Viele Kommunen im Südwesten befürchten nach Veröffentlichung erster Zensus-Daten Einbußen in ihren Haushalten. Der Städtetag spricht von teils unerklärlichen Einwohnerverlusten bei der Volkszählung vor zwei Jahren im Vergleich zur bisherigen Bevölkerungszahl. «Sie belaufen sich auf bis zu fast 15 Prozent und führen zu schmerzlichen Einbußen in den Etats mancher Gemeinde», erläuterte Verbandsexperte Norbert Brugger.
Die Bevölkerungszahlen sind wichtig für den kommunalen Finanzausgleich. Der brachte den Kommunen 2023 Zuweisungen in Höhe von 14,3 Milliarden Euro. Der Mechanismus gleicht die Finanzkraft der Kommunen in einem Land an. Der Zensus schlägt sich somit in den Planungen der Städte für Kitas, Schulen und Altenpflege nieder. «Wenn durch den Zensus nun die Einwohnerzahl einer Gemeinde überdurchschnittlich nach unten korrigiert wird, dann dürfte dadurch auch die Finanzzuweisung zurückgehen», sagte Gemeindetagspräsident Steffen Jäger der «Südwest Presse».
Der Gemeindetag rechnet mit voraussichtlich 640 Städten und Gemeinden landesweit, die bei Vorlage der endgültigen Zahlen mindestens ein Prozent Minus bei der Einwohnerzahl hinnehmen müssen. Jede fünfte Kommune in Baden-Württemberg verliere sogar mindestens drei Prozent ihrer Bevölkerung. «Besonders betroffene Kommunen signalisieren uns, dass eine solch erhebliche Korrektur für sie in vielen Fällen weder plausibel noch nachvollziehbar ist», sagte Jäger. Er forderte größtmögliche Transparenz der Berechnungen des Statistikamtes.
Corona als eine Erklärung für den Rückgang
Der Städtetag berät derzeit über Hilfen für betroffene Kommunen. Wie die juristische und statistische Unterstützung genau aussehen könnte, werde Ende September konkreter, wenn alle Kommunen ihre Feststellungsbescheide erhalten haben, sagte Brugger. Der Städtetag erklärt den Bevölkerungsrückgang aus Städten mit Hochschulen und Universitäten damit, dass viele Studierende während der Pandemie, zu der der Zensus 2022 stattfand, im Elternhaus lebten. Ein weiterer Punkt dürften gerade in Baden-Württemberg mit dem nach Berlin zweithöchsten Ausländeranteil in den Bundesländern ausländische Bürger sein, die sich zwar anmelden, aber beim Verlassen des Landes nicht wieder abmelden.
Jagsthausen bei Heilbronn weist landesweit den größten Rückgang von 14,9 Prozent auf 1731 Einwohner im Vergleich zur eigens erhobenen Einwohnerzahl auf. Diese ergibt sich aus dem Zensus 2011, der regelmäßig um neu hinzugezogene Bürger, Abwanderungen und Todesfälle ergänzt wird. Die Kommune mit der markanten Götzenburg droht schon mit rechtlichen Schritten.
Zwar werde man vor dem finalen Bescheid keine Stellungnahme abgeben, sagt Bürgermeister Roland Halter (parteilos). Es sei ein Gespräch mit dem Statistischen Landesamt geplant. «Sollten sich die Zahlen, wider Erwarten, bestätigen, behalten wir uns selbstverständlich den Rechtsweg vor», kündigte Halter an. Laut «Stuttgarter Zeitung» geht es um fast eine halbe Million Euro. In Heiligenberg im Bodenseekreis mit laut Zensus 2858 Einwohnern beträgt die Differenz minus 10,5 Prozent. Auch in der Landeshauptstadt Stuttgart ergab die Zählung einen Verlust von 21.700 Einwohnern oder 3,4 Prozent.
Einige Gemeinden haben plötzlich mehr Einwohner
Laut Statistischem Landesamt gibt es aber auch Profiteure: Etwa Moosburg, eine winzige Gemeinde im Landkreis Biberach, deren Einwohnerzahl sich laut dem aktuellen Zensus um 14 auf 226 erhöhte. Zu den Gewinnern gehört auch Pforzheim mit einem Plus von 4,8 Prozent beziehungsweise 6.000 Einwohnern. Auch Konstanz freut sich über eine leicht höhere amtliche Einwohnerzahl von insgesamt 86.695.
Viele Kommunen befürchten, dass sie ab 2025 weniger Mittel aus dem kommunalen Finanzausgleich erhalten. «Diese Landesmittel kommen in einen großen Topf und die Kommunen wollen alle möglichst viel davon haben», erklärte Brugger. Die konkreten Summen ergeben sich aber nicht nur aufgrund der Bevölkerungsstatistik. So erhalten Städte höhere Landeszuweisungen, die ihre Infrastruktur für Kommunen in ihrer Umgebung bereitstellen. Die neuen Zahlen fließen ab 2025 erstmals teilweise in die Berechnungen zum Finanzausgleich ein, ab 2026 bilden sie dann die alleinige Grundlage.
Mannheims Oberbürgermeister Christian Specht (CDU) spricht von einem enttäuschenden Ergebnis mit Blick auf ein Minus von 0,2 Prozent oder 700 Einwohnern weniger. Die angewandte Stichprobenmethode stoße an ihre Grenzen, insbesondere in «sozialstrukturell herausfordernden Gebieten». Specht: «Besonders in Gebieten mit hoher Fluktuation und bei Bevölkerungsgruppen, die häufig ihre Wohnung wechseln, wie Studierende und Arbeitsmigranten, entstehen erhebliche Erfassungsdefizite.»
Kommunen können juristisch gegen Zensus vorgehen
Deswegen rechnet Brugger mit Widersprüchen der Kommunen beim Statistischen Landesamt, das die Bescheide an die Gemeinden verschickt. Allerdings würden es nicht so viele werden wie beim Zensus 2011, gegen dessen Resultate 373 Widersprüche und 144 Klagen ergingen. Das Bundesverfassungsgericht hatte jedoch 2018 die Erhebungsmethode für verfassungsgemäß erklärt.
Brugger rechnet dieses Mal mit weniger Widerstand. Denn die Organisation der Zählung für 2022 sei im Vergleich zum Zensus 2011 deutlich verbessert worden, von mehr Erhebungsstellen über eine größere Stichprobe bis hin zu mehr Landesmitteln zum Ausgleich von Ausgaben für die praktische Durchführung.
In Baden-Württemberg lebten 2022 laut Zensus gut 11,1 Millionen Menschen, das sind rund 132 000 (1,2 Prozent) weniger als bisher gedacht. Der Südwesten steht damit im Vergleich zu anderen Bundesländern recht gut da. Bayern verlor demnach rund 2,2 Prozent an Einwohnern, Hessen rund 2,5 Prozent und Hamburg sogar 3,5 Prozent.
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