Es geht um Schicksalsfragen. Vor dem Kannon-Tempel holen zwei junge Frauen ihr Horoskop aus einem Holzkästchen, entrollen das Papier und ... fangen an zu kichern. Japaner lieben Horoskope. Beinahe überall, in Restaurants, an Schreinen, in Fußgängerzonen finden sich kleine Schalen und Boxen mit Weissagungen fürs Leben. Gute Nachrichten werden eingesteckt, schlechte an ein Drahtgestell geknotet und so den Göttern übergeben. Diesen Pragmatismus finden wir inspirierend. Auch wir besorgen uns ein Horoskop. Doch der Japanologe Hartmut Pohlig, mit dem wir unterwegs sind, verweigert die Übersetzung. „Alles Humbug!“ Sicherheitshalber knüpfen wir die Botschaft an das Drahtgestell. Die Götter werden es schon richten. Wir haben keine Chance, aus den Schriftzeichen schlau zu werden.
Die Götter haben viel zu tun. Das wird uns auf unserer Reise quer durch Japan klar: Nur ein kurzer Stopover in Tokio, dann auf die Insel Miyajima, die zu den schönsten Landschaften Japans zählt, zum heiligen Berg Koyasan, der mit seinem ganz besonderen Friedhof Pilger aus ganz Japan anzieht und nach Kyoto, wo ein Zen-Meister ungewöhnliche Methoden anwendet, um Entspannung zu finden. Eine Reise zu Göttern und einem Gelehrten also, die immer wieder staunen macht, dass Pragmatismus und Spiritualität sich nicht ausschließen.
Längst ist es kein Problem mehr, sich in Japan zurechtzufinden. „Lost in Translation“ ist hier niemand. Sämtliche Wegweiser gibt es auch in lateinischer Schrift, die Ansagen für den Schnellzug Shinkansen sind ohnehin auf Englisch und in den Schaufenstern der Restaurants sind Plastikversionen von Sushi, Fisch und Nudelsuppe ausgestellt, die man bestellen kann.
Miyajima, die verbotene Insel
Allein die Anreise zur heiligen Insel Miyajima, etwa 20 Kilometer von Hiroshima entfernt, ist mit zunächst Straßenbahn, dann Zug und schließlich Fähre doch etwas mühsam zu bewerkstelligen. Doch sie ist es wert. Die Insel, die einstnur Priester und Adlige betreten durften, zählt zu den schönsten Landschaften Japans. Wie ein dunkler, schlafender Drache liegt das bergige, dicht bewaldete Eiland im Wasser. Markant davor spiegelt sich das zinnoberrote Schreintor im Wasser, das den Eingang zum Itsukushima-Schrein symbolisiert. Drei Meeresgöttinnen werden hier verehrt, denen der Sage nach unter anderem auch die Erschaffung Japans zu verdanken ist.
Das normale Volk durfte nur einmal im Jahr über lange Holzstege die Insel betreten und auch wieder verlassen, um die Reinheit der Insel zu wahren. Denn „Reinheit spielt im Schintoismus eine sehr wichtige Rolle“, sagt Pohlig, der seit vielen Jahren in Japan lebt. Die Hauptgebäude des Itsukushima-Schreins ruhen daher direkt vor der Insel auf erhöhten Plattformen. Bei Flut stehen die Pfeiler im Wasser, sodass die ganze Anlage zu schwimmen scheint. Die Zeiten haben sich geändert, heutzutage ist viel, sehr viel normales Volk da. Die Insel ist so was wie das Neuschwanstein Japans. Beliebtestes Fotomotiv ist natürlich das rote Schreintor, das Wahrzeichen der Insel. Wir haben Glück und erleben in den Morgenstunden noch die stille, spirituelle Seite des Götterhauses, an dessen Eingang zwei große Hundefiguren aus Stein wachen, die das Leben und den Tod symbolisieren.
Innen klatschen Gläubige zweimal in die Hände, um die Götter auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen, dann bringen sie im Gebet ihre Wünsche vor. Wir gehen leise weiter, um uns auf den Weg zum Daisho-in-Tempel zu machen. Schintoistische Schreine und buddhistische Tempel liegen in Japan nahe nebeneinander. Die Religionen haben eine Arbeitsgemeinschaft, wenn man so will. Um es vereinfacht zu sagen: Der Buddhismus ist für alles, was mit Leben zu tun hat, zuständig, der Schintoismus für alles, was den Tod anbelangt. Wieder staunen wir über diese pragmatische Tiefgründigkeit.
