Es gibt kaum ein Ereignis in der Geschichte der Bundesrepublik, bei dem die einschneidenden Folgen und die merkwürdig unterbelichtete nachträgliche Wahrnehmung derart weit auseinanderklaffen: In einer abendlichen Fernsehansprache erklärte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) am 24. März 1999, dass soeben die Nato mit „Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen“ habe. Deutschland beteiligte sich an dem Einsatz des Verteidigungsbündnisses – damit war er da, der erste deutsche Kriegseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg.
Einer, der sich an der Diskussion über ein Eingreifen angesichts der explosiven Lage auf dem Balkan von Anfang an beteiligte, war der Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer - und zwar schon Jahre vor der Kosovo-Krise, als der Krieg in Bosnien tobte„Bei den Grünen begann die Debatte bereits früh. 1993 war ich noch sehr isoliert in meiner Partei, als ich forderte, dass man dem Unrecht in Bosnien-Herzegowina durch eine militärische Intervention ein Ende setzen müsse“, sagte der heutige Abgeordnete des Europaparlaments im Gespräch mit unserer Redaktion.
Doch er blieb mit seiner Meinung in der Partei nicht allein. Ab 1995 habe sich, so der inzwischen 71-Jährige, auch der spätere Außenminister Joschka Fischer dafür starkgemacht, dass man nicht einfach mit „pazifistischem Bekennertum“ hinnehmen kann, was in Sarajevo passierte. Doch bis diese Position bei den Deutschen und insbesondere bei den Grünen mehrheitsfähig wurde, vergingen noch Jahre.
Erklärtes Ziel der Nato im Kosovo-Konflikt war es, ein „zweites Bosnien“ zu verhindern. Europa, aber auch die USA standen damals unter dem Eindruck des Massakers von Srebrenica vom Juli 1995, als serbische Sicherheitskräfte und Militärs in wenigen Tagen mehr als 8000 bosnische Männer ermordeten, ohne dass ihnen die dort stationierten UN-Blauhelmsoldaten in den Arm fielen.
Die Situation im Kosovo war in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre äußerst angespannt. Belgrad akzeptierte die Ausrufung eines eigenen Staates durch die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo nicht – es kam zu blutigen Unruhen. Die Kosovo-Befreiungsarmee versuchte, die Unabhängigkeit mit Gewalt zu erzwingen, serbische Polizei- und Militäreinheiten reagierten mit zügelloser Gegengewalt.
Mehrere diplomatische Friedensinitiativen im Kosovo scheiterten
Mehrere diplomatische Initiativen zeigten keinen Erfolg. Als im Januar 1999 die Verhandlungen über einen Friedensvertrag, die unter anderem im französischen Schloss Rambouillet stattfanden, am Widerstand der serbischen Delegation scheiterten, bereitete sich die Nato auf die Bombardierung von Zielen in Serbien vor, die Ende März begann.
Bereits am 16. Dezember 1998 hatte der Bundestag einer deutschen Beteiligung am Nato-Einsatz mit großer Mehrheit zugestimmt. Die Hoffnung, dass die Luftangriffe nach nur wenigen Tagen zu einem Einlenken der Serben führen würden, erfüllte sich nicht. Über 78 Tage flog die Allianz insgesamt rund 10.000 Attacken gegen militärische Ziele, aber auch gegen Industrieanlagen – erst dann traten die serbischen Truppen den Rückzug aus dem Kosovo an. Je nach Quelle forderten die Angriffe rund 3500 Todesopfer.
Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer verteidigt den Nato-Einsatz im Kosovo
Viele Völkerrechtler bezweifeln die Legitimität des Nato-Einsatzes. Bütikofer jedoch ist bis heute überzeugt, dass die militärische Intervention richtig war: „Es gibt ja diesen lateinischen Spruch ,Fiat iustitia et pereat mundus’ – also ’Es soll Gerechtigkeit geschehen, auch um den Preis, dass dabei die Welt untergeht’. Und das wollten wir halt nicht. Wir waren letztlich bei allen Zweifeln überzeugt, dass unter dem Gesichtspunkt der Humanität ein Handlungsgebot bestand.“
Der Nato-Einsatz im Frühjahr 1999 brachte zwar Frieden, was das Schweigen der Waffen betrifft – eine Aussöhnung zwischen Serben und Kosovaren leitete die Intervention aber nicht ein. Die internationale Sicherheitstruppe KFOR, die im Juni 1999 im Kosovo stationiert wurde, ist dort noch heute mit aktuell rund 4500 Nato-Soldaten vertreten und wird regelmäßig mit gewalttätigen Scharmützeln konfrontiert.
Die Grünen durchlebten eine innere Zerreißprobe
Die Grünen haben die über Jahre andauernde innere Zerreißprobe im Streit über militärische Auslandseinsätze im Rückblick erstaunlich gut überstanden. Der damalige Außenminister Joschka Fischer wurde nach seiner Rede im Mai 1999 auf einem Sonderparteitag zwar von einem roten Farbbeutel schmerzhaft getroffen, konnte seine Linie aber durchsetzen. Letztlich dürfte es dessen berühmter Satz „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord“ gewesen sein, der die Mehrheit der Grünen überzeugt hat.
Reinhard Bütikofer: „Anders als in anderen Parteien haben wir diese Debatte wirklich ausgefochten. Insofern stand die grüne Auseinandersetzung um diese Fragen so ein bisschen auch stellvertretend für die Neuorientierung in der ganzen deutschen Gesellschaft.“