Sam ist einer dieser Menschen, die stundenlang reden können. Von den Anfängen, als Las Vegas nicht mehr war als ein trostloses Kaff mitten in der Wüste. Von den goldenen Jahren, von Frank Sinatra, von Marilyn und natürlich von Elvis. Er kennt all diese Geschichten, manche hat er selbst erlebt, andere auch nur gehört, und er würde sie gerne alle erzählen, wenn er nicht so beschäftigt wäre. Sam ist Barkeeper, 61 Jahre alt, schwarze Fliege, schwarze Hosenträger. Er wippt hinter seiner Theke von einem Bein aufs andere und mixt ununterbrochen Getränke. Einen Gin and Tonic für den Gast hinten in der Ecke, zwei Long Island Iced Tea für das ältere Pärchen gegenüber, Sam pendelt hin und her. Seine Gäste bekommen davon nicht viel mit, sie starren auf die Bildschirme ihrer Spielautomaten und nicken flüchtig, wenn der Barkeeper die Gläser vor ihnen abstellt.
Irgendwann, als alle versorgt sind, hat Sam doch noch Zeit zum Erzählen. Seit 43 Jahren arbeitet er hier, in Downtown Las Vegas. Fast genauso lang steht er schon im El Cortez hinter der Theke, eröffnet 1941, eines der ältesten Hotels der Stadt. Es ist ein Ort, der auch als Kulisse für die Serie „Mad Men“ dienen könnte: schwere Teppiche, dunkles Holz und das unentwegte Klimpern von Münzen, die in Münzschlitze fallen. Hier bekommt man ein Gefühl dafür, wie es in Las Vegas ausgesehen hat, bevor die Stadt zu der Glitzermetropole von heute wurde. Oder wie Sam es formuliert: Bevor sie „so fürchterlich groß geworden ist“.
Das Vegas, von dem er spricht, liegt knapp zwei Kilometer entfernt vom El Cortez, am sogenannten Strip. Dort, wo die Wetter-App auf dem Smartphone nicht „Las Vegas“ anzeigt, weil man sich außerhalb der Stadtgrenzen befindet, in einer Enklave, die tatsächlich den Namen „Paradise“ trägt. Dort also reihen sich die großen Hotels aneinander: Das „Venetian“ mit seinen Gondolieren, die ihre Kähne durch ein künstliches Venedig steuern. Das pyramidenförmige „Luxor“ mit dem Nachbau der großen Sphinx von Gizeh, Maßstab 1:2. Oder das „Caesar’s Palace“, wo die Gäste am Eingang von einer goldenen Statue des römischen Kaisers Augustus begrüßt werden und die Poolbar „Snackus Maximus“ heißt.
Las Vegas: Die Stadt, die glitzert und blinkt - 24 Stunden lang, sieben Tage die Woche
Es sind diese Bilder, die man von Las Vegas kennt. Bilder einer künstlichen Welt, die glitzert und blinkt, 24 Stunden lang, sieben Tage die Woche. Sie gehören zum Mythos der Stadt, genauso wie die Bräute mit ihren hastig übergeworfenen Brautkleidern oder die schweigenden Croupiers am Roulette-Tisch. Las Vegas ist kein Ort, den man unbedarft erleben kann. Jeder, der hierherkommt, hat bereits ein Bild im Kopf. Denn Vegas, das sind vor allem die Geschichten, die man sich darüber erzählt. Geschichten von Sünde und Exzess, von Rausch und Absturz und nicht zuletzt vom Suchen und Finden des Glücks. Unzählige Filme haben diese Geschichten in die Welt getragen: „Casino“, „Fear and Loathing in Las Vegas“, die „Ocean’s“-Trilogie und zuletzt „Hangover“. Sie alle haben Las Vegas der Wirklichkeit entrückt, es mit Bedeutung aufgepumpt, bis es übergroß geworden, in einer Liga mit Städten wie New York, Paris oder London.
Und so ist der Vegas-Besucher erst einmal ständig damit beschäftigt, Legende und Wirklichkeit zu vergleichen, so wie man jene Rätselbilder vergleicht, bei denen die Unterschiede erst auf den zweiten Blick sichtbar werden. Was sofort auffällt: Las Vegas ist eine Stadt, die fast alle Sinne überfordert. Das ständige Pop-Gedudel und das Sirren der Klimaanlage drücken auf die Ohren. Überall dringt ein süßlicher, immer gleicher Vanilleduft in die Nase, eine Mischung aus Wunderbaum und Klimaanlagen-Dunst. Und vor den Augen flimmern die Lichter der Spielautomaten, der künstliche Himmel im Caesar’s Palace verwirrt den Kopf vollends.
Je weiter man vordringt in die wundersame Las-Vegas-Welt, desto mehr fällt dem Besucher auf. Zum Beispiel das: Vegas ist eine Stadt, in der das Leben hinter Hoteleingängen stattfindet. Die Touristen, die sich auf dem Strip drängen, vor dem berühmten Bellagio-Springbrunnen ausharren, Ah! Oh! Wie schön! – all das ist nur ein Bruchteil dessen, was sich jeden Tag und jede Nacht in Vegas abspielt. Knapp 150.000 Hotelzimmer verteilen sich auf die sieben Kilometer des Strip. Hier stehen 14 der 20 größten Hotels der Welt. Allein im Venetian, dem Haus mit den meisten Betten in der Stadt und den zweitmeisten Betten weltweit, gibt es rund 7.000 Zimmer.
