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Ulm: Löwenmensch aus Lonetal kehrt ins Museum zurück

Ulm

Löwenmensch aus Lonetal kehrt ins Museum zurück

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    Ulm - Ulmer Museum - Ausstellung Löwen Mensch - Ankunft des Löwenmenschen
    Ulm - Ulmer Museum - Ausstellung Löwen Mensch - Ankunft des Löwenmenschen Foto: Alexander Kaya

    Er hat sich verändert, seitdem er Ulm verlassen hat. Ein wenig fülliger ist er geworden, größer und um die Schultern herum ein bisschen breiter. Sein Lächeln aber hat der Löwenmensch behalten: ein Lächeln, das aus den Tiefen der Eiszeit stammt. Das rund 31 Zentimeter hohe Mischwesen aus Mammutelfenbein, von einem unbekannten Schnitzer vor etwa 35 000 bis 40 000 Jahren geschaffen, ist eines der ältesten Kunstwerke der Menschheit – und die weltweit größte bekannte Figur aus diesem Zeitalter. Doch genauso interessant wie seine Herkunft ist die Geschichte seiner Wiederentdeckung: ein archäologischer Thriller, der sich über Jahrzehnte erstreckt.

    Ulmer Museum ist für Rückkehr des Löwenmenschen vorbereitet

    Im Ulmer Museum ist schon seit Tagen alles für „Die Rückkehr des Löwenmenschen“ vorbereitet. So lautet der Titel der wichtigsten Ausstellung, die das Haus in diesem Jahr zu bieten hat. Neben dem Eingang am Marktplatz prangt eine mehrere Meter hohe Darstellung der Figur, die in natura so unscheinbar daherkommt. Erst am Mittwochmorgen kommt der Löwenmensch selbst zurück, verpackt in eine gelbe Kiste, von Sicherheitsleuten bewacht. Die Statuette wurde vor der Ausstellung beim Landesamt für Denkmalpflege (LAD) in Esslingen restauriert und um neue Teile ergänzt.

    Eine pompöse Begrüßungsshow hat sich das Museum gespart, wie Kurt Wehrberger, Leiter der Abteilung Archäologie und Kurator der Ausstellung, sagt: „Den roten Teppich überlassen wir lieber den Stars in Berlin“, sagt er und fügt hinzu: „Obwohl der Löwenmensch natürlich ein Star ist.“ Ein Star, der vor seiner Entdeckung zigtausende Jahre lang unbeachtet in einer Höhle vergraben lag.

    Der neuzeitliche Krimi beginnt im Hohlenstein

    Der neuzeitliche Krimi um die Figur beginnt in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg im Hohlenstein am Rande des Lonetals bei Langenau, unweit der bayerischen Landesgrenze. Schon 1935 hat der Anatom Robert Wetzel, ab 1936 auch dank seiner nationalsozialistischen Gesinnung Professor in Tübingen, in der dortigen Stadelhöhle erste Probegrabungen vornehmen lassen. 1937 beginnen die planmäßigen Arbeiten. Wetzel, inspiriert von den spektakulären Funden seines Kollegen Gustav Riek in der nahe gelegenen Vogelherd-Höhle, geht es um mehr als nur wissenschaftlichen Erfolg.

    Schirmherr der Grabung ist Heinrich Himmler, am Hohlenstein-Stadel weht während der Arbeiten das SS-Banner. Bei vorigen Untersuchungen hatte Wetzel, ab 1938 auch noch „Führer“ des Nationalsozialistischen Deutschen Dozentenbunds, die Frage umgetrieben, ob die Eiszeitjäger von der Alb Vorfahren der Deutschen waren.

    Die Grabungen des Anatomen, der freilich selbst kaum im Lonetal weilte, sind erfolgreich und ergeben mehrere Funde. Am 25. August 1939, nur wenige Tage vor dem deutschen Angriff auf Polen, endet die letzte Kampagne im Hohlenstein. Otto Völzing, Wetzels Mann vor Ort, und sein Team packen eilig die Werkzeuge zusammen. Sowohl der Geologe Völzing als auch mehrere Helfer haben ihre Einberufung zur Wehrmacht erhalten. Die letzten Funde werden verpackt und zu Wetzel nach Tübingen geschickt. Darunter auch rund 200 Bruchstücke aus Mammutelfenbein: der Löwenmensch. Doch das ahnt 1939 und in den Jahren darauf noch keiner.

    Für Claus-Joachim Kind, Fachbereichsleiter Steinzeit am Landesamt für Denkmalpflege, sind die Methoden der Grabung aus heutiger Sicht mangelhaft: „Man hat sich damals auf größere Objekte konzentriert.“ Doch immerhin einen Vorwurf an Wetzels Ausgrabungstruppe hat die Restaurierung widerlegt: Der Löwenmensch wurde bei der Ausgrabung nicht zerstört. Laut Nicole Ebinger-Rist, Diplomrestauratorin am LAD, ist die Elfenbeinfigur allein durch die Alterung des Elfenbeins zerfallen.

    Fragmente kamen 1962 als Schenkung ins Ulmer Museum

    Die Bedeutung der Einzelteile erkennen zunächst weder die Ausgräber noch Wetzel. Die Fragmente überstehen zwar, verpackt in Zigarrenkisten, die Kriegszeit. Nach dem Tod Wetzels kommen sie 1962 als Schenkung ins Ulmer Museum. Doch auch dort bleiben die Funde zunächst mehr oder weniger unbeachtet. Bis zum Dezember 1969, als der Tübinger Archäologe Joachim Hahn im Depot die Funde aus der Stadelhöhle noch einmal in Augenschein nimmt.

