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Zwangsverheiratung in Deutschland: Eine Betroffene erzählt

Zwangsehen fallen nicht auf, geschehen meist still. Manchmal im Sommerurlaub. Darauf wies NRW-Gleichstellungsministerin Ina Scharrenbach (CDU) 2021 mit der Kampagne "Sommer, Sonne, Zwangsheirat" hin.
Zwangsverheiratung

In den Sommerferien verschleppt – die Geschichte einer Betroffenen

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    Immer wieder entdeckt Aylin, 25, in Menschenmengen das Gesicht ihres Vaters, ihrer Mutter, ihres Onkels in der deutschen Stadt, in der sie lebt. "Das ist Einbildung, ich weiß", sagt sie. Häufig verspüre sie dann Panik, die sich an ihr festsaugt wie ein Blutegel. Seit sie vor fünf Jahren aus einer Zwangsehe in der Türkei ausgebrochen ist, wacht sie nachts oft schreiend auf. Inzwischen seltener, aber das hat gedauert. 

    Deutschlandweit werden zahlreiche Menschen aus Familien mit patriarchalen Strukturen zwangsverheiratet. Manche Betroffene werden dafür auch in die Herkunftsländer ihrer Eltern verschleppt – überwiegend von der eigenen Familie. Meistens sind es junge Frauen mit Migrationshintergrund, in

    Vor allem im Sommer steigt die Gefahr einer Zwangsverheiratung: mehrere Wochen Ferien, vielleicht ist die Schule oder Ausbildung abgeschlossen oder ein längerer Urlaub geplant. Womöglich vermisst die jungen Frauen danach kaum jemand, wenn sie im Ausland festgehalten werden; wenn sie in Deutschland nur noch zum Einkaufen aus dem Haus dürfen. Oder wenn sie tot sind, weil sie sich einer Zwangsehe widersetzt haben. 

    Eine Anwältin, die für den Verein Peri arbeitet, besucht die Beerdigung von Arzu Özmen. Sie wurde 2011 im Alter von 18 Jahren von einem ihrer Brüder ermordet, weil sie einen deutschen Freund hatte.
    Eine Anwältin, die für den Verein Peri arbeitet, besucht die Beerdigung von Arzu Özmen. Sie wurde 2011 im Alter von 18 Jahren von einem ihrer Brüder ermordet, weil sie einen deutschen Freund hatte. Foto: Peri e.V.

    In Deutschland sind die Zwangsverheiratung, die Verschleppung und der Versuch seit 2011 ein eigener Straftatbestand. Bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe sind möglich. Betroffene zeigen erzwungene Ehen aus Angst jedoch selten an. 

    Aylin hatte bei ihrer Flucht viel Unterstützung. Und viel Glück. Nun nimmt sie sich eineinhalb Stunden Zeit und erzählt am Telefon ihre Geschichte. Es ist ein heikles Gespräch. Weder ihr richtiger Name darf in der Zeitung oder online auftauchen, noch ihr Beruf oder aktueller Wohnort. Damit aus Schutzmauern keine Kerkermauern werden. Zu groß wäre die Gefahr, dass ihre Familie sie aufspürt. Ihr Gewalt antut. Sie womöglich sogar umbringt. Häufig sind patriarchalisch geprägte Familien deutschlandweit in Clans vernetzt und fahnden nach den jungen Frauen, wenn sie fliehen. Manchmal tauchen Familienmitglieder plötzlich am neuen Wohnort der Frauen auf – mit Pistolen bewaffnet. 

    Direkt nach der Flucht hat Aylin ihr Kopftuch abgelegt

    Aylins Handynummer und Chatverläufe werden nach der Veröffentlichung dieses Textes gelöscht. Auch ihr Aussehen bleibt unbekannt. Was Aylin preisgeben möchte: Sie hat lange braune Haare und dunkelbraune Augen. Ihr Kopftuch, sagt sie, habe sie direkt nach der Flucht abgestreift – und seither nicht mehr getragen. 

