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Zwischenbilanz: 100 Tage Große Koalition: Ein Start mit Hindernissen

Zwischenbilanz

100 Tage Große Koalition: Ein Start mit Hindernissen

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    Sigmar Gabriel ist damit zufrieden, wie die SPD in die Große Koalition gestartet ist.
    Sigmar Gabriel ist damit zufrieden, wie die SPD in die Große Koalition gestartet ist. Foto: Carmen Jaspersen/Archiv (dpa)

    Sigmar Gabriel ist zufrieden. Die SPD sei gut in die Große Koalition gestartet, hat der Parteichef seinen Abgeordneten gerade erklärt. „Das soll uns erst mal einer nachmachen.“ Das hohe Tempo, das die Genossen anschlagen, zahlt sich bisher jedoch nicht so richtig aus.

    In den Umfragen liegt die SPD leicht unter ihrem Ergebnis bei der Bundestagswahl von 25,7 Prozent. Am Mittwoch ist die neue Regierung genau 100 Tage im Amt – traditionell der Zeitpunkt für eine erste Bilanz.

    Die ersten Reformen

    Es sind vor allem Sozialdemokraten, die ihre Beamten auf Trab halten. Sozialministerin Andrea Nahles hatte bereits im Januar den Entwurf für ihre Rentenreform fertig, zu der neben höheren

    Beim Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde hat sich ebenfalls die SPD durchgesetzt und lediglich für Minderjährige, Praktikanten und Langzeitarbeitslose Ausnahmen vorgesehen – hier sieht die Union allerdings noch Korrekturbedarf.

    Die SPD-Minister in der neuen großen Koalition

    WIRTSCHAFTS- UND ENERGIEMINISTERIUM, VIZEKANZLER: SIGMAR GABRIEL: 2009 wurde er jüngster Parteichef seit Willy Brandt. Der gelernte Lehrer war zudem mit 40 Jahren in Niedersachsen jüngster deutscher Ministerpräsident (1999-2003). Von 2005 bis 2009 erwarb er sich als Bundesumweltminister Ansehen und Expertise im Bereich erneuerbare Energien. Ein politisches Naturtalent und begabter Redner, der aber auch als launisch gilt. Kommt aus sogenannten schwierigen Verhältnissen, das hat ihn tief geprägt. Der Vater war überzeugter Nazi, Gabriel musste gegen seinen Willen nach der Trennung der Eltern zeitweise beim Vater leben. Lebt mit seiner zweiten Frau, einen Zahnärztin, und seiner kleinen Tochter in Goslar.

    AUSSENMINISTERIUM: FRANK-WALTER STEINMEIER: Kanzleramtschef zu rot-grünen Zeiten, strickte für Gerhard Schröder an der «Agenda 2010» mit. Dann wurde der Jurist geachteter Außenminister (2005 bis 2009). Er ist stets exzellent vorbereitet, bürgernah, humorvoll. Seitdem der Westfale und Schalke-04-Fan in Brandenburg seinen Wahlkreis hat, ist die Region seine zweite Heimat geworden. Bei der Bundestagswahl gewann er das einzige Direktmandat der SPD im Osten. Steinmeier ist verheiratet mit einer Verwaltungsrichterin, der er eine Niere spendete, beide haben eine Tochter.

    JUSTIZMINISTERIUM: HEIKO MAASS: Der ehemalige Zögling des früheren SPD-Chefs Oskar Lafontaine ist die größte Überraschung bei der Neuverteilung der Posten auf SPD-Seite. Bislang war der Marathonläufer und Triathlet in der Landespolitik aktiv - seit anderthalb Jahren auch mit Erfahrung in einer großen Koalition. Seit Mai 2012 ist er Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister. Zuvor war er an der Saar schon einmal Umweltminister - damals als jüngster Minister Deutschlands überhaupt. Für sein neues Amt kann Maaß ein abgeschlossenes Jurastudium vorweisen. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

    UMWELTMINISTERIUM: BARBARA HENDRICKS: Wacht seit 2007 über die Finanzen der Sozialdemokraten, oft unterschätzt. Sie sitzt seit 1994 im Bundestag und war Parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium von 1998 bis 2007. Mit 20 Jahren in die SPD eingetreten, studierte Hendricks Geschichte und Sozialwissenschaften, mit Staatsexamen für das Lehramt. Sie liebt ihre Heimat, den Niederrhein, promovierte über «Die Entwicklung der Margarine-Industrie am unteren Niederrhein». Hendricks würde die NRW-SPD im Kabinett vertreten.

    ARBEITS- UND SOZIALMINISTERIUM: ANDREA NAHLES: Die Literaturwissenschaftlerin ist seit 2009 Generalsekretärin. Sie hat erst den Wahlkampf organisiert, dann die Koalitionsverhandlungen, schließlich den Mitgliederentscheid über die große Koalition. Zeit für ihre kleine Tochter Ella Maria und ihren Mann daheim auf einem Hof in der Eifel hat sie zurzeit wenig. «Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so zufrieden», sagte sie nach ihrer Elternzeit. Die frühere Juso-Chefin zählt längst nicht mehr zu den Parteilinken. Intern ist sie nicht unumstritten, wurde zuletzt mit schlechtem Ergebnis wiedergewählt. Hat vehement für den Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gekämpft.

