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Worauf sich Grüne, FDP und SPD noch einigen können

Regierung

Wo die Koalition im Deutschlandtempo vorangeht

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    In der Gesellschaftspolitik gelingt es der Regierungskoalition, sich auf Gesetze zu verständigen.
    In der Gesellschaftspolitik gelingt es der Regierungskoalition, sich auf Gesetze zu verständigen. Foto: Christoph Soeder, dpa

    "Sie können es nicht!" Ein Oppositionsführer sollte nicht zu sehr differenzieren. Pflichtgemäß hat CDU-Chef Friedrich Merz schon vor Weihnachten zur Generalabrechnung mit Kanzler Olaf Scholz ausgeholt. Im Fokus damals: die Haushaltspolitik der Regierung nach der erzwungenen Vollbremsung durch das Verfassungsgericht. Doch schon davor hatte das Wort "Heizungsgesetz" über Monate für fiebrige Erregungszustände weit über das politische Treibhaus Berlin hinaus gesorgt. Und quasi als permanente Begleitmusik, allerdings mit deutlichem Crescendo in den vergangenen Monaten, begleitet die Regierung der Vorwurf, in der Wirtschaftspolitik auf keinen grünen Zweig zu kommen. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger, dass die Koalition aus SPD, FDP und Grünen das Land noch voranbringt, ist aufgebraucht. Dass die ungleichen Partner zu neuer Einigkeit finden, damit rechnet keiner mehr.

    Der Streit um die Abtreibung könnte die Gesellschaft spalten

    Umso auffälliger ist daher, wo die Ampel noch Erfolge erzielt. Bei der Cannabis-Legalisierung etwa. Oder mit dem Selbstbestimmungsgesetz, das Menschen erleichtern soll, ihren Geschlechtseintrag und Vornamen zu ändern. Mit der Vorstellung eines Expertenberichts für eine Neufassung des Abtreibungsrechts liegt nun das nächste heiße Eisen in der Gesellschaftspolitik auf dem Tisch. 

    Die Gesellschaftspolitik der Ampelkoalition

    Selbstbestimmungsgesetz Das Gesetz soll im November in Kraft treten. Transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen haben dann die Möglichkeit, ihren Geschlechtseintrag und ihre Vornamen durch eine Erklärung beim Standesamt ändern zu lassen. Die Vorlage eines ärztlichen Attests oder die Einholung von Gutachten ist nicht länger erforderlich. 

    Cannabis-Legalisierung Das Cannabisgesetz legalisiert den privaten Eigenanbau zum Eigenkonsum sowie den gemeinschaftlichen, nicht-gewerblichen Eigenanbau in Anbauvereinigungen. Das Gesetz ist, mit Ausnahme der Regelungen zu Anbauvereinigungen, im April in Kraft getreten.

    Abstammungsrecht Wenn ein Kind in eine Partnerschaft von zwei Frauen geboren wird, soll die Partnerin der Geburtsmutter neben dieser leichter Mutter werden können. Eine Adoption soll dazu nicht mehr erforderlich sein. Zudem soll es möglich sein, vor der Zeugung eines Kindes durch den Abschluss einer Elternschaftsvereinbarung zu bestimmen, wer Vater oder Mutter neben der Geburtsmutter werden soll.

    Namensrecht Kernstück der geplanten Reform ist die Einführung echter Doppelnamen für Ehepaare und Kinder. Zudem soll es Stief- und Scheidungskindern in bestimmten Fällen erleichtert werden, ihren Namen zu ändern. 

    Verantwortungsgemeinschaft Erwachsene, die jenseits von Ehe, Familie und Partnerschaft Verantwortung füreinander übernehmen, sollen diese Beziehung künftig rechtlich absichern können. Die Neuregelung soll keine steuer-, erb- oder aufenthaltsrechtlichen Folgen haben.

    Abtreibung und Leihmutterschaft Die Bundesregierung überlegt, den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs zu regeln. Auch über die Legalisierung der Eizellspende und der altruistischen Leihmutterschaft wird geprüft.

    Familienministerin Lisa Paus (Grüne), Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) gaben sich jüngst bei der Vorstellung des Berichts betont auf Ausgleich bedacht. Denn die Lautstärke, mit der alle diese Themen diskutiert werden, ist groß. Der Vorwurf, hier ohne Not einen vor Jahrzehnten mühsam befriedeten Konflikt neu zu entfachen, wiegt schwer, erst recht für eine Koalition, der angekreidet wird, vor lauter Streit die wichtigsten Themen nicht anzupacken.

