Eigentlich fühlt sich England an wie immer. Als wir mit der Fähre nach Dover übersetzen, empfängt uns die weiße Steilküste im weichen Licht des Spätnachmittags. Hoch oben thront die Burg – wie ein Gruß hinüber ans europäische Festland. Unsere Vorfreude wächst. Und spürbar ist nichts anders als in früheren Jahren, wenn wir Großbritannien besucht haben. Und doch ist es unsere ganz persönliche Brexit-Abschiedstour. Sie steht unter dem Eindruck der Schlagzeilen der vergangenen Monate. Wird England für uns als Touristen nach dem 31. Oktober anders sein? Und wenn ja, wie?
Vorerst haben wir keine Zeit, zu spekulieren. Auf englischem Boden angekommen, befolgen wir den Rat eines Uniformierten, der uns augenzwinkernd wünscht: „Vergessen Sie nicht, links zu fahren.“ Wir konzentrieren uns also auf die ungewohnte Straßenseite, auf die vielen Kreisverkehre, die es in abenteuerlichen Varianten gibt. Zu zweit im links gesteuerten Auto, schlängeln wir uns waghalsig durch den Feierabendverkehr.
60 Meilen sind es bis zu unserem ersten Quartier in Maidstone in der Grafschaft Kent. Dort erwarten uns unsere Wirtsleute Rose und Andy. Wir unterhalten uns wie alte Freunde, erfahren, dass die Enkelin Geburtstag feiert, bekommen Fotos zu sehen und – am nächsten Morgen – ein wundervolles „Full English Breakfast“. Nie schmeckt es besser, als am ersten Urlaubstag: Speck, Eier, Würstchen, Pilze, Tomaten und Bohnen duften verführerisch. Wir langen zu und es verschlägt uns auch nicht den Appetit, als die Sprache auf Boris Johnson kommt.
Rose rollt mit den Augen. „Ich halte ihn für kriminell“, sagt sie. „Ich habe Angst davor, was kommt. Auch Angst, dass es nicht mehr genug zu essen gibt. Viele Menschen legen Vorratsdepots an.“ Rose befürchtet eine wirtschaftliche Schieflage, glaubt, dass das Britische Pfund an Wert verliert. Sie ist nicht gut auf ihre Regierung zu sprechen. Und vor allem ist sie es leid, dass sich die Diskussion so in die Länge zieht: „A never ending story.“ Das ist es auch, was wir bei allen Briten feststellen, mit denen wir ins Gespräch kommen. Sie sind der zähen Verhandlungen überdrüssig und schämen sich für ihre Politiker.
Nach dem Frühstück ist Aufbruch. Wir haben unsere Route nur grob abgesteckt, wollen uns treiben lassen. Einmal quer durch Südengland soll es gehen. Große Städte und Menschenmassen meiden wir. Es sind Naturerlebnisse, die wir suchen: Gärten, Meer, Nationalparks, Abgeschiedenheit und Begegnungen mit Einheimischen.
Ein Abstecher auf dem Weg nach Salisbury führt uns zu Mottisfond Abbey, einem einstigen Augustiner-Kloster. Wir gewöhnen uns zunehmend an den Linksverkehr. Das stattliche Anwesen liegt malerisch eingebettet in einem Landschaftspark mit Bachlauf und altem Baumbestand. Wir treffen dort John aus Wales. Beim Stichwort Brexit winkt er ab. „Ich glaube, die wissen nicht, was sie tun! Kein Mensch hat eine Ahnung, was kommen wird.“ Mehr Gesprächsbedarf hat er zu diesem Thema nicht.
Unweit von Salisbury liegt Stonehenge, jener mystische Steinkreis aus prähistorischer Zeit. Es sind nur ein paar Kilometer Fußweg, die das Besucherzentrum von der Kultstätte trennen. Während sich Warteschlangen an den Shuttlebussen bilden, beschließen wir, zu laufen und bereuen es nicht. Wir nähern uns auf diese Weise langsam und voller Respekt dieser Stätte, die so viel geheimnisvolle Würde ausstrahlt.