    FAMILIENMINISTERIUM: MANUELA SCHWESIG: Sie ist das «Gesicht» der ostdeutschen SPD mit einer Blitzkarriere seit ihrem Parteieintritt 2003. Die gebürtige Brandenburgerin studierte Steuerrecht und folgte ihrem Mann, mit dem sie einen Sohn hat, nach Schwerin. 2002 bis 2008 arbeitete sie dort im Finanzministerium. 2008 übertrug Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) der damals 34-Jährigen Diplom-Finanzwirtin das Sozialressort. Seit 2009 ist sie auch SPD-Vize. Als Ministerin könnte Schwesig auch für das von der SPD heftig bekämpfte Betreuungsgeld zuständig sein.

    Auch Justizminister Heiko Maas (SPD) hat zwei Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag schon mehr oder weniger kabinettsreif: die sogenannte Mietpreisbremse und die Frauenquote für Aufsichtsräte, die er heute vorstellen will.

    Auf der Seite der Union schafft vor allem Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Fakten: Sie will die Bundeswehr familienfreundlicher machen und den Rüstungssektor neu ordnen.

    Finanzminister Wolfgang Schäuble freut sich über den Haushalt 2015, der ohne neue Schulden auskommen soll. Dazu muss der Bund jedoch die Zuschüsse an die Sozialkassen kürzen und die Erhöhung des Kindergeldes verschieben.

    Der Fall Edathy

    Normalerweise dienen die ersten 100 Tage in einer Koalition dazu, Vertrauen aufzubauen und eine gewisse Selbstverständlichkeit im Umgang miteinander zu entwickeln.

    Seit bekannt wurde, dass der frühere SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy bei einem einschlägig bekannten Anbieter Bilder von nackten Kindern bezogen hat, ist nun aber das Gegenteil der Fall: Die Koalitionäre misstrauen sich.

    Der frühere Innenminister Hans-Peter Friedrich musste als Agrarminister zurücktreten, weil er Gabriel über den Verdacht gegen Edathy informiert und so gegen seine Verschwiegenheitspflicht verstoßen hatte.

    Chronologie: Die Affäre Edathy

    2012: Die kanadische Polizei informiert das Bundeskriminalamt über deutsche Kunden eines kanadischen Online-Shops, der auch Kinderpornografie vertreibt. Im Oktober 2012 gibt das BKA die Daten zur Auswertung an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt.

    Oktober 2013: BKA-Chef Jörg Ziercke informiert den Staatssekretär des damaligen Innenministers Hans-Peter Friedrich (CSU). Der sagt SPD-Chef Gabriel, dass im Rahmen von Ermittlungen im Ausland der Name Edathy aufgetaucht sei. Gabriel erzählt Fraktionschef Steinmeier davon.

    5. November 2013: Der Leiter der Staatsanwaltschaft Hannover, Jörg Fröhlich, erfährt in einem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Celle erstmals von dem Verdacht.

    Anfang Januar 2014: Edathy meldet seiner Fraktion seine Krankschreibung. Ende November 2013 hatte der innenpolitische SPD-Fraktionssprecher Michael Hartmann Oppermann bereits darüber informiert, dass Edathy gesundheitliche Probleme habe.

    22. Januar 2014: Edathys Anwalt sucht das Gespräch mit Oberstaatsanwalt Thomas Klinge. Dabei wiederholt er, was sein Mandant gerüchteweise gehört habe. "Die Filme seien allerdings nicht pornografisch gewesen, Herr Edathy besitze sie auch nicht mehr", sagt der Anwalt nach Darstellung Jörg Fröhlichs.

    28. Januar 2014: Die Staatsanwaltschaft entscheidet, Ermittlungen einzuleiten, die zunächst verdeckt laufen.

    7. Februar 2014: Edathy legt nach 15 Jahren sein Bundestagsmandat nieder. Als Motiv nennt er gesundheitliche Gründe.

    10. Februar 2014: Die Staatsanwaltschaft Hannover lässt Edathys Wohnungen im niedersächsischen Rehburg und in Berlin sowie Büros durchsuchen. Offenbar stoßen sie dabei nur auf wenig Material.

    11. Februar 2014: Edathy weist in einer Erklärung den Verdacht auf Besitz von Kinderpornografie zurück. Einen Tag später erhebt er Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft: Die Razzien in seinen Wohnungen und Büros seien unverhältnismäßig und widersprächen rechtsstaatlichen Grundsätzen.

    13. Februar 2014: SPD-Fraktionschef Oppermann gibt bekannt, dass Sigmar Gabriel bereits im Oktober vom damaligen Innenminister Friedrich über mögliche Ermittlungen gegen Edathy informiert worden sei.

