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Zeitgeschichte: Was die Verschwörungstheorien des Dritten Reiches mit der Gegenwart zu tun haben

Zeitgeschichte

Was die Verschwörungstheorien des Dritten Reiches mit der Gegenwart zu tun haben

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    Einer der letzten Aufnahmen: Adolf Hitler hat an seinem Geburtstag am 20. April 1945 den Führerbunker verlassen, um Getreue zu ehren.
    Einer der letzten Aufnahmen: Adolf Hitler hat an seinem Geburtstag am 20. April 1945 den Führerbunker verlassen, um Getreue zu ehren. Foto: Rf/dt Tmk Jai, dpa

    Es gibt kaum prominentere Verschwörungstheoretiker als den früheren unumschränkten Herrscher über die Sowjetunion, Josef Stalin. Obwohl seine eigenen Offiziere bereits sicher waren, dass es sich bei einer der verkohlten Leichen, die im Mai 1945 im Führerbunker gefunden wurden, um die menschlichen Überreste Adolf Hitlers handelt, setzte Stalin persönlich die Mär in die Welt, der Diktator sei nicht tot. Der Sowjetführer orakelte, Hitler könnte in einem U-Boot nach Japan geflohen sein. Das alles ist reine Fantasie. Hitler hat sich am 30. April erschossen - und doch verstummen Theorien über die Flucht des Diktators in immer neuen Versionen bis heute nicht.

    "Nichts in der Geschichte geschieht zufällig, alles ist Ergebnis geheimnisvoller Machenschaften“ - ein Satz, der das neue Buch des renommierten britischen Historikers Richard J. Evans "Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien" prägt. Natürlich ist das nicht das Credo des 66-jährigen Autors, sondern seine Erklärung des Weltbildes von Verschwörungstheoretikern.

    Hitlers angebliche Flucht aus dem Führerbunker ist eine der Geschichten, die Evans beleuchtet. In Nazideutschland wurde die Entwicklung von "Fake News“ gewissermaßen institutionalisiert - zuständig war der Propaganda-Apparat von Joseph Goebbels. Es ging dort allerdings nicht nur um ausgefeilte Verschwörungstheorien, sondern oft um gewöhnliche Lügen.

    Der britische Historiker Richard J. Evans beschäftigt sich in seinem aktuellen Buch mit den "Dritten Reich und seinen Verschwörungstheorien."
    Der britische Historiker Richard J. Evans beschäftigt sich in seinem aktuellen Buch mit den "Dritten Reich und seinen Verschwörungstheorien." Foto: Verlag, privat

    Der Brite Evans, der mit Werken zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zum Nationalsozialismus internationale Bekanntheit erlangt hat, seziert ausgewählte Verschwörungstheorien, die entweder im Dritten Reich eine Rolle spielten oder dort ihren Ausgang nahmen. Doch dabei bleibt Evans nicht stehen: Er beschreibt minutiös, welchen Veränderungen diese Narrative unterworfen waren und wer sie aus welchen Motiven initiiert hat oder bis heute am Leben halten will. Plötzlich befindet sich die Leserin und der Leser im Hier und Jetzt, denn viele der alten Verschwörungstheorien haben ihren düsteren Reiz offensichtlich nicht verloren - oft mit antisemitischem Hintergrund.

    Dezember 1918: deutsche Kriegsgefangene unter britischer Bewachung. Verfechter der Dolchstoßlegende behaupten fälschlicher Weise, der erste Weltkrieg Krieg wurde durch Sabotage an der Heimatfront verloren.
    Dezember 1918: deutsche Kriegsgefangene unter britischer Bewachung. Verfechter der Dolchstoßlegende behaupten fälschlicher Weise, der erste Weltkrieg Krieg wurde durch Sabotage an der Heimatfront verloren. Foto: Pa, PA Wire, dpa