    Bernd Stegemann ist Professor für Dramaturgie und Kultursoziologie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Er sieht bei der Ampel eine Lücke zwischen Wollen und Tun. "Es gibt handfeste große Probleme, mit denen jeder in seinem Alltag mehr oder weniger in Berührung kommt. Doch dann werden ewige Diskussionen darüber geführt, wie viel Beamte es nun braucht, um die neue Kindergrundsicherung an den Mann und die Frau zu bringen", sagt Stegemann, der einst mit Sahra Wagenknecht zu den Mitinitiatoren der linken Sammlungsbewegung "Aufstehen" gehörte. Der Soziologe hat die politische Linke in Deutschland immer wieder hart kritisiert. Sie sorge sich mit erhobenem Zeigefinger viel mehr um politische Korrektheit und Identitätspolitik als um ihre Kernklientel.

    In der Wirtschaftspolitik sind die Gegensätze kaum noch aufzulösen

    Gerade in der Wirtschaftspolitik prallten zudem völlig gegensätzliche Weltanschauungen aufeinander. "Die Frage ist da, geht

    In der Gesellschaftspolitik ist das anders. Weltanschauliche Unterschiede zwischen den Koalitionären gibt es auch da. Doch hat man sich in den Koalitionsverhandlungen schon auf Schwerpunkte geeinigt, die jetzt abgearbeitet werden. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung in Tutzing, hält das für schlüssig. "Im Grunde sind das ja noch die wenigen Punkte aus dem Koalitionsvertrag, die nicht völlig erschüttert worden sind durch den russischen Überfall auf die Ukraine und die Energiekrise."

    Die Parteien halten sich an ihre Wahlversprechen

    Dass die öffentliche Erregung so groß ist, überrascht sie nicht. Gerechtfertigt findet sie das Ausmaß der Empörung und die Tonalität der Debatte aber nicht. "Von einem größeren Teil der Bevölkerung werden diese Themen nicht als die vorrangigsten gesehen. Aber von einem nennenswerten Teil eben schon. Und eines darf man nicht übersehen: Die drei Parteien sind mit diesen Themen, mal stärker, mal schwächer, zur Wahl angetreten. Das Thema Cannabis war ja auch für die FDP durchaus ein Wahlkampfthema. Im Grunde ist die SPD von allen dreien die konservativste, gerade auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht."

    Die Cannabis-Legalisierung ist höchst umstritten.
    Die Cannabis-Legalisierung ist höchst umstritten. Foto: Matt Masin/Zuma Press, dpa

    Eine Bundesregierung dürfe auch nicht nur das tun, was eine Wählerschaft für richtig hält. "Aber es ist natürlich völlig legitim, darüber zu streiten. Was mich nur stört, ist, so der Unterton bei vielen Menschen, zu sagen, die maßen sich da was an. Es gibt Anhängerinnen und Anhänger der Grünen, die sagen, die maßen sich nichts an, dafür haben wir die gewählt", betont Münch. 

    Die Akademiedirektorin sieht eine historische Parallele. "In den 1970er-Jahren mit der sozialliberalen Koalition hatten wir eine ähnliche Situation. Da war es weniger der Streit zwischen den Parteien, aber SPD und FDP hatten damals partout kein Geld. Auch deshalb konzentrierten sie sich ganz stark auf den Bereich der Familien- und Frauenpolitik." Es war eine Möglichkeit, gegen die Blockade einer Mehrheit unionsregierter Länder im Bundesrat Politik zu machen. Es war aber auch, aus heutiger Sicht betrachtet, eine erforderliche Modernisierung der Gesellschaft, erklärt Münch: "Wenn man nur auf das Scheidungsrecht blickt, dann war das alles noch ziemlich antiquiert." 

    Wahlkämpfer lieben Reizthemen

    Gesellschaftspolitik als Ressourcenfrage also. "Man muss nicht die Milliarden bewegen und kann dennoch Akzente setzen und sich als tatsächliche oder vermeintliche Fortschrittskoalition positionieren", fasst Münch zusammen. Doch die Taktik hat auch ihren Preis: Galgen mit darunter baumelnden Ampeln bei Demos etwa, Steinwürfe auf Grünen-Politiker und Hass-Posts im Internet. 

