Der Schamane im Kapitol
An einem kalten Januartag stirbt die Hoffnung, dass der Wahnsinn in Washington ein Ende haben wird, wenn Donald Trump abgewählt ist. Tausende Menschen strömen auf das Kapitol zu. Sie sind wütend, gezielt aufgestachelt von einem Noch-Präsidenten, der wild entschlossen scheint, noch ein letztes Inferno zu entfachen, bevor er das Weiße Haus verlassen muss. Das Streichholz ist seine Legende von der angeblich „gestohlenen Wahl“. Das Feuer bricht im Kapitol aus. Während die Welt fassungslos zuschaut, wie ein rechter Mob den Sitz des Kongresses stürmt, wird der Verschwörungsfanatiker Jacob Chansley zum Symbol des Irrsinns. Mit nacktem Oberkörper, Kriegsbemalung, Hörnern auf dem Kopf und Speer in der Hand brüllt er wie von Sinnen in die Kameras. Später wird er zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Die bittere Erkenntnis, wie schnell eine starke Demokratie in ihren Grundfesten erschüttert werden kann, wird länger bleiben.
Söder will es wissen
Als Armin Laschet im Januar zum CDU-Chef gewählt wird, macht er einen entscheidenden Fehler. Er greift nicht sofort nach der Kanzlerkandidatur und öffnet damit eine Lücke, die der Machtmensch Markus Söder nutzt. Der bayerische Ministerpräsident hat sich an der Seite der Kanzlerin als oberster Corona-Manager der Nation inszeniert. Er ist populär wie nie und setzt gegen den zaudernden Laschet alles auf eine Karte. Söder will Kanzler werden und überrumpelt damit die CDU, deren Spitze sich zwar umgehend pflichtschuldig hinter den eigenen Chef stellt, vom Kraftprotz aus Bayern aber kurzerhand als Hinterzimmer-Gremium abgekanzelt wird. Es beginnt ein kurzer, aber brutaler Machtkampf um die Kanzlerkandidatur, der nur einen Gewinner kennt: Olaf Scholz.
Laschet lacht
Armin Laschet setzt sich gegen seinen Rivalen durch, doch er taumelt fortan wie ein angeschlagener Boxer durch den Wahlkampf. Als im Juli eine verheerende Flutkatastrophe Teile von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz verwüstet, wittern viele den Schröder-Moment für den abgeschlagenen Kandidaten. Bis heute hält sich die These, dass Gerhard Schröder die Bundestagswahl 2002 vor allem deshalb gewonnen hat, weil er die Macht der Bilder erkannt hatte. Als das Hochwasser im Sommer ganze Landstriche in Ostdeutschland verwüstet, zeigt er sich vor Ort als gummibestiefelter Macher, der selbst mit anpackt. Die Kameras laufen mit. Er bleibt Kanzler. Auch Laschet trägt Gummistiefel, als er am 17. Juli die Wahl vergeigt. Während der Bundespräsident im furchtbar von der Flut getroffenen Erftstadt über das Leid der Opfer spricht, ist der Kanzlerkandidat im Hintergrund zu sehen, wie er Scherze macht und sich vor Lachen krümmt. Es ist nicht sein einziger Fehler in diesem Wahlkampf – aber der, den die Deutschen am längsten im Gedächtnis behalten werden.
Die Soldatin und das Baby
Als die letzten US-Soldaten im August Afghanistan verlassen, bricht in Kabul das Chaos aus. Zehntausende Menschen versuchen zu fliehen, bevor die radikalislamistischen Taliban sich das geschundene Land endgültig unterwerfen. Am Flughafen klammern sich Menschen verzweifelt an startende Maschinen. Einfach nur weg. Lieber sterben als bleiben. In ihrer unsagbaren Verzweiflung drücken weinende Väter und Mütter den abziehenden Soldaten Babys und Kinder in die Arme. Rette sich, wer kann. Auf eine Reise in eine ungewisse Zukunft. Es ist das vielleicht größte Versagen in der Geschichte der Nato. Ortskräfte, die den westlichen Truppen jahrelang geholfen hatten, werden ihrem Schicksal überlassen, Folter, Angst, vielleicht sogar dem Tod. In letzter Minute werden dann doch Tausende ausgeflogen, doch wer da an Bord der Flieger geht, weiß niemand so genau.
Zitrusvorgeschmack
Eines der Bilder dieses Jahres ist ein Selfie. Es zeigt vier Personen, die auch der Elternbeirat der Klasse 5a sein könnten. Oder der frisch gewählte Vorstand des örtlichen Turnvereins. Vor allem aber zeigt es, wie sich die Zeiten geändert haben. Zu sehen sind die Spitzenleute von Grünen und FDP, die nach der Bundestagswahl beschlossen haben, die Sache mit der Regierungsbildung jetzt selbst in die Hand zu nehmen. Zitruskoalition wird der überraschende grün-gelbe Pakt genannt. Die ungleichen Partner wissen: Wer Kanzler werden will, kommt an uns nicht vorbei. Für einen Moment mag man glauben, dass Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner und Volker Wissing sich längst einig seien und die potenziellen Kanzler nur noch zum Vorstellungsgespräch antanzen lassen. Ein süßsaurer Vorgeschmack auf die neue Art zu regieren?
Rote Rosen regnen
Mit „Fröhlichkeit im Herzen“, wie sie selbst sagt, verabschiedet sich am 2. Dezember Angela Merkel als Bundeskanzlerin. Davon zeugt nicht nur die Tatsache, dass sie die Erste ist, die das Amt aus freien Stücken und trotz hoher Popularitätswerte abgibt, sondern auch ihre Musik-Auswahl beim Großen Zapfenstreich der Bundeswehr. Die Soldaten dürfen sich das des staatstragenden Anlasses wegen natürlich nicht anmerken lassen, aber es ist mehr als nur eine Vermutung, dass sie Spaß dabei hatten, Nina Hagens Kultlied „Du hast den Farbfilm vergessen“ zu spielen und es im Sinne von Hildegard Knef zum Abschied rote Rosen regnen zu lassen.
Tatsächlich Kanzler
Wahrscheinlich war selbst für Olaf Scholz zu Beginn des Jahres nichts unwahrscheinlicher als die Tatsache, dass er am Ende die Neujahrsansprache an die Deutschen halten wird. Doch der Sozialdemokrat hat im Wahlkampf nicht nur die wenigsten Fehler gemacht, sondern den Menschen auch am glaubhaftesten vermittelt, dass er am ehesten in der Lage ist, die neue Angela Merkel zu werden. Dass die Kanzlerin nüchterne Gelassenheit als Regierungsprinzip etabliert hat, wurde zum Glücksfall für den staubtrockenen Hanseaten. Nun muss er nach 16 Jahren „Mutti“ beweisen, dass auch ein Mann in der Lage ist, Kanzlerin zu sein.