    14. Februar 2014: Der Leiter der Staatsanwaltschaft Hannover, Fröhlich, gibt Einzelheiten zu den Ermittlungen bekannt. Danach geht es um den Kauf von Bildern mit nackten Jungen zwischen neun und 13 Jahren. Das liege im Grenzbereich zur Kinderpornografie, so Fröhlich. Zu dem Tipp von Friedrich an Gabriel sagt er: "Wir sind fassungslos."

    14. Februar 2014: Friedrich erklärt, er wolle im Amt bleiben, bis über ein Ermittlungsverfahren entschieden ist. Nur wenige Stunden später tritt er als Agrarminister zurück.

    18. Februar 2014: Die Staatsanwaltschaft Hannover leitet ein Verfahren gegen unbekannt wegen des Verdachts auf Geheimnisverrats ein. Ein Behörden-Brief kam unverschlossen sechs Tage nach Versand an. Er sollte den Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) über den Fall Edathy informieren. Es ist bekannt, dass sich ein Anwalt Edathys schon im November nach möglichen Ermittlungen erkundigt hat.

    24. Februar 2014: Gegen Edathy wird ein SPD-Parteiordnungsverfahren eingeleitet.

    2. Mai 2014: Es wird vom Landeskriminalamt Niedersachsen berichtet, dass sich Edathy strafbares kinderpornografisches Material über seinen Bundestag-Laptop beschafft habe. Die Staatsanwaltschaft schweigt.

    17. Juli 2014: Die Staatsanwaltschaft Hannover klagt den früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy wegen des Besitzes von kinderpornografischen Fotos und Videos an.

    29. August 2014: Edathy scheitert mit seiner Beschwerde wegen der Durchsuchung seiner Wohnung und seines Abgeordnetenbüros beim Bundesverfassungsgericht.

    18. November 2014: Das Gericht lässt die Anklage gegen Edathy zur Hauptverhandlung zu.

    23. Februar 2015: Am Landgericht Verden startet der Prozess gegen Edathy. Er endet nach nur rund 90 Minuten. Staatsanwaltschaft und Verteidigung wollen bis zur nächsten Sitzung erneut über eine Einstellung sprechen.

    2. März 2015: Das Gericht stellt das Verfahren ein. Zuvor hat Edathy eine Erklärung verlesen lassen, in der er die Anklagevorwürfe einräumt. Zwar muss er 5000 Euro zahlen, aber er ist nicht vorbestraft.

    1. Juni 2015: Edathy muss seine SPD-Mitgliedschaft drei Jahre ruhen lassen. Das entscheidet das Schiedsgericht des SPD-Bezirks Hannover. Für einen von der Parteispitze beantragten Parteiausschluss sieht das Gremium keine ausreichende Grundlage.

    SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann dagegen durfte bleiben, obwohl er es war, der den Vorgang publik gemacht und Friedrich damit in den Rücktritt getrieben hatte. Dass er selbst sich später als „Stabilitätsanker“ der Koalition beschrieb, nimmt ihm die Union bis heute übel.

    Die größten Konflikte

    Die Rente mit 63 und den Mindestlohn trägt die Union murrend mit, bei der doppelten Staatsbürgerschaft dagegen will sie es auf eine Kraftprobe ankommen lassen.

    Nach dem Willen von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) müssen Kinder von ausländischen Eltern in Deutschland geboren und aufgewachsen sein, um als Erwachsene beide Staatsbürgerschaften behalten zu können – die deutsche und die ihrer Eltern.

    Die SPD dagegen verlangt eine deutlich liberalere Regelung. Auch bei der Energiewende liegen die Positionen noch weit auseinander, wobei die Konfliktlinie hier nicht zwischen Union und SPD verläuft, sondern zwischen dem Süden und dem Norden.

    Bayern kämpft für die Biomasse, Schleswig-Holstein für die Windkraft – und Wirtschaftsminister Gabriel an allen Fronten gleichzeitig. Auch die Suche nach einem Endlager für Atommüll kommt nicht wirklich voran.

    Gewinner und Verlierer

    Gestern noch in Kiew, heute schon in Addis Abeba: Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist der gegenwärtig populärste Minister, was nicht nur mit der Krim-Krise zu tun hat, sondern auch mit seiner ruhigen, sachlichen Art – im Politbarometer des ZDF liegt er direkt hinter Angela Merkel.

    Durch überdurchschnittlichen Einsatz sind in den ersten 100 Tagen vor allem Andrea Nahles, Ursula von der Leyen und Sigmar Gabriel aufgefallen, auch der neue Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hat sich schnell in sein Metier eingearbeitet und viele Skeptiker Lügen gestraft.

    Nicht ganz so rund läuft es bei Familienministerin Manuela Schwesig: Kaum im Amt, produzierte sie schon den ersten Koalitionskrach – mit der Forderung nach einer 32-Stunden-Woche für junge Eltern, bei der der Staat einen Teil der Lohnausfälle übernimmt.

    Verkehrsminister Alexander Dobrindt sucht noch einen Weg aus der Maut-Falle. Er ist bisher vor allem als Auslöser eines parteiinternen Zwists aufgefallen, als er sich an Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt vorbei zu Horst Seehofers Statthalter in Berlin erklärte.

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