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Wolodymyr Selenskyj: Wie er zur Ikone der Freiheit wurde

Krieg in der Ukraine

Wie der ukrainische Präsident Selenskyj zur Ikone der Freiheit wurde

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    Foto aus anderen Zeiten. Wolodymyr Selenskyj während einer Veranstaltung zum Tag der Einheit auf dem internationalen Flughafen außerhalb von Kiew.
    Foto aus anderen Zeiten. Wolodymyr Selenskyj während einer Veranstaltung zum Tag der Einheit auf dem internationalen Flughafen außerhalb von Kiew. Foto: Uncredited, Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa

    Etwas müde wirkt sein Blick, die Ringe unter den Augen sind tiefer als sonst, wie sollte es auch anders sein. Hinter ihm liegen schwierige Nächte, vor ihm noch schwierigere Tage. Und doch ist Präsident Wolodymyr Selenskyj hellwach. Er trägt ein olivgrünes Shirt, darüber eine olivgrüne Strickjacke. Tarnfarben, wie sie auch seine Soldaten anhaben.

    Seit fast einer Woche tobt der Krieg in der Ukraine, und der 44-Jährige meldet sich beinahe im Stundentakt in den sozialen Medien. Er twittert, er dreht wackelige Videos mit seinem Handy, spricht mit seiner rauchigen Stimme direkt zum Volk. Am Dienstagnachmittag hat er einen seiner größten Auftritte. Er ist zugeschaltet von Kiew ins Europäische Parlament, wird mal laut, mal leise, er ist aufgewühlt.

    Ukrainische Rettungskräfte arbeiten vor dem beschädigten Rathausgebäude in Charkiw nach dem russischen Beschuss.
    Ukrainische Rettungskräfte arbeiten vor dem beschädigten Rathausgebäude in Charkiw nach dem russischen Beschuss. Foto: Pavel Dorogoy, AP/dpa

    „Wir kämpfen für unsere Rechte, für unsere Freiheit, für unser Leben. Und nun kämpfen wir ums Überleben“, sagt Wolodymyr Selenskyj

    Überlebensgroß erscheint er auf der Leinwand. „Wir kämpfen für unsere Rechte, für unsere Freiheit, für unser Leben. Und nun kämpfen wir ums Überleben“, sagt er. Er fordert die sofortige Aufnahme seines Landes in die EU. Es wäre seine Überlebensgarantie, und doch ist es unwahrscheinlich, dass sich sein Wunsch erfüllt. „Ohne euch wird die Ukraine alleine sein“, mahnt er. Die Ukraine habe ihre Stärke bewiesen. „Beweisen Sie, dass Sie bei uns sind. Beweisen Sie, dass Sie tatsächlich Europäer sind.“ Dann werde Leben gegen den Krieg gewinnen. Die Abgeordneten erheben sich von ihren Plätzen, applaudieren, einige haben Tränen in den Augen.

    Es ist kein guter Tag für Kiew. Bilder zeigen, wie ein gewaltiger Konvoi aus russischen Militärfahrzeugen auf die ukrainische Hauptstadt zurollt. Auf einer Länge von mehr als 64 Kilometern schlängelt sich die Kolonne aus Panzern und anderem Kriegsgerät über die Straßen. Stoppen kann sie wohl niemand.

    Selenskyj führt diese Schlacht, die Wladimir Putin ihm aufgezwungen hat, auf seine ganz eigene Weise. Wohl kaum ein Amtskollege aus den komfortablen Amtsstuben im Rest Europas hätte dem lange Unterschätzten das zugetraut, was er gerade leistet. Statt sich ins sichere Exil zu flüchten, ist er dort geblieben, wo die Kämpfe besonders heftig toben. Für nicht wenige Menschen ist der Präsident deshalb mehr als nur ein Staatschef – er ist ein Held. Es ist die Rolle seines Lebens.

    Experten sind sich sicher: Sobald dieser Präsident geschlagen ist, wird auch die Ukraine verloren sein. Umgekehrt heißt das: Selenskyj ist es, der die Kampfmoral der ukrainischen Armee ins beinahe Unvorstellbare hat wachsen lassen. Selenskyj ist es, der den Westen immer wieder an seine moralische Pflicht erinnert. Selenskyj ist es, der dem vermeintlich übermächtigen russischen Präsidenten seine Grenzen aufzeigt. Er ist der David, der gegen Goliath antritt. Ihm ist es gelungen, die gesamte freie Welt hinter sich zu versammeln.