Lange können wir freilich nicht bleiben, denn es gilt, noch etliche Meilen zurücklegen. Während Autobahnen und die halbwegs komfortablen A-Roads oft nur selten Blicke auf die Landschaft zulassen, sind die B-Roads idyllischer und meist wenig befahren. Dafür in Breite und Qualität ein echtes Abenteuer. Das bekommt auch unser rechter Außenspiegel zu spüren, als er in der Begegnung mit einem Postauto den Kürzeren zieht. Dennoch bevorzugen wir diese kleinen Straßen, um möglichst viele Eindrücke zu gewinnen. Bäume beiderseits der Straß bilden mit den Wipfeln Dächer wie die gotischer Kathedralen. Wir können uns gar nicht sattsehen. Dann wieder sind es Wiesen und Felder, auf denen Mauern und Hecken typische geometrische Muster zeichnen.
Wir durchstreifen einen Zipfel des Exmoor-Nationalparks, als unser Sprit bedenklich zur Neige geht. Die weit und breit einzige Tankstelle liegt in Blackmoor Gate. Dort gibt es das, was wir brauchen und noch gratis obendrauf die Meinung der freundlichen Betreiberin zum Brexit. „Ich bin extrem gelangweilt von der ganzen Diskussion“, sagt sie. Aber ich finde den Brexit notwendig, weil so viele Menschen als Sozialschmarotzer hierher kommen und Geld vom Staat kriegen.“ Sie wünscht sich ein Punktesystem für Einwanderer wie etwa das in Australien. Dort gibt es Arbeitsvisa für Menschen in den Berufen, die auf dem Arbeitsmarkt am dringendsten gesucht werden.
Wir verabschieden uns und streifen weiter durch die malerische Landschaft. Wir kommen in die „Zwillings-Ortschaften“ Lynton und Lynmouth, von denen Lynton oberhalb der Steilküste liegt und einen atemberaubenden Blick auf den Bristolkanal freigibt. Beinahe kann man die walisische Küste auf der anderen Seite erahnen. Lynmouth, am Fuß der Steilküste gelegen, erreicht man über einen steilen Pfad. Dort unten erwartet einen die typische Kulisse eines Fischerorts mit seinen Booten und Pubs aus denen verlockender Duft nach Cornish Pasties strömt. Und überall liegt das Gelächter der Möwen in der Luft. Es ist das Geräusch, das uns ständig an der Küste begleiten wird.
Von hier aus ist es nur ein Steinwurf zum „Valley of the Rocks“. Wer dort wandert, spürt die Schönheit der urwüchsigen Landschaft. Zwischen schroffen Felsen schlängeln sich schmale Pfade entlang der Steilküste, die tief nach unten abfällt und mit dem blauen Wasser der Keltischen See ein spektakulärer Anblick ist. Auf den kargen Böden blüht selbst im Spätsommer leuchtend gelber Ginster und wer Glück hat, trifft auf wilde Ziegenherden. Im 17. Jahrhundert hatte die Küstenwache einen Weg geschlagen, um gegen Schmuggler vorgehen zu können. Heute freuen sich Wanderer über diese gut 1000 Kilometer lange Strecke, die als South-West Coast Path Großbritanniens längster ausgeschilderter Fernwanderweg ist.
In Barnstaple übernachten wir im Poplars B&B, wo uns anderntags George (76) am Frühstückstisch gegenüber sitzt. Nach dem Austausch von Höflichkeiten kommen wir rasch zum Thema, das ihm spürbar am Herzen liegt und erneut die Schlagzeilen beherrscht: Auf dem Titel der Boulevardzeitung „Sun“ prangt das Konterfei von Oppositionsführer Jeremy Corbyn als Hühnerkopf. Premierminister Boris Johnson hatte ihn „Chicken“ (Feigling) geheißen. „Ich habe damals für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt“, verrät George. „Weil ich als Unternehmer ein Möbelgeschäft hatte. Ich hab um die guten Geschäftsbedingungen gefürchtet.“ Von der Abwicklung des Brexits auf politischer Ebene ist er entsetzt. „Das ist ein Fiasko“, meint der kultivierte ältere Herr kopfschüttelnd. „Aber ich denke dennoch, der Brexit wird funktionieren.“
Auch die nächsten Etappen erfüllen ganz und gar, was wir uns von Südengland erhofft haben: Viele Dörfer und Städtchen in Devon und Cornwall gleichen einander auf bezaubernde Weise. Bude, Tintagel, Newquay, St. Ives, Porthleven ... weisen alle den Charme malerischer Fischerorte auf mit ihren bunten Booten in den Häfen und den pittoresken Häuserkulissen.