    Reizthemen habe es immer schon gegeben, früher gerade mit Blick auf das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Aber eben nicht diese extreme Zuspitzung – und auch keine digitalen Netzwerke. "Das hat natürlich auch damit zu tun, dass diese Themen sich relativ leicht auch vom politischen Gegner instrumentalisieren lassen", erklärt Münch. "Wir haben das ja schon während des bayerischen Landtagswahlkampfs gesehen. Im Bierzelt kann einem ja nichts gelegener kommen als angebliche Essensverbote oder Sprachverbote. Die Leute wissen sofort, was gemeint ist."

    Die Digitalisierung hat zur Verrohung des Tons in den Debatten geführt.
    Die Digitalisierung hat zur Verrohung des Tons in den Debatten geführt. Foto: Christoph Dernbach, dpa (Archivbild)

    Der Soziologe Steffen Mau spricht in diesem Zusammenhang von Triggerpunkten. Empörung auf Knopfdruck quasi, oder, wie er es nennt, "Affektpolitik". Wenn Friedrich Merz von Zahnarztterminen spricht, die Geflüchtete den Deutschen angeblich wegnähmen, kann er, frei nach Mau, Sozialneid, Unzufriedenheit über das Gesundheitssystem und eine Grundhaltung gegenüber Migration gleichzeitig aktivieren und verstärken.

    Der Ton der Debatte ist rau und manchmal verletzend

    Münch sagt dazu: "Man kann damit wunderbar Wahlkampf führen. Das ist natürlich ein Geschenk für sogenannte bürgerliche Parteien, die diesem ganzen Reformgerede und dieser gesellschaftlichen Modernisierung skeptisch gegenüberstehen, aber vor allem wissen, dass ein nennenswerter Teil der Bevölkerung dem skeptisch gegenübersteht."

    Die Empörung auf Knopfdruck ist ohne das Internet nicht denkbar. Weil Hass, Lügen und Empörung in den sozialen Medien für Aufmerksamkeit sorgen, setzen sie den Ton in vielen Debatten. Der Philosoph Christoph Türcke, der bis 2014 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig lehrte, nennt das den "Katzenjammer der Digitalisierung". 

    Türcke hat zuletzt den Versuch unternommen, auch die Identitätspolitik und die Genderdebatte als Folgen der digitalen Revolution zu denken. Der zunehmend deregulierte globale Kapitalismus habe auf alle Felder der Gesellschaft übergegriffen. "Deregulierung bringt sofort Re-Regulierung mit sich, die dann viel detaillierter und feiner ausfallen muss, und entsprechend bürokratischer wird", sagt der Philosoph. Nun sei eben auch das Geschlechterverhältnis dereguliert.

    Wer in einer Blase sitzt, hat Angst vor dem Draußen

    Diese Deregulierung geht einher mit der digitalen Revolution. "Nun merkt man, man sitzt da drin, man kommt da nicht mehr raus. Je mehr man über das Internet machen kann, desto mehr gehen die persönlichen Direktkontakte zurück. Desto mehr sitzen die Individuen in Blasen, die nur noch audiovisuellen Kontakt zur Außenwelt haben", sagt Türcke. 

    Die Folgen seien inzwischen bekannt: Einerseits eine große Enthemmung in der Kommunikation. Andererseits wachse in den Blasen das Bedrohungsgefühl von außen, analysiert Türcke. "Blasen sind etwas hochsensibles, einerseits scheinbar geschützte Schonräume, anderseits können sie jederzeit zerplatzen." Mit der Konsequenz: "Ich bin persönlich betroffen heißt dann, ich bin persönlich bedroht", erklärt der Philosoph.

    Ein drohender gesellschaftlicher Konflikt wie um die Neufassung des Abtreibungsrechts dürfte so nicht befriedet werden können. "Ich glaube, dass das selbst den Koalitionären mittlerweile dämmert. Die Gesellschaft ist bei diesem Thema tatsächlich existenziell gespalten", sagt auch Stegemann. Sollte die Ampel diese Reform nicht mehr zu Ende bringen, könnte die Aufgabe Friedrich Merz zufallen. 

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