    Bislang schiebt die Politik das Thema Zwangsverheiratung zur Seite, auch wenn sie Gegenteiliges sagt. Zahlen dazu, wie viele Menschen – insbesondere Frauen – in Deutschland betroffen oder gefährdet sind, stammen aus dem Jahr 2008. Damals hatten sich 3443 Personen bei Hilfsorganisationen beraten lassen, die an einer Studie teilgenommen hatten. Klar ist: Die Dunkelziffer der Fälle von Zwangsverheiratung dürfte sehr viel höher gewesen sein. Eine Anfrage an das Bundesfamilienministerium vor mehreren Wochen bleibt unbeantwortet: Ob es aktuellere Zahlen gebe? Und wenn nein, warum diese nicht erhoben würden? Keine Reaktion. 

    Dabei wären aktuelle, repräsentative Daten und Zahlen dringend nötig, um die Präventionsarbeit voranzutreiben, sagt Elisabeth Gernhardt von der Frauenrechtsorganisation Terre de Femmes (TDF). Sie setzt sich für ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben von Mädchen und Frauen weltweit ein. Seit vielen Jahren fordert TDF eine aktuelle bundesweite wissenschaftliche Folgestudie, die zeigen würde: In diesen Bundesländern oder Regionen sind junge Frauen besonders betroffen oder gefährdet. Dies würde helfen, um gezielte Unterstützung anzubieten, hauptsächlich auch in Form von Beratungsangeboten an Schulen. Denn sie sind oft die einzigen Orte, an denen gefährdete Mädchen außerhalb der Familie sein dürfen. 

    Seit 2018 unterstützt Serap Çileli mit ihrem Verein "Peri" Betroffene

    Auch Serap Çileli, 57, leistet Präventionsarbeit an Schulen, berät aber auch Betroffene. Mit ihrem Verein "Peri" (auf Deutsch: "Die gute Fee") engagiert sie sich seit 2008 für den Schutz und die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund. Pro Jahr melden sich im Schnitt an die 80 Menschen bei ihr. Çileli hat Aylins Flucht aus der Türkei organisiert. Seit Jahren verhindert sie Zwangsverheiratungen in Deutschland, immer wieder aber auch im Ausland. Oft unterstützt sie Betroffene jahrelang. Viele nennen sie "Schwester", "Tante" oder "Freundin". 

    Serap Çileli (rechts) unterstützt seit vielen Jahren Menschen, die von Zwangsheirat betroffen oder bedroht sind. Mehrheitlich sind es Frauen.
    Serap Çileli (rechts) unterstützt seit vielen Jahren Menschen, die von Zwangsheirat betroffen oder bedroht sind. Mehrheitlich sind es Frauen. Foto: Peri. e.V.

    An sieben Tagen die Woche hat sie ihr Handy 24 Stunden lang laut gestellt. Çileli hört zu, entwickelt Fluchtpläne, organisiert Wohnungen oder Patenfamilien, beantragt neue Sozialversicherungsnummern oder Namensänderungen. Überwiegend Frauen melden sich bei ihr. Häufig haben sie Abitur und ein abgeschlossenes Studium. Je besser die Bildung, desto mehr Mitgift könne die Familie verlangen, sagt Çileli. Entgegen vieler Vorurteile gebe es Zwangsverheiratung in jeder sozialen Schicht. Häufig würden die Frauen auch kein Kopftuch tragen. 

    Inzwischen arbeiten knapp hundert Menschen ehrenamtlich für Peri. Psychologen, Rechtsanwältinnen, Sozialarbeiter und Ärztinnen etwa. Von staatlicher Seite erhält der Verein kein Geld und ist auf Spenden angewiesen. Diese sind nötig für Zimmer in Frauenhäusern oder eigene Wohnungen. Für Essen, Kleidung, Medikamente. 

    Aylin denkt an einen Familienbesuch, aber sie wird verschleppt

    Aylin ist in Deutschland geboren und zur Schule gegangen, hat hier eine Ausbildung begonnen. Als in den Sommerferien das Flugzeug in die Türkei abhebt, ist sie 20 Jahre alt. Sie denkt, ein Besuch im Bergdorf ihrer Großeltern stehe an. Nie hatten ihre Eltern von einer Hochzeit gesprochen; immer wieder bekräftigten sie: Wir lehnen Zwangsverheiratung ab, in unserer Familie wird es das nicht geben. 