    Als er einen Karton mit der Aufschrift „HS 25.8.39 20.m 6. Hieb“ öffnet, fallen ihm neben Tierknochen auch andere Bruchstücke entgegen, die Hahn sofort als bearbeitetes Elfenbein erkennt. Zusammen mit zwei Studenten beginnt er zu puzzeln. Ein paar Tage später halten sie eine Figur in Händen, aufrecht wie ein Mensch, aber mit tierischen Zügen. Hahn tauft sie in Anlehnung an eine Figur aus einem Roman des Beatnik-Autors William S. Burroughs „Mugwump“. Die Welt nimmt erstmals Notiz von der Statuette, wenn auch noch misstrauisch: „Der Ulmer Tiermensch: Aprilscherz oder Sensation?“ schreibt 1970 die Zeit.

    Danach verschwindet die mysteriöse Figur wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung – und findet doch langsam zu ihrer heutigen Gestalt. 1972 übergibt ein früherer Student Wetzels dem Museum ein Tütchen mit einigen Stücken Mammutelfenbein aus dem Büro des Anatomen. Wenige Jahre später händigt eine Besucherin dem Museum eine Schachtel mit Bruchstücken aus, die ihr Sohn angeblich beim Spielen in der Stadelhöhle gefunden haben soll.

    Als die Paläontologin Elisabeth Schmid 1982 einen näheren Blick auf den Schachtelinhalt wirft, erkennt sie in einem der Fragmente einen Teil der Schnauze der Figur: Der „Mugwump“, das zeigt sich nun, hat den Kopf einer Raubkatze. 1987 fügt Schmid schließlich zusammen mit der Restauratorin Ute Wolf die 200 nun vorhandenen Elfenbein-Teile zu einer Figur zusammen, einzelne Fehlstellen werden mit einem Spezialkitt aus Wachs und Kreide ausgebessert. Der „Löwenmensch“ ist wiedergeboren – und seit 1994 auch unter diesem Namen bekannt.

    Mit der Rekonstruktion, die ab 1988 im Ulmer Museum zu sehen ist, beginnt die eigentliche Weltkarriere der Figur: Wissenschaftler beschäftigen sich mit dem mysteriösen Tierwesen aus der Anfangszeit der Kultur. Museen und Ausstellungshäuser reißen sich um die zu diesem Zeitpunkt nicht einmal 30 Zentimeter hohe Figur – und sind schon zufrieden, wenn sie eine der Repliken zeigen können. Esoteriker suchen das spirituelle Geheimnis der nach Meinung von Experten wohl tatsächlich religiös genutzten Statuette zu ergründen. Der Löwenmensch wird zum Star, nicht nur in der Fachwelt.

    Die Ulmer hingegen werden nicht so recht warm mit der eiszeitlichen Chimäre. Noch 2008 stören sich die Bürger an der „Hommage an den Löwenmensch“ des Künstlers Ralf Milde, der mannshohe, bunt gestaltete Nachbildungen der Figur in der Stadt verteilte. Der Titel einer von Archäologe Wehrberger dieses Jahr zusammengestellten Studio-Ausstellung fasst die lange Zeit gängige Meinung in Ulm zusammen: „Den kennt doch keiner!“

    Das Abenteuer nimmt 2008 eine unerwartete Wendung

    Mit der groß inszenierten „Rückkehr des Löwenmenschen“ dürfte sich dies ändern – erlaubt doch die Ausstellung einen Blick auf die Figur, der bisher unmöglich war. Denn das Abenteuer Löwenmensch endet keineswegs mit der ersten Rekonstruktion, sondern erfährt 2009 eine unerwartete Wendung: Ein Team unter Leitung des Archäologen Claus-Joachim Kind entdeckt knapp 30 Meter vom Eingang der Höhle entfernt den Abraum der Wetzel’schen Grabungen von 1939 – und darin mehrere hundert Elfenbeinfragmente, die eindeutig zum Löwenmenschen gehören.

    Das Puzzlespiel beginnt von Neuem: Die Restauratorin Nicole Ebinger-Rist und ihre Mitarbeiter zerlegen im Esslinger Landesamt für Denkmalpflege die Figur wieder in ihre Einzelteile und fügen die neuen Bruchstücke hinzu. Ein großes Puzzlespiel. Neben den noch immer erheblichen Lücken ist vor allem das Material eine Herausforderung: Sibylle Wolf, die seit Jahren über Mammutelfenbein und seine besonderen Eigenschaften forscht, unterstützt die Restaurierung. Füllender Kitt kommt bei der neuen Rekonstruktion nicht mehr zum Einsatz. Wo Lücken sind, bleiben sie erkennbar. Doch durch die neuen Teile ist die Figur erstmals auch ohne zusätzliche Stütze stabil.

    Die Arme sind nun richtige Pranken

    Von seiner Niedlichkeit hat der Löwenmensch allerdings in seiner neuen Fassung einiges eingebüßt. Archäologe Kurt Wehrberger: „Er ist jetzt auf jeden Fall löwiger geworden.“ Die Arme seien nun richtige Pranken, auch Brustkorb und Schultern erinnerten nun noch mehr an ein Raubtier als an einen Menschen. Er befindet sich in guter Gesellschaft: Denn die Ausstellung im Ulmer Museum zeigt eine ganze eiszeitliche Tierschau – unter anderem Löwen und einen Fisch aus der Vogelherdhöhle. Die Schau stehlen sie dem Gastgeber aber nicht, wie Kurator Wehrberger sagt: „Der Löwenmensch ist der Chef der Rasselbande.“

    Ein Lob, über das der Eiszeit-Star selbst nur milde lächeln kann.

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