Zivilpolizisten patrouillieren vor der Blauen Moschee, nahe der Hagia Sophia stehen Anti-Terror-Kräfte mit Maschinenpistolen und an den Eingängen zum Großen Basar sind Wachposten mit Metalldetektoren postiert. Sicherheit wird in diesem Frühjahr groß geschrieben in Istanbul, aber einladender wird die Altstadt davon nicht. Eindringlich mustern die Zivilstreifen die Gesichter der Passanten auf dem Hippodrom, wo im vergangenen Jahr ein Dutzend deutsche Touristen von einer Bombe zerrissen wurden. Viel haben sie nicht zu tun, denn außer der einen oder anderen Reisegruppe aus China lassen sich in diesen Tagen nur wenige Touristen hier blicken.
Sechs verheerende Terrorangriffe gab es im vergangenen Jahr in Istanbul – vom Bombenanschlag auf die deutschen Touristen in der Altstadt über Anschläge auf die Flaniermeile, den Flughafen und ein Fußballstadion bis zum Angriff auf eine Neujahrsfeier in einem Nachtklub am Bosporus. Zählte Istanbul im vorletzten Jahr noch zu den beliebtesten Zielen der Welt, so brach der Tourismus im vergangenen Jahr schon dramatisch ein – und dieses Jahr lässt sich noch schlechter an. Die Preise sind drastisch gesunken: Ein Zimmer, das vor drei Jahren noch 200 Euro die Nacht kostete, ist nun für unter 70 Euro zu haben. Trotzdem lassen sich kaum westliche Besucher von den Tulpen anlocken, die im April überall in Istanbul aus den Rabatten leuchten.
„Ha, Ostern, da war früher immer was los hier“, sagt ein Reiseführer, der vor der Hagia Sophia steht und raucht. „Die Warteschlange ging hier los und dann hinter dem Zaun vorbei um die Kuppel da hinten bis zum Hamam, dem Badehaus“, erzählt Faruk und zeigt mit der Zigarette zu dem menschenleeren Park zwischen dem Museum und der Blauen Moschee. „Ich kann mich daran erinnern, dass ich eine Stunde lang vor der Hagia Sophia angestanden habe.“ Nun steht hier niemand mehr an. Eine chinesische Besuchergruppe marschiert hinter ihrer Fahne vorbei, dann wird es wieder still auf dem Platz vor der berühmtesten Sehenswürdigkeit in der Türkei. So still, dass ein Zivilpolizist auf Faruk aufmerksam wird und herüberkommt, um zu fragen, was er hier zu suchen habe.
Faruk hat gerade eine private Führung gemacht in der Hagia Sophia für einen Geschäftsmann, der in Istanbul zu tun hatte und die letzten Stunden vor seinem Flug füllen wollte. Gelegentlich erwischt der erfahrene Reiseführer noch so einen Job, doch damit ist er die Ausnahme. „95 Prozent meiner Kollegen bekommen überhaupt nichts mehr“, erzählt er. „Der Tourismus ist komplett ausgefallen – es gibt einfach nichts mehr.“ Um mehr als ein Viertel stürzte die Zahl der Besucher in Istanbul im vergangenen Jahr nach offiziellen Angaben ab, aber Faruk und seine Kollegen glauben den Statistiken nicht. „Klar, Araber kommen noch“, sagt Faruk. „Aber Europäer, Amerikaner, westliche Touristen sieht man fast überhaupt nicht mehr.“
Vom Restaurant des Hotel And aus hat man eine besonders schöne Aussicht auf die Hagia Sophia – hier kehrten Faruk und viele seiner Kollegen immer gerne mit ihren Gästen auf einen Kaffee ein. Doch heute sind nur drei der weiß gedeckten Tische besetzt – zwei von chinesischen Pärchen und einer von UN-Mitarbeitern, die zu einem Arbeitstermin in der Stadt sind. Miserabel liefen die Geschäfte, erzählt Oberkellner Cemal auf Faruks Nachfrage. „Ich arbeite seit 23 Jahren hier, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.“ Von den zwölf Kollegen im Kellnerteam seien neun Mann bereits entlassen und von den fünf Köchen seien auch nur noch zwei übrig. Im Hotel seien zwar noch ein paar Zimmer belegt, aber für den kommenden Monat gebe es keine einzige Reservierung.
