Die Füße im Sand, die Nase im Wind, ringsum Meer – Inselfeeling. Doch so einfach ist das nicht: Eine echte Insel will erobert werden, wenn schon nicht bei Vollmond mit einem morschen Piratenschiff, dann wenigstens mit einer Fähre. Sie ist das einzige Verkehrsmittel, das Touristen von der pulsierenden Nachbarinsel Ibiza nach Formentera, die kleinste und südlichste der bewohnten Balearen, bringt. Mit dem Einlaufen in den Hafen La Savina beginnt ein Inselglück zwischen Karibiktraum und Hippieidylle abseits des Massentourismus – zumindest in der Nebensaison.
Die Überfahrt gleicht einem Initiationsritus, Fremdenführer Jose Antonio Ribas ist der Eingeweihte. Mit seinen 59 Jahren hat er die rund 20 Kilometer lange Passage zwischen den Inseln unzählige Male absolviert und ist immer noch fasziniert. Die Bügel seiner schwarzen Sonnenbrille verlieren sich im grau melierten Haar und auch Ibiza verschwindet langsam aus dem Blickfeld. Das Meer gewinnt an Macht. Bis auf der gegenüberliegenden Seite Formentera auftaucht. Darin liege der Reiz, sagt Ribas. In der Abgeschiedenheit. Während Ibiza immer touristischer wurde, habe Formentera seinen Inselcharakter bewahrt. Dazu gehört die Überfahrt. Bei ruhiger See dauert sie rund 30 Minuten, bei Wind und Wellengang kann sie zu einer Mutprobe werden. Wir haben Glück, das Wetter hält, und mit dem Einlaufen in den Hafen sind wir offiziell Insulaner.
Und was für eine Insel uns erwartet – der Kontrast zu Ibiza könnte kaum größer sein. Dort verlieren sich Touristen im Luxus, endlosen Partys und schönem Schein. Hier atmen sie den Duft der Macchie, haben Salz auf den Lippen, und in ihren Augen spiegelt sich Wasser mit Seltenheitswert. Wer Traumstrände von 80er- Jahre-Fototapeten, 90er-Jahre-Bildschirmschonern und ewig gleichen Karibikprospekten kennt, wird sich die Augen reiben: türkis, ultramarin, azurblau oder smaragdgrün – egal, welche Schattierung, das Mittelmeer um Formentera hat sie alle.
Was das Wasser so unverschämt sauber macht? Die Natur, genauer eine kleine Meerespflanze: das Neptungras, auch Posidonia genannt. Die weltweit größten zusammenhängenden Wiesen dieses Grases liegen vor Formentera, filtern das Wasser auf natürliche Art, machen es zu einem der klarsten des Planeten und die Strände Formenteras zu den schönsten des Archipels. Die Unesco krönte die Seegrasfelder 1999 mit dem Titel Welterbe, in ihnen tummeln sich Barrakudas, Delfine und Meeresschildkröten, umringt von weißem, puderfeinem Sand. Wenn die Karibik eine europäische Zweigstelle hat, dann hier.
Einst die Hippies, heute die Jachten
Die Einzigartigkeit der Insel hat sich unter Touristen herumgesprochen. Waren es in den 60er und 70er Jahren vorwiegend Hippies, die ihren Aussteigertraum suchten, erlebt Formentera seit den 80er Jahren einen touristischen Aufschwung. Spätestens, seitdem italienische Fußballstars in den 90er Jahren die Insel für sich entdeckten, mit ihren Jachten vor ihr ankerten, kann es in der Hauptsaison eng werden. Bis zu 20000 Menschen zieht es auf die 12000-Einwohner-Insel. Die Anzahl der Urlauber übersteigt die der Betten. Viele Gäste bleiben Tagestouristen, auch weil ein Besuch teuer ist, die Preise liegen über Ibiza-Niveau.