In Japan ist Religion allgegenwärtig
Auch auf dem Koyasan, dem heiligen Berg, bilden die Symbole beider Religionen stets eine Einheit. Doch das ist nicht der Grund, warum es so viele Menschen hierher zieht. Alte Pilgerwege führen hinauf auf diesen Berg, der am besten von Kyoto aus zu erreichen ist. Klöster bieten an, hier Ruhe zu finden. Man schläft auf den traditionellen Tatami-Matten aus Reisstroh. Und auch wir machen für eine Nacht Station, um in ein typisches Onsen einzutauchen und ein buddhistisches Fastenmahl zu essen. Das Fastenmahl ist schnell erklärt: Tofu, eine Variation von Tofu und dann Tofu. Das Onsen ist ein Erlebnis – mit ritualisierten Regeln. Denn bevor man in das warme, mineralhaltige Wasser eintauchen darf, das aus der Erde sprudelt, muss man sich einer gründlichen Reinigungszeremonie unterziehen. Und das ist, weil es doch ziemlich intim ist und man sich dieser Prozedur zwar nach Geschlechtern getrennt, aber doch in Gemeinschaft in einem großen Waschraum unterzieht, etwas gewöhnungsbedürftig.
Als Langnase schaut man am besten ab, wie es die Japaner(innen) machen. Also den Körper schrubben, bis kein überflüssiges Hautschüppchen mehr am Leib ist, dann alles einseifen, Plastikwannen voller warmem Wasser mehrfach über sich drüberschütten. Wenn man sich sauber fühlt wie kaum im Leben zuvor, dann – endlich – darf man in das warme Onsen, sich entspannen und dem japanischen Gesprächsgemurmel zuhören und abschalten. Profis nehmen sich ein kleines Handtuch mit und legen sich es gefaltet auf das Haupt. Bei Japanern sieht das formvollendet aus, bei allen anderen – ach ja.
Der Koyasan ist aber vor allem wegen des über tausend Jahre alten Friedhofs in Japan berühmt. Kilometerlang führt ein breiter Pfad, flankiert von dick bemoosten Grabsteinen, immer weiter einen Kiefernwald hinauf. Shogun-Familien haben auf dem Tempelberg ihre Gräber, aber auch tausende von ungeborenen Kindern, denen mit Steinfiguren gedacht wird. Nirgendwo sonst gibt es so etwas in Japan. Viele haben bunte, gehäkelte Mützchen auf, den Seelen soll es nicht kalt werden, manche sogar Lätzchen umgebunden. Eine Figur am Wegesrand fällt besonders auf: Sie ist geschminkt und hat die Dose eines Energydrinks vor sich stehen. Das Mädchen wäre jetzt wohl in der Pubertät.
Es ist ein berührender Spaziergang durch diesen ungewöhnlichen Friedhof. Und vielleicht macht deshalb dieser Satz von Zen-Meister Kawakami einige Tage später besonders nachdenklich: „Ein japanischer Vater hat in zwei Wochen fünf Minuten Zeit, um mit seiner Familie zu sprechen“. Die knallharte Realität des japanischen Arbeitsalltags wird einem mit nur wenigen Worten bewusst. Niemand habe mehr Zeit, in sich zu gehen. „We speeded up“, wir drehen uns immer schneller mit der Zeit, gibt der 38-Jährige zu bedenken, der seinen Abschluss auf einem US-College gemacht hat. Achtsamkeit durch Meditation, darum geht es bei ihm. Viele Langnasen kommen extra nach Kyoto, um mit Kawakami zu meditieren.
Optimierung von Meditationspraktiken durch Technik
Wir scheitern schon daran, ihm diesen vollendeten Schneidersitz nachzuahmen. Aber Kawakami ist ein junger, entspannter Typ. Um über unsere Rolle in der Welt nachzudenken, sollen wir es uns einfach bequem machen. Seit fünf Generationen lebt seine Familie im Shunko-in-Tempel, schon sein Vater war hier Zen-Meister. Kawakami allerdings ist weltweit unterwegs, um den Menschen „zu einem gesünderen Leben zu helfen“, wie er sagt.
Gleich nach unserem Treffen geht’s weiter nach Boston. Atmen, zur Ruhe kommen, innehalten, auf den Körper hören, das sei es, was er in seinen Kursen näherbringen möchte. Der Vater einer fünfjährigen Tochter wirkt dabei weniger wie ein vergeistigter Zen-Meister als ein gut organisierter Zen-Manager. Mithilfe einer Datenbrille, die seine Lidschlagfrequenz misst, optimiert er seine Meditationen. „Eine gute Methode, um Informationen über die Körperaktivitäten zu erhalten“, sagt er. Entspannung optimieren? Ein Widerspruch, oder? Findet Kawakami nicht. Im Gegenteil: eine gute Motivation für Zen-Einsteiger. Achtsamkeit durch Technik? Mit Sicherheit die pragmatischste Variante des Innehaltens in Japan. Die Langnasen sind platt.