„Und das ist überall so, nicht nur bei uns“, sagt Cemal. „Im ganzen Viertel machen die Restaurants abends um neun Uhr zu, weil keiner kommt.“ Verzweifelt schüttelt er den Kopf: Ein Freund bei einer Reiseagentur habe ihm gesagt, dass vor 2019 keine Besserung zu erwarten sei. „Möchten Sie ein Hotel kaufen?“, witzelt Ergin, ein Kollege von Faruk, der sich dazusetzt. „Davon gibt es hier viele billig zu haben – jeder will verkaufen.“ Auch Ergin weiß nicht mehr ein oder aus, obwohl er außer auf Deutsch und Englisch auch auf Chinesisch führt. Seit fast 30 Jahren sei er im Tourismus, erzählt der 45-Jährige, doch nun könne er seine Familie nicht mehr ernähren. „Wir können uns die eigene Stadt nicht mehr leisten, denn die Mieten sind hier teuer.“
Ergin hat sich auf Stellen im Ausland beworben – fast hätte er einen Job in der Schweiz bekommen, doch dann scheiterte es an der Arbeitsgenehmigung. Ein Freund von ihm hat seinen Teppichladen dichtgemacht und wandert aus nach Kanada, ein anderer zieht nach Israel, erzählt er. Beide rechneten damit, dass auch in den nächsten Jahren im türkischen Tourismus kein Geld zu verdienen sein werde. „Etwas aufzubauen ist schwer, es zu verlieren ist leicht“, sagt Ergin, der den Tourismus mit einem Gebäude vergleicht: „Wir hatten 40 Stockwerke hoch gebaut, aber nun sind nur noch fünf übrig –die anderen sind eingestürzt.“ Bis die 35 Stockwerke wiederaufgebaut seien, würden mindestens fünf Jahre vergehen, schätzt er und sieht sich nach anderer Arbeit um: Wer einen Tipp habe, möge sich melden, denn er habe Kinder zu ernähren.
Gespenstisch ruhig ist es auch auf dem Großen Basar, wo sonst immer Gedränge und Geschrei herrschte. „Wem sollte ich hier was zurufen?“, fragt ein Basargehilfe, der flotte Sprüche in fünf oder sechs Sprachen machen kann und nur noch selten Gelegenheit dazu hat. Der Strom von Menschen, der seit Jahrhunderten durch den Basar fließt, ist zu einem Rinnsal verkümmert, und nur selten treibt ein westlicher Tourist vorbei. Zwischen den Geschäften klaffen Lücken, die mit Planen verdeckt sind – überall dort, wo Geschäfte aufgegeben und geschlossen haben.
Vor der Teppichhandlung „Nomad-Art“ stehen Ladenbesitzer Yahya und seine beiden Verkäufer und hängen ein Türschild auf. Eine Neueröffnung? Nein, erklärt der Basarhändler, er habe sich verkleinern müssen und sei aus seinem großen Geschäft an einer Hauptader in diesen kleineren Laden in einer Seitengasse umgezogen. Das Handtaschen-Sortiment des Vormieters hat er mit übernehmen müssen, denn der hat ganz aufgehört. Yahya will dagegen noch nicht aufgeben, obwohl er seit Monaten draufzahlt, denn der Mittfünfziger arbeitet schon sein Leben lang als Teppichhändler im Basar – und er hängt an seinem Beruf.
Einen handgeknüpften Seidenteppich rollt Yahya aus und erläutert, woran man dessen Qualität erkennt. 15000 Lira kostet so ein Teppich, das waren vor einem Jahr noch 5000 Euro und sind nun 4000 Euro. Früher hat er drei bis vier dieser Teppiche am Tag verkauft, sagt Yahya – „heute vielleicht noch einen im Jahr“. Die beiden Verkäufer und der Lehrling bemühen sich um Geschäftigkeit, was schwierig ist, denn zu tun gibt es nichts. Den ganzen Tag über kommen genau vier potenzielle Kunden in den Laden: eine palästinensische Familie, ein Paar aus Saudi-Arabien, eine junge Frau aus Chile und zwei Frauen aus Uruguay. Die Palästinenser gehen wieder, den anderen Interessenten drängen die Verkäufer mit viel Tee und Scherzchen ein paar Tücher und Kissenbezüge auf.
„Das war 30 Prozent unter dem Einkaufspreis“, bemerkt Ladenbesitzer Yahya, als die Uruguayerinnen zufrieden davongezogen sind. Unter Einkaufspreis? „Ich brauche Bargeld, um die Verkäufer zu bezahlen“, sagt der Basarhändler. „Dafür gehen inzwischen die Lagerbestände drauf.“ Die Angestellten rechnen es ihrem Chef hoch an, dass er sie noch nicht entlassen hat, wie es so viele andere Händler mit ihren Mitarbeitern getan haben. Gut geht es ihnen deshalb aber nicht, sind sie doch auf die Verkaufskommissionen angewiesen, die es auf das Grundgehalt draufgibt. „Ich habe die Miete schon im letzten Monat nicht mehr bezahlen können“, sagt einer der beiden Verkäufer. „Wir haben ein sieben Monate altes Baby – ich weiß nicht mehr ein noch aus.“
Der Tourismus in Istanbul stecke nicht nur in einer vorübergehenden Krise, meinen die Beschäftigten der Branche, sondern in einem grundlegenden Wandel. Noch im Jahr 2015 legten fast 500 Kreuzfahrtschiffe in Istanbul an und überfluteten die Altstadt mit spendablen Amerikanern; heute macht nur noch gelegentlich ein kleineres Schiff hier fest. Im Gewürzbasar am Goldenen Horn sind die meisten Geschäfte heute von Syrern bemannt, die vor dem Krieg in die Türkei geflohen sind und nun Gewürze und Gold an arabische Touristen verkaufen – die einzigen Urlauber, die in Istanbul noch richtig Geld ausgeben. „Das Problem ist, dass der Tourismus in der Türkei seit Jahrzehnten auf die westliche Welt ausgerichtet ist“, sagt Reiseführer Ergin. „Aber damit ist es jetzt vorbei.“