Jede Narbe hat eine Geschichte. Auch diese. Bestimmt wurde sie schon tausendmal erzählt. Doch ein versöhnliches Ende nahm sie nie. Nun erzählt sie auch Stadtführer Franco. Franco ist ein feiner Mann. Er spricht Italienisch, Deutsch und Französisch. Er interessiert sich für Politik und Kultur. Und er hat zu der Geschichte, die er nun erzählt, seine ganz eigene Sicht.
Samstag, 2. August 1980, Bologna, Hauptbahnhof. Es ist ein brütend heißer Tag. Auf dem Parkplatz drängen sich die Autos. Am Bahnsteig tummeln sich die Menschen. Sie alle wollen raus. Raus aus Bologna, raus aufs Land, raus zum Meer. Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr hüpft einen Strich weiter. Dann bleibt er stehen.
Es ist 10.25 Uhr, als die Bombe explodiert. Wie ein Kartenhaus fällt der westliche Trakt des Hauptbahnhofs in sich zusammen. Holz- und Glassplitter schleudert es bis auf den Parkplatz hinaus. Dort, wo gerade noch Passagiere auf ihre Züge warteten, steigt eine dichte Staubwolke auf. Darunter liegen hunderte Menschen begraben. Es ist ein Inferno.
Bologna hat den Anschlag nicht vergessen
Die Bilanz ist erschreckend. 85 Menschen sterben. Mehr als 200 werden verletzt. Die Suche nach den Schuldigen beginnt. Medien und Politik verdächtigen anfangs die Roten Brigaden, eine linke Terrorgruppe. Erst später wird klar, wer wirklich dahintersteckte: Neofaschisten. 15 Jahre dauert es, bis zwei mutmaßliche Täter vom höchsten Gerichtshof Italiens verurteilt werden. Ist der Fall damit geklärt? Nein, betont Franco. Die Hintermänner seien nie gefasst worden. Es müsse sie aber gegeben haben. Schließlich sei Bologna nicht irgendeine Stadt gewesen, sondern die Hochburg der Kommunisten, der rote Stachel im christdemokratischen Italien.
Bologna hat den Anschlag nicht vergessen. Noch heute trägt sein Hauptbahnhof Narben. Der Wartesaal wurde zwar wieder errichtet. Er gleicht aber einem Museum. Vorne ein tiefer Riss in der Wand. Dahinter eine Gedenktafel mit dem Namen all derer, die das Attentat nicht überlebten. An den Seitenwänden Bilder des zerstörten Saals. Draußen die Bahnhofsuhr, deren Zeiger sich nicht mehr drehen. Bologna zeigt seine Narben, auch wenn kaum ein Reisender mehr Blicke dafür hat.
Bolognas Hauptbahnhof ist der Knotenpunkt Italiens. Wer mit dem Zug über die Halbinsel fährt, kommt an ihm kaum vorbei. Bologna verbindet Mailand mit Rom, Venedig mit Neapel. Trotzdem wird die Stadt von der internationalen Touristenschar allzu oft übersprungen. Noch heute sind Bologna und seine Umgebung, die Emilia-Romagna, nicht mehr als ein Geheimtipp. Zu Unrecht. Bologna ist nicht auf Wasser gebaut. Es hat keine antike Kampfarena. Ihm fehlen Sandstrand und türkisblaues Meer. Und doch ist Bologna, wie Franco sagt, nicht irgendeine italienische Stadt.
Im Mittelalter gehörte sie zu den bedeutendsten Metropolen Europas. Noch heute zeugen prächtige Kirchen, stattliche Paläste und wolkenkratzerhohe Türme von dieser Zeit. Sie brauchen mitunter so viel Platz, dass ihre Schatten den engen Gassen jegliches Licht rauben. Der Turm der Prendiparte ist einer der Riesen. Die Prendiparte waren einst eine der bedeutendsten Bologneser Familien. Mitte des 12. Jahrhunderts errichteten sie den Turm. Fast 60 Meter ragt der wuchtige Bau in den Himmel. Gewohnt hätten die Familien in den Türmen nicht, sagt Franco. Die Bergfriede dienten der Machtdemonstration: je höher, desto einflussreicher. Demnach müssten die Asinelli einst die bedeutendste Familie Bolognas gewesen sein. Stolze 97 Meter hoch ist der nach ihnen benannte, 1119 errichtete Turm. Wer will, kann den Bau von innen besichtigen, alle 498 Stufen erklimmen und oben den Ausblick über das Dächermeer genießen.
Bologna - die rote Stadt
Im Volksmund heißt Bologna die rote Stadt. Warum, das sieht man auf den Straßen: Mattrot sind viele Häuserfassaden, dunkelrot ist die Bologneser Soße für das berühmte Gericht aus der Stadt. Braunrot sind die Schinkenkeulen aus Parma, die in Schaufenstern entlang der Via Pescherie Vecchie hängen, rosarot die zarten Scheiben, die Gäste auf den Tischen davor verkosten.