Überhaupt die Automaten. Sie sind überall
Wer will, muss das Hotel nicht einmal verlassen. Die Anlagen gleichen riesigen Kreuzfahrtschiffen: auf jeder Etage eigene Cafés, Restaurants, Galerien oder Modegeschäfte, Klimaanlagen kühlen die Räume rund um die Uhr, Tageslicht gibt es meist nur auf dem eigenen Zimmer, Uhren ebenfalls. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass man an einem der Spielautomaten die Zeit vergessen kann.
Überhaupt die Automaten. Sie sind überall, blinkend, flimmernd, piepsend. Vor ihnen Menschen, ein Bier neben sich, ein leerer Blick in den Augen. Kaum einer redet, während er spielt. Nicht an den Slotmaschinen und nicht an den Roulette-Tischen. Stattdessen: angestrengte Stille, Stirnrunzeln, wortloses Geld-auf-den-Tisch-Blättern. Wo sind die ausgelassenen Junggesellenabschiede? Die Männergruppen, die jeden Gewinn bejubeln? Die elegante Frau im roten Kleid, die einen Kuss auf die Würfel ihres Begleiters haucht, bevor er zum Wurf ansetzt? Und wo sind die Spieler, die ihre Hände eilig unter das Münzfach ihres Spielautomaten klemmen, um die herausrieselnden Münzen aufzufangen? Nicht hier jedenfalls. Münzautomaten gibt es am Strip nicht mehr. Wer gewinnt, erhält eine Quittung, mit der er sich in die Schlange an der Kasse einreihen kann, um sein Geld abzuholen.
Das Spontane, das Überschwängliche, man findet es selten in Las Vegas. Das Spaßhaben ist hier ähnlich perfekt organisiert und inszeniert wie die zahlreichen Shows, die in den Hotels stattfinden. Dazu passt, dass man in Vegas weg will vom Image des sündigen Spielerparadieses. Das ist der Grund, warum der MGM-Konzern im Süden des Strips, zwischen den Hotels „New York New York“ und „Monte Carlo“, ein neues Freiluft-Areal angelegt hat. Hier reihen sich Restaurants und Cafés aneinander, unter ausladenden Bäumen stehen kleine Gruppen aus Tischen und Stühlen, Besucher sollen Schutz vor der Sonne finden. Es ist einer von nur zwei Orten in der Stadt, wo Gäste sich einfach hinsetzen können – ohne zu spielen oder etwas zu essen bestellen zu müssen.
Hinter dem Platz ragt die T-Mobile-Arena auf, die vergangenes Jahr eröffnet wurde. Hier finden Konzerte statt, Boxkämpfe oder Wrestling-Veranstaltungen. 20.000 Menschen haben in der Halle Platz. Ab Herbst werden außerdem die „Vegas Golden Knights“ hier ihre Spiele absolvieren, ein Eishockey-Team, das neuerdings in der Wüstenstadt residiert. 500 Millionen Dollar hat ein Investor hingelegt, damit die Mannschaft als 31. Team in die National Hockey League aufgenommen wird. Die Stadt hat sich einen Platz im Erstligasport erkauft und steuert damit weiter auf ihr ehrgeiziges Ziel zu: Las Vegas soll zum Erlebnis-Ort für jedermann werden, mit Shows, Sport, Wellness und Sterne-Restaurants, die sowohl Frauen auf Junggesellinnenabschied gefallen als auch den Geschäftsleuten, die für eine der zahlreichen Konferenzen und Tagungen nach Vegas kommen.
Hinter der Glitzerfassade geht es in Las Vegas nur um eines
Schon heute wird mit diesen Dingen deutlich mehr Geld gemacht als mit dem Glücksspiel. Und hinter der Glitzerfassade geht es natürlich vor allem darum: Geld. In den Casinos lief es nicht allzu gut in den vergangenen Jahren. In der Finanzkrise sind die Umsätze eingebrochen, seitdem steigen sie nur langsam wieder an. Im vergangenen Jahr wurden mit dem Glücksspiel knapp 9,7 Milliarden Dollar umgesetzt, das ist immer noch eine Milliarde weniger als im Jahr 2007. Die Konkurrenz ist groß: In Macau, dem chinesischen Spielerparadies westlich von Hong- Kong, haben Besucher im letzten Jahr 28 Milliarden Dollar eingesetzt. Und Staaten wie Dubai oder Katar machen Las Vegas andere Rekorde streitig: Das Höchste, das Größte, das Teuerste findet man längst dort, wo es einfach noch mehr Geld gibt als in der Wüste von Nevada.
Sam, der Barkeeper aus dem El Cortez, glaubt, dass Las Vegas gerade an einem Scheideweg steht. Wieder einmal. Es gibt wohl keinen Ort, der sich in seiner kurzen Geschichte schon so oft neu erfunden hat wie die Wüstenstadt.
Nirgendwo sonst wird das so offensichtlich wie im Neon Museum, 15 Minuten von Sams Hotel entfernt. Das Freiluft-Museum stellt Neonreklamen aus, verblasste und abgeblätterte Zeugnisse ihrer Zeit. Die dazugehörigen Hotels und Casinos, das „Golden Nugget“ oder das „Stardust“, haben längst zugemacht oder wurden abgerissen.
Einer der neuesten Zugänge im Museum ist das Logo des „Riviera“. Es war einst das erste Casino-Hochhaus am Strip, der Film „Casino“ wurde auf dem Gelände gedreht, Frank Sinatra und Dolly Parton standen dort auf der Bühne. Vor zwei Jahren wurde das Hotel gesprengt. Bald soll an der Stelle ein Kongresszentrum entstehen.
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