    "Sie haben Sachen getan, die in Deutschland verboten wären. Aber in der Türkei kann man alles machen. Und dagegen wird nichts unternommen."

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    In der Türkei entreißen ihre Eltern ihr den deutschen Pass, zwingen sie, bei der Polizei ein Dokument zu unterschreiben, in dem steht, sie wolle nicht mehr zurück nach Deutschland. Sie sagt, dass sie nicht heiraten möchte – nicht so jung, nicht in der Türkei und schon gar keinen Mann, für den sie keine Gefühle habe. Das Gespräch eskaliert, ihre Eltern brüllen. Die Frage, ob sie auch Gewalt erfahren habe, bejaht sie nach einem Zögern. "Sie haben Sachen getan, die in Deutschland verboten wären. Aber in der Türkei kann man alles machen. Und dagegen wird nichts unternommen."

    Im Haus ihrer Großeltern schrubbt sie die Küche, bekocht die Familie, melkt die Kühe. Ihre Eltern sind wieder in Deutschland, erwarten von ihr, dass sie Kontakt zu ihnen hält. Die Verwandtschaft vor Ort kontrolliert täglich: Ist Aylin komplett verschleiert, bevor sie das Haus verlässt? Antwortet sie der Familie in Deutschland? Blitzen die Böden? Sie sagt, sie habe sich gefühlt, wie in Ketten. Noch mehr als in Deutschland. 

    Dort trug sie bereits als Neunjährige ein Kopftuch, durfte nur weite Kleidung anziehen und musste nach der Schule oder Ausbildung direkt nach Hause. Verspätete sie sich, ploppte auf ihrem Handy sofort eine Nachricht auf: "Wo bist du? Komm sofort nach Hause!" Bis auf eine Freundin bleibt niemand. Andere wollten nicht viel mit ihr zu tun haben. Sie fragt: "Wie auch, wenn ich nie dabei sein durfte?"

    Direkt nach der Hochzeit plant Aylin ihre Flucht aus der Türkei

    Für die Hochzeit in der Türkei reisen viele Gäste an, gratulieren, beschenken Aylin mit Goldschmuck. Ihr fehlen an diesem Tag die Worte. Sie sagt, sie habe nur dagesessen und gehofft, dass irgendjemand an ihrem Gesicht abliest: Sie will diesen Mann nicht. Sie fühlt sich verraten von ihren Eltern, ihren Großeltern, auch von ihrer Tante, die sich zunächst gegen die Zwangsverheiratung gestellt hatte, dann aber eingeknickt war. 

    Nach der Hochzeit zieht Aylin in das dreistöckige Haus ihres Mannes, in dem er mit seinen Eltern, dem Bruder und dessen Frau in einer größeren Stadt weiter entfernt wohnt. Sie muss mit ihm in einem Bett schlafen, dafür sorgen, dass auch dieses Haus blitzt. Direkt nach der Hochzeit beschließt sie: bloß weg von hier. Sie will nicht enden wie ihre Schwägerin, die das Haus kaum verlassen darf, schnell Kinder bekommen hat, kein Geld verdienen kann. Mehrmals fliegt Aylins Vater in die Türkei, um zu prüfen, dass sie "nichts Dummes" macht und sich den Befehlen ihres Mannes und seiner Familie fügt.

    Aylin sagt, es sei vor allem ihre Mutter gewesen, die die Zwangsheirat vorangetrieben und bestimmt habe, wie die Tochter sich kleidet und welche Bücher sie liest. Aylin vermutet: Ihre Mutter gibt ihr, der Ältesten, die Schuld an einem Leben, das sie sich anders gewünscht hätte. Weil sie nicht so schnell schon Mutter werden wollte. Aylins Vater hat einmal erzählt, dass die Ehe ihrer Eltern erzwungen worden sei, als beide noch sehr jung waren. 