Rot ist auch die politische Gesinnung der Bologneser. Nirgendwo waren die italienischen Kommunisten stärker als in der Emilia-Romagna. In keiner anderen Stadt fühlten sie sich heimischer. Im Kalten Krieg regierten vier Bürgermeister die Stadt. Sie alle gehörten der kommunistischen Partei an. Noch heute hat das linke Lager im Rathaus das Sagen. Umso mehr schmerzte es viele Bologneser, als 2015 Silvio Berlusconi und seine politischen Verbündeten auf der majestätischen Piazza Maggiore vor dem massiven, mit Zinnen versehenen Rathaus eine Kundgebung abhielten. Auf dem Platz jubelten die Rechten, auf den Straßen protestierten die Linken. Manche lieferten sich Scharmützel mit der Polizei. Franco erinnert sich daran, als wäre es gestern gewesen.
An einer Ziegelmauer neben der Piazza Maggiore hängen drei Glaskästen. Darin sind hunderte Schwarz-Weiß-Fotos junger Männer und Frauen zu sehen. Sie hatten im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Besatzer und ihre italienischen Handlanger gekämpft – und dabei ihre Leben gelassen. Nicht wenige wurden vor dieser Mauer hingerichtet. Ihre Gesichter wirken heute auf einem der belebtesten Plätze Bolognas, wo Straßenmusiker Popsongs spielen, wie Relikte aus einer längst vergessenen Zeit.
Bologna ist eine junge Stadt. Knapp 400000 Menschen wohnen hier, darunter 100000 Studenten. Tagsüber besuchen sie die älteste Universität Europas, wo seit fast einem Jahrtausend gelehrt wird. Abends treffen sie sich auf Plätzen wie der Piazza San Francesco, sitzen auf dem warmen Kopfsteinpflaster, kaufen kühles Bier vom Straßenhändler aus Bangladesch, reden und musizieren. Doch wer die Emilia- Romagna kennenlernen will, muss raus aus der Stadt.
Je ferner Bologna rückt, desto unebener werden die Straßen und desto reiner die Luft. Rechts und links breiten sich kilometerweit Felder aus. Hier wachsen Tomaten und Kirschen, Aprikosen und Erdbeeren. Im Süden schimmern die Ausläufer des Apennin.
Auf einem Hügel unweit der Adriaküste erhebt sich Cesena. Seit jeher steht die 95000-Einwohner-Stadt im Schatten Riminis. Dabei hat sie etwas Einmaliges zu bieten: Die Biblioteca Malatestiana ist die älteste bürgerlich-städtische Bibliothek Europas mit einer spätmittelalterlichen Sammlung von 429 Handschriften. Allein Bibliotheksgründer Malatesta Novello trug Mitte des 15. Jahrhunderts 126 Manuskripte zusammen. 10000 Baby-Ziegen seien für das Pergament geschlachtet worden, erzählt die Führerin. Der alte Lesesaal könnte mit seinen weißen Säulen und kargen Bänken genauso gut als Kapelle durchgehen. Am Ende des Mittelgangs dringt aus einer Rosette spärliches Licht. Die wertvollen Schätze sind versteckt. Sie lagern angekettet und angestaubt unter den Holztischen und sehen aus, als hätte sie seit Jahrzehnten niemand mehr angefasst.
Weitere Seltenheiten sind in der angeschlossenen Piana-Bibliothek zu bestaunen. Eine Ausgabe von Galileo Galileis „Lettera a Madama Cristina di Lorena“ ist kaum zwei Daumen breit. Auch „das kleinste Buch der Welt, das man ohne Lupe lesen kann“, wie die Führerin anmerkt, ist zu sehen. Eine Lupe wäre da allerdings nicht ganz verkehrt.
Rimini hat mehr zu bietern als Sonne und Strand
Und dann noch Rimini, in vielem das Gegenteil von Bologna und Cesena. Denn Rimini liegt am Meer und hat einen Sandstrand. Im Sommer ist die Stadt voll von Touristen. Rimini ist kein Geheimtipp wie Bologna. Aber es hat auch mehr zu bieten als Sonne und Sand. In der Altstadt stechen zwei Monumente heraus. Der Augustusbogen, der 27 vor Christus zu Ehren des neuen starken Manns in Rom errichtet wurde. Und die Caesar-Statue an der Piazza Tre Martiri. In Rimini soll Caesar beschlossen haben, den Rubikon zu überschreiten, jenen Fluss, der die Provinz Gallia cisalpina von Italien trennte, und einen Bürgerkrieg vom Zaun zu brechen.
Wenn deutsche Urlauber bislang nach Rimini reisten, stiegen sie oft in Bologna um. Das dürfte sich ändern. Seit Juni fahren manche Züge von München aus durch. Der geschichtsträchtige Hauptbahnhof von Bologna ist dann nur noch eine Station unter vielen.