Hinweis: Dies ist ein Artikel vom 7. Februar 2022. Der Text ist noch vor dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine entstanden. Aktuelle Meldungen und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine gibt es in unserem Live-Ticker.
In der derzeitigen Ukraine-Russland-Krise ist oft von einer historischen Verantwortung der Deutschen die Rede. Hergeleitet wird sie aus dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, der unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ von Anfang an als ideologischer Rasse- und Vernichtungskrieg angelegt war. Adolf Hitler sah in einem Sieg über das „jüdisch-bolschewistische Untermenschentum“ seine wahre Mission. Eine genaue Zahl der Todesopfer auf sowjetischer Seite gibt es nicht. Seriöse Schätzungen belaufen sich auf 27 Millionen.
Eine solche Gesamtbetrachtung blendet die Tatsache aus, dass vor dem Hintergrund des Zerfalls der UdSSR und der Entstehung souveräner Staaten aus ihrer Konkursmasse die Frage deutscher Verantwortung differenzierter als vormals zu stellen ist, weil sich deren Umfang erweitert hat. So hat heute nicht nur Russland, sondern – neben den Baltenstaaten und Belarus – vor allem die Ukraine einen moralischen Anspruch auf sensibel-geschichtsbewusste deutsche Diplomatie.
Diese Aufgabe gewinnt angesichts der aktuellen militärischen Bedrohung der Ukraine durch Russland an Brisanz. Sie rückt im gleichen Zug wiederum den – öffentlich heute kaum bewussten – deutschen Einfluss auf die langen historischen Wurzeln des Konflikts in den Fokus.
Deutschland kam bereits vor 100 Jahren als Machtfaktor ins Spiel
Deutschland kam vor mehr als 100 Jahren während des Ersten Weltkriegs als Machtfaktor ins Spiel. Nach der russischen Oktoberrevolution war es das vorrangige Ziel der neuen bolschewistischen Regierung, das Land aus dem Krieg zu führen, das sich – ähnlich wie 70 Jahre später – einem Zerfall ausgesetzt sah. Das Parlament in Kiew (Zentralrada) erklärte im Januar 1918 die Unabhängigkeit der Ukraine und schloss kurze Zeit später mit den Mittelmächten einen Separatfrieden. Die Ukrainer erhielten von Deutschland und Österreich-Ungarn militärische Unterstützung gegen Sowjetrussland, das mit der Besetzung der Ukraine begonnen hatte. Im Frieden von Brest-Litowsk mussten die Sowjets im März 1918 unter dem Druck der Mittelmächte die Unabhängigkeit der Ukraine anerkennen.
Die Ukraine – so die Vorstellungen führender Militärs – sollte als Einflussgebiet und Kornkammer für das Reich gesichert bleiben. Die Niederlage im November 1918 machte diese Ostraum-Pläne zunichte. Zwar zwangen die Bolschewisten im Bürgerkrieg die Ukraine in die Union der Sowjetrepubliken zurück. Aber dass Deutschland als Geburtshelfer einer selbstständigen Kiewer Republik aufgetreten war, hatte man nicht vergessen, nachdem Hitler seinen Ostfeldzug 1941 aufgenommen hatte. „Es gab in der Ukraine eine Hoffnung auf eigene Staatlichkeit“, fasst Dietmar Neutatz, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Freiburg, die damalige Stimmungslage zusammen. Diese war wiederum geprägt durch die traumatischen Erfahrungen der Ukrainer im Zuge der stalinistischen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft Anfang der 30er-Jahre. Der „Holodomor“ – der „Massenmord durch Verhungern“ – kostete zwischen drei und sieben Millionen Menschenleben. „Dann folgte Stalins ‘Großer Terror’ von 1936 bis 1938“, ergänzt Historiker Neutatz. „Die Ukrainer hatten im Sommer 1941 wenig Grund, Stalin gegenüber loyal zu sein.“
Das traf vor allem auf die Menschen in der heutigen Westukraine zu. Dieses Gebiet war mehrmals Spielball der Mächte gewesen. Galizien mit der Hauptstadt Lemberg (Lviv) gehörte bis 1919 zu Österreich und fiel dann zusammen mit dem westlichen Wolhynien an das neu geschaffene Polen. In diese Region marschierte die Rote Armee infolge des Hitler-Stalin-Pakts ein. Mit drastischen Folgen: „Dort haben die Menschen die Jahre 1939 bis 1941 als brutale Sowjetisierung erfahren“, sagt Dietmar Neutatz. „Es gab Massenverhaftungen, Massenerschießungen und Deportationen von Hunderttausenden.“
Den Deutschen ging es nicht um Freundschaft, sondern um Lebensraum
Es war also keine reine Propaganda, dass die NS-Wochenschau ukrainische Zivilisten zeigte, die den Einmarsch der Wehrmacht vom Straßenrand aus jubelnd begrüßte. War diese Freude berechtigt? „Nein“, sagt Neutatz. „Im Prinzip hatten die Nazis mit der Ukraine nichts anderes vor als mit der restlichen Sowjetunion auch, nämlich das Gebiet nach dem Krieg zu kolonisieren und für die deutsche Lebensraumpolitik zu verwenden.“ Eine eigene slawische Staatlichkeit sollte nicht zugelassen werden.
