Die Welt blickt verstört auf Moskau, das an diesem Dienstag den 78. Jahrestag des Sieges der Sowjetarmee über Nazi-Deutschland feiert. Denn die Begleitmusik ist schrill. Präsident Wladimir Putin hat das Land in ein großes Gefängnis verwandelt. Kritiker werden zu irrwitzig hohen Haftstrafen verurteilt, wenn sie nicht zuvor vergiftet oder gar ermordet werden. Nach dem Beginn des offenen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 werden die letzten Protagonisten einer freien Gesellschaft mundtot gemacht. Doch der Anführer einer Söldnertruppe kann ungestraft in übelster Gossensprache gegen die Militärführung pöbeln, gar mit dem Abzug seiner Soldateska aus Bachmut drohen.
Der tobende Jewgeni Prigoschin wird nicht etwa verhaftet oder in die Schranken verwiesen. Im Gegenteil, seine Truppe erhält mehr Munition. Die Anspannung in Erwartung einer ukrainischen Offensive ist gewachsen. Also bleibt die Miliz, die zu einem guten Teil mit Strafgefangenen besetzt ist und bereits viele tausend Männer verloren hat, doch an der Front.
CDU-Außenpolitikexperte Kiesewetter: Jeder will die Schuld für das militärische Scheitern von sich weisen
"Wir sehen Machtkämpfe zwischen Prigoschin und Verteidigungsminister Schoigu sowie Generalstabschef Gerassimow. Dabei geht es letztlich darum, Schuld für das militärische Scheitern der Russen bei vergangenen und laufenden Operationen von sich zu weisen", sagte der CDU-Experte für Außenpolitik, Roderich Kiesewetter, im Gespräch mit unserer Redaktion. Das sei insofern für die Ukraine gefährlich, als es immer undurchschaubarer wird, "wer, wann, wo, wie aktiv ist". Kiesewetter hält es für möglich, dass eben diese Machtkämpfe ein Zeichen dafür sein könnten, dass "die Militärs – die die desolate Lage Russlands ja kennen – sich auf eine mögliche Niederlage vorbereiten".
Wagner ist nicht die einzige Privatarmee in diesem Krieg. Als schlagkräftig und professionell gelten die Männer des Militärunternehmens "Patriot", dem enge Kontakte mit dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu nachgesagt werden. Auch der tschetschenische Alleinherrscher Ramsan Kadyrow verfügt über eine auf ihn ausgerichtete Streitmacht. Er hatte angeboten, seine Truppe "Achmat" nach Bachmut zu schicken, falls Prigoschin seine Kämpfer tatsächlich zurückpfeifen sollte. Genau dieses Angebot könnte den Wagner-Chef bewogen haben, seine Männer doch in der umkämpften ukrainischen Stadt zu belassen – unter den Privatarmeen herrscht Konkurrenz, es geht um Geld und Einfluss.
Kiesewetter ist davon überzeugt, dass Putin diese Konstellation geschickt ausnutzt, um seine Macht zu festigen. Das sei für ihn auch notwendig, denn "die Schlacht um Bachmut als symbolischer Ort konnte bislang nicht gewonnen werden, vielmehr hielt die Ukraine erfolgreich stand und fügte den russischen Angreifern hohe Verluste zu."
Das Schweigen Putins nach dem rätselhaften Drohnenangriff auf den Kreml, den Moskau als Anschlag auf das Leben des Diktators verkauft, löste Spekulationen aus, ob die Autorität des Präsidenten angeschlagen sein könnte. Daran glaubt Kiesewetter nicht. Der Machtapparat sei komplett auf die Person Putin ausgerichtet, es herrsche eine Angst- und Gewaltherrschaft. "Ich sehe leider nicht, dass er absteigt", sagte der Bundestagsabgeordnete. Gefährlich könne es für den Kreml-Chef dann werden, wenn es der Ukraine gelänge, die Krim zurückzuerobern. "Daran hängt Putins Schicksal."
Kiesewetter: Alles an Waffensystemen liefern, was "völkerrechtlich zulässig" ist
Kiesewetter fordert Deutschland und die westlichen Partner auf, gerade jetzt "ein Zeichen der Stärke" zu senden, und alles an Waffensystemen zu liefern, "was völkerrechtlich zulässig" sei – konkret "weitreichende Munition, Kurzstreckenraketen" oder "F16-Kampfjets." Ferner müsse ein klares Zeichen für die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine erfolgen, sobald es die Sicherheitslage zulasse.
Ob angesichts der nach der Drohnen-Attacke angespannten Situation in Moskau die große Militärparade am Dienstag stattfindet, war zuerst unklar. Nun steht fest, die Marschgeräusche werden wie jedes Jahr über den Roten Platz hallen. Putin wird sprechen. Andere Programmpunkte wurden gestrichen.
In Berlin entzündete sich eine Debatte, ob es angemessen sei, dass deutsche Politiker mitten im Ukraine-Krieg Kränze für die Toten der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg niederlegen. Kiesewetter hat dazu eine klare Haltung: "Nein. Es ist vor allem die Ukraine, die große Opfer während des Zweiten Weltkriegs erleiden musste und jetzt erneut große Opfer durch den genozidalen Angriffskrieg Russlands erleidet." Besser sei es, wie der ukrainische Botschafter, Oleksii Makeiev, und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Kai Wegner (CDU), einen Kranz an der Neuen Wache in der Hauptstadt niederzulegen, der zentralen Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.