Wir streifen durch Gärten wie die „Lost Gardens of Heligan“, die über Jahrzehnte zugewuchert sind und nun aus dem Dornröschenschlaf befreit werden. Wir sind fasziniert vom futuristisch anmutenden „Eden Project“, bei dem unter riesigen Glaskuppeln exotische Pflanzen gedeihen. Und wir genießen die einsame Wanderung durchs Dartmoor, um „Wistman’s Wood“ zu finden, ein Waldstück das mit knorrigen Baumstämmen und moosbewachsenen Felsbrocken wie aus einer anderen Welt wirkt. Auch „Land’s End“, der westlichste Punkt Englands liegt auf unserer Route und wir erklimmen ihn über den wildromantischen South-West Coast Path.
„Land’s End“ selbst ist unspektakulär: Es sieht dort nicht viel anders aus als viele Kilometer Küste davor und danach. Ein Touristencenter lockt die Massen dorthin. Als wir genug Seeluft inhaliert haben, beginnt es zu dämmern und wir erliegen der Versuchung, den Bus zu nehmen, anstatt zurück zu wandern. Zehn Minuten dauert es bis zur Abfahrt – Zeit genug, mit einem Ehepaar ins Gespräch zu kommen. Und auch da ist auch das Thema Brexit nah. Die 72-jährige Lady ist nicht gut auf die EU zu sprechen. Sie fühlt sich von ihr bestohlen. „Ich bin für den Austritt“, sagt sie. „Wir werden als Land immer ärmer wegen der Gebühren, die wir an die EU bezahlen. Und auch die Immigranten nehmen uns etwas weg.“ Dass die EU auch Unterstützung leistet, die gerade strukturschwachen Regionen zugute kommt, lässt sie nicht gelten. Unterschiedliche Meinungen, große Herzlichkeit: Wir trennen uns fast als Freunde und haben lange das Bild der Lady vor Augen, die uns lächelnd aus dem Busfenster nachwinkt.
Auch Bob (58), über den wir im „Navy Inn“ in Penzence stolpern, ist froh über den Brexit. Eigentlich sind wir nach ein paar Bier gerade am Gehen, doch am Tresen verwickelt er uns noch in ein Gespräch, muss einfach loswerden, was ihm auf dem Herzen liegt: „Unser Land gibt zu viel Geld für soziale Belange aus. Aus Osteuropa kommen Menschen hierher, um zu arbeiten, aber stattdessen leben sie nur von unseren Sozialleistungen“, sagt er. Am Ende stellt er fest: „Wir Briten waren nie wirklich Europäer! Wir waren immer Inselbewohner!“
Der New Forest in Hampshire bildet eine der letzten Stationen unserer Reise. Noch einmal lassen wir uns von urwüchsiger Vegetation begeistern und von ganz besonderern Begegnungen: Rund 7000 Ponys laufen dort frei herum. Eine halbe Semmel findet sich in meiner Jackentasche und so mache ich mir schneller, als mir lieb ist zwei vierbeinige, reichlich hartnäckige Freunde.
24 Stunden später heißt es dann, Abschied nehmen. Wir stehen am Fährhafen in Dover in der Warteschlange. Es gibt keinen Grund zur Eile und der Mann am Schalter hat Lust auf einen Ratsch. Vor ihm liegt eine zusammengefaltete Zeitung. Es deprimiert ihn, sie aufzuschlagen. „Ich möchte nicht mehr jung sein“, sagt er. „Wir leben in der bestmöglichen Welt. Spätere Generationen werden es schwer haben.“ Den Brexit findet er völlig falsch: „Wir sind eine Einheit. Und es macht nicht den geringsten Sinn, daraus auszubrechen!“ Wir nicken zustimmend und rollen mit unserem Auto gemächlich auf die Fähre, die uns zurückbringt. Nach Europa. Ob wir wiederkommen werden? Man wird sehen ...