    Vor allem Frauen aus patriarchalisch geprägten Familien sind gefährdet, gegen ihren Willen verheiratet zu werden.
    Vor allem Frauen aus patriarchalisch geprägten Familien sind gefährdet, gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Foto: Peri. e.V. (Symbolbild)

    Da Aylins Mann viel arbeitet, ist sie tagsüber meist allein. Immerhin wird ihr Handy diesmal nicht kontrolliert. Ihre Freundin in Deutschland hat recherchiert und empfiehlt ihr, Serap Çileli zu schreiben. "Das war so ein schönes, überwältigendes Gefühl", sagt Aylin. Zum ersten Mal habe sie sich verstanden gefühlt. 

    Çileli kontaktiert die deutsche Botschaft, beantragt für Aylin einen vorläufigen Pass, kauft ein Flugticket, organisiert Plätze in Frauenhäusern.

    "Wo bist du?" – "Komm sofort zurück!" – "Das wirst du bereuen."

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    Ein halbes Jahr später. Aylin wartet, bis ihr Mann morgens zur Arbeit geht, schnappt ihre Tasche, in die sie ein paar Kleider und Waschsachen gestopft hat. Außerdem: Geld und den Goldschmuck. Ihr Herz hämmert, als sie das Haus im Dunkeln verlässt. Haben ihre Schwiegereltern etwas bemerkt? Oder die Nachbarn sie beobachtet? Sie steigt in einen Bus, der sie in die Großstadt bringt, in der sich die deutsche Botschaft befindet. Dort schläft sie ein paar Tage in einem Frauenhaus, bis alle Formalitäten geregelt sind. Immer wieder surrt ihr Handy. "Wo bist du?" – "Komm sofort zurück!" – "Das wirst du bereuen." 

    Am Flughafen in der Türkei hält die Polizei sie zunächst auf

    Die Polizeibeamten am Flughafen akzeptieren ihren provisorischen Pass erst nicht, herrschen sie an, dass sie nicht ausreisen dürfe, weil sie gesucht werde. Einer von ihnen zeigt auf ein Plakat, auf dem das Foto einer jungen Frau zu sehen ist. "Das war’s jetzt", denkt Aylin. Sie streitet ab, die Frau auf dem Foto zu sein. Ob auf dem Fahndungsplakat tatsächlich ein Foto von ihr zu sehen war? Sie weiß es nicht. Zu durcheinander sei sie gewesen. Warum die Beamten sie letztendlich gehen ließen? Daran erinnert sie sich nicht mehr. Sie sagt, sie habe den Eindruck, vieles verdrängt zu haben. 

    Heute wohnt Aylin mit ihrem Freund zusammen. Seit drei Jahren sind sie ein Paar. Anfangs erzählt sie ihm nichts von der Zwangsehe, die inzwischen geschieden werden konnte. Nach und nach spricht sie dann über ihre Vergangenheit. Er hört zu, hat Verständnis. Mittlerweile hat sie ihre zweite Ausbildung beendet und arbeitet in einem anderen Beruf. Weg sei die Panik nicht. Aber Aylin verbringt so viel Zeit wie möglich in der Natur, trifft Freundinnen, geht arbeiten. 

    Sie sagt, wenn sie auf der Straße Familien Türkisch sprechen höre, die Menschen zusammen lachen sehe, dann spüre sie jedes Mal einen Stich in der linken Brust. Denn sie weiß: Der Kontaktabbruch zu ihrer Familie ist endgültig. 

    Unter anderem hier finden Betroffene von Zwangsverheiratung Hilfe:

    Peri e.V. – Verein für Menschenrechte und Integration für Menschen mit Migrationshintergrund: https://www.peri-ev.de/ 

    Bundesweites Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen": 0800 116 016 (kostenlos, rund um die Uhr und anonym erreichbar).

    Einen freien Frauenhausplatz für Frauen über 18 Jahren ist bundesweit hier zu finden: www.frauenhaus-suche.de.

    Männliche Betroffene können sich an das Hilfetelefon "Gewalt an Männern" wenden: 0800 123 9900 (kostenlos und anonym erreichbar). Kontakt per E-Mail an beratung@maennerhilfetelefon.de. 

    Sprechzeiten sind Mo bis Do: 9 – 13 Uhr und 16 – 20 Uhr sowie Fr: 9 – 15 Uhr.

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