An heißen Sommertagen wiegen sich zudem bis zu 1000 Jachten im Wasser vor den bekannten Stränden Es Pujols, Levante und Illetes – darauf arabische Ölscheichs, russische Oligarchen oder Mitglieder der spanischen Königsfamilie. Mit all den Nebenwirkungen, die große Schiffe mit sich bringen, vor allem für das Neptungras: Das Alleinstellungsmerkmal der Insel ist gleichzeitig deren Achillesferse. Wie bedroht es ist, wird deutlich, als wir mit einem Segelboot über die karibisch-blauen Wellen schaukeln und neben uns haushohe Fähren durch das Wasser pflügen und riesige Jachten ihre Anker auswerfen. An manchen Stellen wurden 40 Prozent der Seegraspopulation zerstört, warnen Meeresbiologen. Zusammen mit dem Klimawandel und steigenden Meerestemperaturen, prophezeien sie dem Neptungras in wenigen Jahrzehnten das mögliche Ende. Inzwischen sind alle Küsten geschützt, auf Seegrasfrevel stehen empfindliche Strafen und eine 2017 gegründete Initiative, „Save Posidonia Project“, setzt sich für den Schutz des Ökosystems ein.
Das kleine Gras mit großer Wirkung ist ein Schatz für das Eiland, das abgesehen von der Natur nicht allzu viel zu bieten hat. 20 Kilometer lang und an seiner schmalsten Stelle weniger als zwei Kilometer breit, misst die höchste Erhebung gerade einmal 190 Meter. Obwohl erste Siedlungsspuren bis in die Kupfersteinzeit um 2000 vor Christus zurückreichen, hat die große Weltgeschichte einen Bogen um die Insel gemacht. Bis auf einige Kirchen, Ruinen und Leuchttürme ist die Zahl der Sehenswürdigkeiten überschaubar. Museumsfreunde werden genau einmal fündig, im Museo de Etnografía de Formentera, einem Heimatkundemuseum in San Francisco.
„Am Tag, an dem die erste Ampel kommt, gehe ich“
Blickten die Inselbewohner zu Beginn der touristischen Erschließung noch neidisch auf Mallorca oder Ibiza, habe sich das inzwischen geändert, erzählt Antonio Ribas. Auf den Nachbarinseln werden für immer mehr Touristen und Autos immer größere Hotels und Straßen gebaut. Formentera hat einen anderen Weg eingeschlagen: sanfter Tourismus, keine zusätzlichen Hotels, die Zahl der Autos soll in Zukunft limitiert und auf E-Mobilität umgestellt werden. Schon heute führen 32 sogenannte Routes Verdes, von der Inselregierung angelegte Rad- und Wanderwege, die Touristen auf umweltverträglichen Pfaden autofrei über die Insel. Und das soll auch so bleiben. Ein beliebter Spruch unter den Einheimischen: „An dem Tag, an dem die erste Ampel kommt, gehe ich“, erzählt Fremdenführer Ribas.
Die Haltung passt zum Flair der Insel: entspannt und unaufgeregt. Entlang der Küste stehen alle paar hundert Meter sogenannte Kioscos im Sand – kleine urige Strandbars mit Surferflair, an denen inseleigene Cocktails oder frische Tapas serviert werden. In Sant Ferran, dem ehemaligen Hippiezentrum, sitzen Urlauber bis in die Nacht bei Livemusik in der Bar „Fonda Pepe“ wie einst der prominenteste Gast, Bob Dylan. Bei Licht betrachtet wirkt die 68er Idylle ein wenig aufgesetzt. Auf einem sogenannten Hippiemarkt in El Pilar wird Kunsthandwerk von Menschen verkauft, die auf der Insel ihr Glück gefunden haben oder einfach gestrandet sind. Die drei großen „Flower-Power-Partys“, die im Jahr auf Formentera gefeiert werden, sind kaum mehr als Zitate einer vergangenen Zeit. Oder einfach Masche.
Gleichzeitig ist die Insel Treffpunkt einer heterogenen Szene junger Sinnsucher. In ihren Netzwerken schwören Esoteriker auf die Energie Formenteras, um die sich angeblich erdmagnetische Felder vereinen. An den Klippen über dem Meer bei Cala en Baster treffen sich Yoga-Gruppen, es wird meditiert, die Felsen schmücken Steinkreis-Labyrinthe und rituelle Türmchen. Abends, in einer Höhle mit Freiblick, unter dem Leuchtturm am Cap de Barbaria, verabschieden junge Menschen die Sonne ins Meer – den Soundtrack liefert die Klangschale. Auch das ist Formentera. Und wem all das – speziell in der Nebensaison – für einen Urlaub allein zu beschaulich ist, der verlängert vorher oder nachher einfach um ein paar Tage Ibiza.