Eigentlich ist es nur eine geografische Linie, ein gezogener Strich durch Finnland auf einer Karte. Doch wer den Polarkreis hinter sich lässt, überschreitet nicht nur eine geografische Grenze. Die Landschaft verändert sich. Wer von hier aus noch weiter nach Norden zieht, kommt in das Land der Mitternachtssonne. Er findet sich in gewaltigen Moorlandschaften wieder, aus denen wie Inseln kleine Wäldchen ragen. Dort ist die Natur weiter als in Deutschland. Die Blätter an den Bäumen wandeln sich von Grün zu Gelb und Rot. Die Rentiere bekommen schon ihr Winterfell. Alles und jeder scheint noch mal Luft zu holen vor dem langen Winter und der langen Polarnacht.
Noch aber dominiert die Farbe Grün – in den gewaltigen Wäldern oder in den weitläufigen Mooren. Durch eines dieser Moore führt Reiseleiter Tobias Riegel eine Gruppe Wanderer. Es geht mitten durch ein Braunmoor, in dem knorrige Bäume faszinierende Verrenkungen zeigen. Nun, im frühen Herbst, lässt es sich dort gut aushalten – die Hochsaison der Mücken im Juni und Juli ist bereits vorbei. Auch nasse Füße holt man sich nicht, wenn man dem Pfad aus Holzbohlen folgt. Einer von vielen, die sich durch die Landschaft Lapplands ziehen.
Tobias Riegel kennt sich aus in Finnland, seit Jahren begleitet er Touren. Unvermittelt springt er von den Holzbohlen. Während er bis zu den Knöcheln im weichen Boden einsinkt, bückt er sich und pflückt zwei kleine Zweige, an denen Beeren hängen. Einmal Blaubeere, einmal Preiselbeere. Sie kommen in Lappland in Massen vor. Köstliche Geschenke, die die Natur der Taiga ihren Bewohnern macht. Ein weiteres dieser „Geschenke“ ist wesentlich größer und flauschiger: das Rentier.
Wer wissen will, ob er sich gerade in Lappland befindet, kann Folgendes ausprobieren: Er nehme ein Auto und fahre eine Straße entlang. Wenn die Rentier-pro-Stunde-Rate bei mindestens vier liegt, ist er sicher in Lappland. Die Region Lappland beschränkt sich dabei nicht nur auf Finnland – auch auf Norwegen, Schweden und, je nach Definition, weitet sie sich bis nach Russland aus.
In finnischen Teil Lapplands prägen die Tiere ebenso wie Kiefern und Birken die Landschaft. Neugierig beobachten sie vom Straßenrand aus die vorbeifahrenden Autos. Einheimische drücken dann sofort auf die Bremse und schleichen argwöhnisch am Rentier vorbei – denn wo es eines gibt, ist das nächste mit Sicherheit nicht fern, das auf die Straße laufen könnte. Allein in Finnland gibt es geschätzt rund 200.000 Rentiere. Zum Vergleich: Die Einwohnerzahl liegt bei rund 185.000. Wild leben allerdings nur einige wenige Rentiere – die meisten gehören den Samen, den Ureinwohnern dieses Landes.
Nachwachsende Rohstoffe? Klar, Rentiergeweihe!
Irene Kangasniemi, die in einem Haus in Saarenkylä, nördlich von Rovaniemi, wohnt. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie als Künstlerin – wobei sie größtenteils mit den traditionellen Materialien der Sami arbeitet. Eine von ihnen ist , die in einem Haus in Saarenkylä, nördlich von Rovaniemi, wohnt. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie als Künstlerin – wobei sie größtenteils mit den traditionellen Materialien der Sami arbeitet. Daneben nimmt sie sich Besuchergruppen an – und stellt ihnen eben jene Materialien vor. Auch bei Irene beherrscht das Rentier die Landschaft – sei es auch nur die des Werktisches. Sie nimmt ein Geweih in die Hand und zeigt es der Gruppe. Sie dreht und wendet es mit geübten Bewegungen, zeigt die Stellen, die sich besonders zur Herstellung von Schmuck oder Messergriffen eignen. Sie macht das so selbstverständlich und gedankenverloren, wie ein Mitteleuropäer einen Regenschirm öffnen würde.
Im Nebenzimmer stapeln sich vor einem Werktisch die Geweihe. Irenes Mann Ari fertigt daraus Griffe für Messer – jedes einzelne ein Unikat, gefertigt von Hand. Rentierhorn ist seit jeher ein weit verbreitetes Arbeitsmaterial in Lappland. Sowohl die männlichen als auch weiblichen Rentiere entwickeln ein Geweih – und werfen es jedes Jahr ab. Ein nachwachsbarer Rohstoff also. Irene lebt von der Natur ebenso wie von ihrer Kunst. „Der Wald ist mein Supermarkt“, sagt sie mehrfach zur Besuchergruppe. „Dort finde ich, was ich zum Leben brauche.“ Das finnische Verständnis der Nachhaltigkeit: Nehme dir von der Natur, was du brauchst – aber sei nicht zu gierig.
