in der Unterwelt zu Hause ist und ähnlich wie Vampire das Tageslicht scheut.
Die Erschaffung des mythischen Tieres und seiner Geschichte war ein Gemeinschaftsakt, an dem Menschen allen Alters und aus allen sozialen Schichten beteiligt waren. Jüngere wollten in ihm einen Avatar sehen, Ältere eher eine Allegorie, also eine bildliche Darstellung der Stadt und ihren Traditionen. In welcher Gestalt das Biest im Januar aber die Bühne in Kaunas betritt, ist deshalb eines der am besten gehüteten Geheimnisse in der knapp 300.000 Einwohner zählenden Stadt am Ufer der Memel.
Dorian Gray und Mogli trennen sich 2022 in Kaunas
Seine Lieblingsplätze aber kennt man schon. Etwa die Ruine der Alten Burg, wo man das Biest bei Führungen schon im Keller schnaufen hört. Oder ein Verlies in einem der Forts außerhalb des Zentrums, wo man seine vermeintliche Höhle aufwendig illuminiert hat. Eine eigene Webseite bündelt schon jetzt die Legenden und Mythen um das Fabelwesen, aus denen man im Januar, Mai und November große mythische Spektakel schaffen will.
Neben den spektakulären Erzählungen um das Biest und ihre großflächigen Inszenierungen erwarten Kunstfreunde eine Reihe international hochwertiger Konzerte und Theateraufführungen. Dazu gehört Andrew Lloyd Webers „Requiem“, das mit großem Chor, drei Solisten und einem Kammerorchester mit Orgel und Synthesizer in Szene gesetzt wird. Der amerikanische Erfolgsregisseur Robert Wilson wird am Nationaltheater „Dorian“, ein Drama um Oscar Wilde‘s Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ inszenieren. Und die renommierte britische Akram Khan-Tanzkompagnie lässt Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ als Tanztheater neu aufleben – mit Mogli in der Hauptrolle.
Großgeschrieben wird im Kulturhauptstadtjahr das unter dem Motto „Von der Gegenwart in die Moderne“steht, auch Musik. Klassische Konzerte präsentiert wie jedes Jahr das vor der Stadt auf einer Halbinsel gelegene Kloster Pazaislis, das gerade erst von Filmschaffenden zur schönsten Filmkulisse Europas gewählt wurde. Das Kaunas Jazz-Festival bringt klassischen und modernen Jazz zu Gehör. Dazu kommen Festivals für Gospelsongs und Volkslieder.
Ganz zeitgenössisch geht es in den Ausstellungen zu. Dazu gehören eine Retrospektive der John-Lennon-Gattin Yoko Ono und eine Show der bekannten serbischen Performance-Künstlerin Marina Abramovic. Breiten Raum nimmt die Fluxus-Bewegung im Programm ein. Schließlich wurde George Maciunas, einer ihrer Väter, in Kaunas geboren. Rechtzeitig zum Kulturhauptstadt-Jahr hat man deshalb auch den Flughafen in Kaunas offiziell nach ihm benannt.
Das Programm der Kulturhautstadt Kaunas ist 380 Seiten stark
Auch manche Hauswand wird sich im Kulturjahr bunt bemalt präsentieren. Graffitikünstler gestalten graue Flächen neu und bringen so Farbe in die Stadt. Die ersten sind schon jetzt zu sehen. Und auch die sogenannte Zwischenkriegsarchitektur, um deren Anerkennung als Weltkulturerbe sich Litauen und Kaunas derzeit bemühen, rückt 2022 in ein neues Licht. So will der Digital-Artist Mantas Kuginis die stilbildenden Elemente der einst modernistischen Architektur wie Balkone dreidimensional auf Tassen und Kannen projizieren. Und der Street-Art-Künstler Timotiejus Norvila, der sonst Wände, Mauern und Busse bemalt, hat zum Kulturjahr Vogelnistkästen im Stil des Art Deco und des Kaunasser Modernismus aufgehängt.
Hundeschlittenrennen, Drachenflieger- und Ballonfahrerwettbewerbe, Kochshows, Fotoausstellungen, Freiluftkonzerte und nächtliche Mittsommernachtsfeiern steuern die Gemeinden im Umland zum Kulturjahr bei. Und die „Idee Europas“ thematisiert Ende November die Universität der Stadt, die damit klar macht, dass Litauen sich auch künftig im Gegensatz zu Ungarn oder Polen ganz klar zu Europa bekennen will. „Bei all unseren Planungen“, heißt es im Vorwort des 380 Seiten starken Programmheftes, das mit seinen vielen Bildern zu einem opulenten Buch geworden ist, „haben wir ans Publikum gedacht. Wenn Ihr aber nicht kommt, kann es kein Kulturhauptstadt-Jahr werden“.
Informationen Kaunas 2022, Laisves aleja 36, Kaunas 44297, Litauen, Tel. 00370-617-86632, Montag bis Freitag 9–18 Uhr, www.kaunas2022.eu