    Es mag eine Frage von Tagen, vielleicht sogar nur Stunden sein, ehe Kiew in die Hände des Autokraten aus dem Kreml fällt – doch bis dahin kämpft Selenskyj seinen Kampf weiter. Das macht ihn zum Feindbild Nummer eins im

    Putin arbeitet sich an Selenskyj ab

    Je verzweifelter sich Putin an Selenskyj abarbeitet, desto mehr verfestigt sich das Bild: Auf der einen Seite der Herrscher alten Schlages, aufgedunsen, der sich an grotesk große Tische setzt, weil er sich vor dem Coronavirus fürchtet. Der von einer Welt träumt, die längst untergegangen ist, und mit Fotos, oberkörperfrei auf dem Rücken eines Pferdes oder beim Angeln, der zu einer Karikatur seiner selbst geworden ist. Auf der anderen Seite ein junger Familienvater, nahbar, wortgewandt, mutig – eine Ikone für das Streben nach Freiheit. Der Kontrast könnte größer nicht sein.

    Selbstverständlich ist all das nicht; Selenskyj hat eine erstaunliche Metamorphose hinter sich. Er kommt 1978 als Sohn einer Ingenieurin und eines Kybernetik-Professors zur Welt. Seine Familie ist jüdisch, daheim sprechen sie russisch wie so viele in der Ukraine. „Ich habe bisher alles unternommen, um die Ukrainer zum Lachen zu bringen. In den nächsten fünf Jahren werde ich alles unternehmen, damit sie nicht weinen müssen“, sagt er bei seiner Vereidigung im Jahr 2019.

    Damals lacht so mancher allerdings nicht nur mit ihm, sondern auch über ihn. Für einen Clown halten ihn viele. Zwar ist er studierter Jurist, doch sein Geld verdient er als Comedian und Schauspieler. Auf Arte wird aktuell die Serie wiederholt, die Selenskyj zum Star gemacht hat. „Diener des Volkes“ heißt sie. Die Handlung: Ein Geschichtslehrer, der zum Präsidenten aufsteigt – das Schicksal hat offenbar Humor.

    Zustimmungswerte für Selenskyj waren vor Ukraine-Krieg dramatisch gefallen

    Für den Schauspieler Selenskyj wird die Fiktion zur Wirklichkeit, nicht wenige schütteln den Kopf. Doch in der Ukraine ist damals die Sehnsucht nach einer politischen Figur, die es anders macht, die für Wandel steht, die nicht diesen undurchdringlichen Machtzirkeln entsprungen ist, größer als die Skepsis. „Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Menschen, die besonders charismatisch sind, die auf TV-Auftritten geschult sind, später einmal politische Ämter übernehmen“, sagt Christian von Sikorski, Professor für Politische Psychologie an der Universität Koblenz-Landau. „Wolodymyr Selenskyj ist da nur ein Beispiel, Donald Trump ist ein anderes, Arnold Schwarzenegger ein weiteres.“ Sie seien Menschen mit dem Talent, ihre Ideen auch schauspielerisch zu transportieren und zu verkaufen. „Wer das kann, ist im Vorteil.“

    Ob es auf Dauer reicht, das schien zweifelhaft. Bevor Putin seine Truppen aufmarschieren ließ, waren die Zustimmungswerte für Selenskyj dramatisch gefallen, nur noch 30 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer stellten sich hinter ihren Präsidenten. „Selenskyj haben einfach gewisse Eigenschaften für dieses Amt gefehlt“, sagt André Härtel, Osteuropa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik. „Er hat wenig Erfahrung in der Diplomatie, er kennt das politische System der Ukraine nicht gut genug.“

    Mehr als einmal verschätzt Selenskyj sich, als es darum geht, Mehrheiten für seine Pläne zu organisieren. Er kann deshalb seine Wahlversprechen nicht umsetzen. Allianzen zu bauen und Kompromisse einzugehen, das ist seine Sache nicht. Er isoliert sich. Noch wenige Tage vor Ausbruch dieses Krieges treibt er die Amerikaner fast in den Wahnsinn mit seinen wankelmütigen Aussagen, mit denen er ihre Warnungen vor Putin mal in den Wind schlägt, mal befeuert. „Insofern hilft ihm der Kontext dieses Krieges“, sagt Härtel. „Denn hier ist alles auf ihn als Oberbefehlshaber zugeschnitten, die anderen Institutionen spielen kaum noch eine Rolle, er kann Gefolgschaft verlangen.“