Besuch in einer Amethystmine, die rund 80 Kilometer nordwestlich im Pyhä-Luosto-Nationalpark liegt. Die Arbeiter dort fördern im Jahr 300 Kilogramm der violetten Quarz-Art. Ohne Maschinen. Gegraben wird von Hand mit einfachen Werkzeugen. Einer der Arbeiter ist Pascal Buinier, der auch Besucher durch die Mine führt. Buinier spricht ebenso finnisch wie englisch und deutsch. Sein Akzent macht allerdings bereits nach dem ersten Satz klar, dass seine Muttersprache französisch ist. Er erklärt, dass insgesamt zwölf bis 15 Menschen in der Mine arbeiten. Regelmäßig hört er die Frage, warum dort nicht mehr geschürft wird. „Mit gut zwölf Arbeitern und unserer Fördermenge wird das Vorkommen hier noch 400 Jahre lange reichen. Das sind sichere Arbeitsplätze, die also ein paar Jahrhunderte Bestand haben“, lautet seine Antwort darauf. Für Buinier wäre es katastrophal, die Natur zu zerstören – gerade deshalb ist er vor 30 Jahren von Frankreich aus nach Lappland ausgewandert: „In Frankreich habe ich nach Natur und echter Wildnis gesucht, aber bin mit meinem Fund nie glücklich geworden. Daher wollte ich hier leben.“
Je weiter man nach Norden kommt, desto dünner ist das Land besiedelt. Die Anzahl der Häuser nimmt spürbar ab – auch die Natur verwandelt sich. Gut 160 Kilometer nördlich von Rovaniemi befindet sich das Herz des Pallas-Yllästunturi-Nationalparks. Dort ist die Natur noch weiter im Jahr vorangeschritten. Während in Rovaniemi erste Blätter gerade gelb werden, haben hier die Wälder ihre volle Farbpracht entfaltet. Auch haben die Bäume dort merklich weniger ausladende Äste. Ein Schutz vor der schweren Schneelast, die der Winter mit sich bringt. Und der kommt dort bereits Ende Oktober mit den ersten dichten Schneefällen.
Die Rentier-Dichte hat weiter zugenommen. Wer nun wissen will, ob er sich gerade im nördlicheren Lappland befindet, kann folgenden Test anwenden: Er nehme ein Auto und fahre eine Straße entlang. Wenn die Rentier-pro-Stunde-Rate bei mindestens acht liegt, ist er sicher im nördlicheren Lappland. Geografieunterricht auf Finnisch …
Als Fortbewegungsmittel werden Rentiere heute nicht mehr eingesetzt
Wer noch mehr Rentiere sieht, befindet sich sicherlich auf einer Farm. In Torassieppi etwa, westlich des Pallas-Yllästunturi-Nationalparks arbeitet Kaisa Salo, eine energievolle junge Frau, die Besuchern alle Fragen über Rentiere beantwortet. Nur bei einer Frage wird sie verschlossen: Wie viele Rentiere die Farm denn genau besitze. „Das ist in Finnland etwa so, als würde man jemanden nach seinem Kontostand fragen“, erklärt sie.
Ein No-Go für Besucher also. Salo nimmt es aber mit Humor. Die Rentiere, die in nicht genau erfragbarer Zahl auf der Farm gehalten werden, dienen in erster Linie der Produktion von Fleisch. Als Fortbewegungsmittel werden Rentiere heute nicht mehr eingesetzt. 1961 kam das erste Schneemobil nach Lappland und setzte sich durch. Doch vereinzelt sind die Bewohner noch mit den Rentierschlitten unterwegs – und natürlich Touristen, die eine solche Fahrt erleben wollen. Die Namen einiger Rentiere, die Salo ihren Besuchern auf der Farm zeigt, lehnen sich an die traditionelle Fortbewegungsmethode an. „Dasher“ oder „Vixen“ liest man auf den hölzernen Namensschildern am weitläufigen Gehege – die weniger bekannten Mithelfer von Rudolph, die gemeinsam den Schlitten des Weihnachtsmanns ziehen.
Aber nicht nur Rentiere werden in Lappland für die Schlittenfahrt eingesetzt – auch Huskys verrichten diese Arbeit. Im Örtchen Harriniva, östlich des Pallas-Yllästunturi-Nationalparks an der Grenze zu Schweden, gibt es eine Aufzuchtstation, in der rund 400 Hunde leben. Als die Besuchergruppe kommt, bleiben die Hunde ruhig, kein Gebell ist als Reaktion auf die Fremden zu hören. Neugierig heben die Tiere die Köpfe, einige, die ihre Hundehütten am Weg durch die Anlage stehen haben, kommen herbei und schmiegen sich gegen die Beine der Besucher. Die Hunde wirken vollkommen ausgeglichen. Kein Wunder, denn an Auslauf mangelt es ihnen nicht. Täglich sind sie auf ausgedehnten Gassigängen unterwegs, damit sie im Winter fit genug sind, einen Hundeschlitten zu ziehen. Denn ihre Sternstunde haben die Huskys im Winter, wenn der Schnee teils meterhoch liegt. Bald wird es so weit sein.
Kurz informiert
Anreise Die Flughäfen von Rovaniemi und Kittilä werden von Helsinki aus regelmäßig angeflogen.
Infrastruktur Die Straßen sind unterschiedlich gut ausgebaut. Routen, die eine Bezeichnung mit zwei Ziffern haben (etwa 79) sind gut befahrbar. Straßen mit drei oder vier Ziffern sind dagegen gerade für Wohnmobile nur eingeschränkt befahrbar.
Unterbringung Über ganz Lappland verteilt finden sich zahlreiche Hotels und kleine Ferienanlagen. Meist sind diese von den angrenzenden Straßen aus gut ausgeschildert.
Essen und TrinkenEine Delikatesse ist die Moltebeere, die häufig zu Marmelade oder Gelee verarbeitet wird. Daneben gehört Rentierfleich zu den typischen Gerichten, das meist in geschnetzelter Form gekocht wird.
Tipp In Finnland gelten beim Thema Alkohol strenge Gesetze. Alkoholika dürfen in der Öffentlichkeit weder getrunken noch offen sichtbar transportiert werden.
Die Reise wurde unterstützt vom Reiseveranstalter Wikingerreisen (www.wikinger-reisen.de)