So war das neu geschaffene „Reichskommissariat Ukraine“ nach den Worten des Freiburger Professors ein „Erweiterungs- und Kolonialraum, der während des Krieges ausgebeutet und nach dem Krieg von Deutschen besiedelt werden sollte“. Dennoch suchten die Nazis unter den Ukrainern nach Verbündeten und willigen Helfern. Die fanden sie in der OUN, der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“. Sie hatte sich schon vor 1939 in Galizien Kämpfe mit den Polen geliefert, war stramm rechts ausgerichtet und trug laut Dietmar Neutatz auch faschistische Züge. Viele OUN-Leute saßen in polnischen Gefängnissen und wurden dort von den Deutschen befreit.
Die deutschen Besatzer setzten auf einheimische Hilfskräfte
Als der OUN-Führer Stepan Bandera im Juni 1941 die Nazis falsch einschätzte und in Lemberg eine unabhängige Ukraine ausrief, ließ Hitler ihn ins KZ Sachsenhausen bringen, wo er Prominentenstatus genoss. Indessen machten sich die NS-Stellen im Reichskommissariat die Masse an ukrainischen Freiwilligen zunutze. Vor allem in Galizien verrichteten einheimische Polizisten, Verwaltungsleute und Bürgermeister Hilfsdienste für die Besatzer – „freilich nicht auf Augenhöhe“, wie Dietmar Neutatz klarstellt. An Erschießungen von Juden seien Hilfskräfte in „beträchtlichem Ausmaß“ beteiligt gewesen. Traurige Berühmtheit das Kiewer Massaker von Babyn Jar am 29. September 1941. Umstellt von Wehrmacht und lokalen Hilfspolizisten wurden in einer Schlucht in zwei Tagen 33.000 Juden und Rotarmisten erschossen.
1943 wurde für die Waffen-SS eine ukrainische Freiwilligen-Division mit dem Namen „Galizien“ aufgestellt, die bis Ende 1944 auf 22.000 Mann aufwuchs und sowohl auf dem Balkan und in Polen als auch an der Ostfront gegen die Rote Armee eingesetzt wurde. Noch heute genießt diese Division, der mehrere Massaker an polnischen Zivilisten vorgeworfen werden, hohes Ansehen bei der ukrainischen Rechten.
Seit 1942 trat mit der Gründung der „Ukrainischen Aufständischen Armee“ (UPA) ein weiterer mit den Nazis verbündeter Machtfaktor auf den Plan, was in der Folge zu einer Art Krieg im Krieg führte und die Westukraine – wie nach 1918 – zu einem Schauplatz fortgesetzter Massaker machte. „Die UPA kämpfte in erster Linie gegen kommunistische Sowjet-Partisanen sowie gegen die polnische Heimatarmee, wobei sie zeitweilig mit der Wehrmacht kooperierte“, sagt Dietmar Neutatz, „und sie ermordete auch bis zu 60.000 polnische Zivilisten“.
So zog der von Hitler ausgelöste Krieg Verbrechen nach sich, die zwar nicht direkt unter deutsche Verantwortung fallen, aber ohne die Wahnidee eines deutschen Lebensraums im Osten nicht möglich gewesen wären. Die Soldaten der UPA ließen sich übrigens von der deutschen Kapitulation im Mai 1945 nicht entmutigen. Sie leisteten bis in die frühen 1950er Jahre Widerstand gegen die Sowjetarmee. Neben Georgiern, Tataren, Aserbaidschanern und Usbeken waren auch Russen in ihren Reihen.