    Evans beschäftigt sich nicht nur mit dem Ende Hitlers - vier weitere Beispiele vervollständigen den Hauptteil seines neuen Buches, darunter die berüchtigten "Protokolle der Weisen von Zion", ein millionenfach gelesenes antisemitisches Pamphlet. In den vorgeblichen Protokollen eines Geheimtreffens wird aufgeführt, mit welchen Mitteln eine jüdisch-zionistische Elite die Weltherrschaft an sich reißen will. Das Machwerk tauchte Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Obwohl bereits in den 1920er Jahren allgemein bekannt war, dass es sich um eine Fälschung handelt, wurde es von den Nazis instrumentalisiert. Noch heute dienen die Protokolle als Rechtfertigung für den Hass auf Juden und Israel. Auch die Dolchstoßlegende, die besagt, dass das Deutsche Kaiserreich den Ersten Weltkrieg nur verloren hat, weil Kommunisten, Sozialisten und Liberale den Soldaten in den Rücken gefallen seien, wird behandelt. Hinzukommen der Reichstagsbrand und der England-Flug von Rudolf Heß.

    Evans unterteilt zwei Hauptformen: Bei der systematischen Verschwörungstheorie versucht eine einzelne verdeckt agierende Gruppe, eine Stadt, einen Staat oder gerne auch die ganze Welt zu unterjochen. Dahinter steckten und stecken in der Vorstellung derjenigen, die diese Theorie verbreiten, oft Juden, Banken oder Großkonzerne. Die zweite Form ist, Evans folgend, die Ereignisverschwörungstheorie. In diesem Fall ist es eine Geheimorganisation, die - wie der Name schon sagt - hinter einem Ereignis steht. Evans führt als Beispiel den Mord an John F. Kennedy auf, er hätte aber auch die Corona-Pandemie nennen können. Denn auch jetzt wird geraunt, dass die Infektion von der Pharmaindustrie, Bill Gates oder anderen "Schurken" aus selbstsüchtigen Gründen in der Welt verbreitet wurde.

    Verschwörungstheorien verbreiten sich im Internet rasant

    Wir leben in einer Hochzeit der Verschwörungstheorien. Die Muster, die Funktionsweisen sind jedoch auch im Zeitalter von Internet und neuen Medien die gleichen, nur die Transportwege haben sich verändert - die Geschwindigkeit hat sich vervielfacht. Zu dem Erfolg der Theorien trägt nach Überzeugung des langjährigen Cambridge-Professors Evans allerdings nicht nur das Internet bei, sondern auch unsere Sehnsucht nach einer klaren Einteilung der Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Es ist wie in einem Hollywood-Drehbuch: Die Erzählung von dem mutigen, reinen Helden, der gegen alle Widerstände finstere Machenschaften aufdeckt. Platz für Grautöne bleibt da nicht. Evans beklagt, dass diese Vereinfachung die Menschen insofern konditioniert, als dass sie sich nicht mehr mit den mühsamen "Zweideutigkeiten des realen Lebens" beschäftigen müssen.

    Oft ist der Fanatismus von Verschwörungstheoretikern mit einer ans Manische grenzenden "außerordentlichen Detailversessenheit gepaart“, wie Evans formuliert. Allerdings derart, dass jeder noch so kleine Hinweis, der die Theorie unterstützen könnte, zu einem unwiderlegbaren Beweis hochgejazzt wird. Alles, was der eigenen Erzählung widerspricht, ist zwangsläufig gefälscht oder erlogen. Zeugen, die widersprechen, werden bedroht oder sind Teil der Verschwörung.

    Hoffnung auf einfache Rezepte macht das Buch nicht

    Hoffnung auf einfache Rezepte im Kampf gegen die meist diskriminierende, oft auch verhetzende Wirkung der Verschwörungstheorien macht das Buch nicht. Auch wenn Evans registriert hat, dass die weltweit aktiven Plattformen der sozialen Medien das Problem erkannt haben: "Falschheit durch Zensur zu bekämpfen“ sei schon angesichts der puren Masse der Lügenmärchen "nicht mehr möglich“, ist der Historiker überzeugt. Was bleibt ist die harte, beschwerliche Tour. Richard J. Evans: "Der einzige Weg, nachzuweisen, was wahr und was falsch ist, ist und bleibt sorgfältige, akribische Arbeit.“

    Richard J. Evans: Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. 367 Seiten, 22,99 Euro

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