    Dieses von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlichte Bild zeigt Wladimir Putin, Präsident von Russland, beim Besuch einer Baustelle der Nationalen Raumfahrtbehörde.
    Dieses von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlichte Bild zeigt Wladimir Putin, Präsident von Russland, beim Besuch einer Baustelle der Nationalen Raumfahrtbehörde. Foto: Sergei Guneyev, Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

    Und er könne seine Qualitäten, die ihm in den Niederungen des politischen Alltags nicht mehr geholfen haben, wieder voll ausspielen: Selenskyj ist ein mitreißender Redner, er strahlt Empathie aus. Seine Umfragewerte schießen förmlich in den Himmel. „Man darf aber nicht vergessen: Auch um jeden anderen Präsidenten würden sich in diesem Krieg die Menschen sammeln, würden zu ihm aufschauen“, so Härtel.

    Selenskyj und Putin wurden in diesem Krieg auch zu Symbolen, zum Inbegriff des Kampfes Gut gegen Böse. Politik ist längst nicht so nüchtern, wie sie vorgibt zu sein, sie ist immer auch Emotion – für Kriege gilt das ganz besonders. Sollte Russland diese Schlacht gewinnen – und es wäre ein Wunder, sollte das nicht eintreten –, wären alle Gewissheiten, die sich die Europäer in den vergangenen Jahrzehnten zurechtgelegt hatten, förmlich pulverisiert. Putins Sieg wäre der Beweis dafür, dass ein Staatenlenker nur ruchlos genug sein muss, um sich über alle anderen zu erheben, der Beweis, dass sich ein einzelner Mann die Welt untertan machen kann. Putins Sieg würde den Frieden, der aus deutscher Sicht in Europa immerwährend schien, so flüchtig werden lassen wie das Gas, das Russland in deutsche Pipelines pumpt.

    „Was wir im Moment erleben, ist auch ein Informationskrieg“, sagt Professor Christian von Sikorski

    Vielen schwant, dass Wladimir der Schreckliche noch nach anderen ehemaligen Sowjetrepubliken greifen könnte. Das Schicksal läge in der Hand eines Tyrannen, der das Geschichtsbuch liest, als sei es ein Grundbuch. Der Wunsch, der den Westen derzeit so sehr eint, ist: Erst wenn dieses Regime zusammenbricht, wird die Welt wieder zur Ruhe kommen. Selenskyj weiß das, und er nutzt dieses Narrativ für sich. Die Weltöffentlichkeit ist seine Reservearmee. „Was wir im Moment erleben, ist deshalb auch ein Informationskrieg“, sagt Professor Christian von Sikorski. „Und das noch viel stärker, als das in vergangenen Kriegen der Fall war. Es ist kein neues Phänomen – aber es hat eine völlig neue Dimension bekommen.“

    Schon während der Golf-Kriege sei spekuliert worden, ob die Amerikaner ihre Angriffe auf Ziele im Nahen Osten so takten, dass sie zur besten Sendezeit geschehen. „Darüber können wir heute nur noch lächeln“, sagt von Sikorski. Durch die modernen Medien und die sozialen Plattformen sind die Akteure längst nicht mehr auf Sendezeiten angewiesen – Twitter, Instagram, TikTok und Youtube bringen die Frontlinie ständig und direkt in die Wohnzimmer der Menschen.

    Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht im Zentrum von Kiew via Smartphone zur ukrainischen Bevölkerung.
    Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht im Zentrum von Kiew via Smartphone zur ukrainischen Bevölkerung. Foto: Ukrainian Presidential Press Office/AP/dpa

    Es ist einer dieser kalten ukrainischen Vormittage in diesen Tagen. „Ich bin hier“, sagt der Präsident, er steht in der Bankowa-Straße im Zentrum von Kiew, in der Nähe des Präsidentensitzes. Wieder trägt er olivgrün. „Glauben Sie den Fälschungen nicht. Wir werden die Waffen nicht niederlegen, wir werden unseren Staat verteidigen“, spricht Selenskyj in die Kamera seines Smartphones und räumt in einem Rutsch die russische Kriegspropaganda ab, er habe längst das Land verlassen.

    In einem anderen Filmchen wendet er sich direkt auf Russisch an die russische Bevölkerung: „Stoppen Sie einfach jene, die Sie anlügen, die uns anlügen, die die ganze Welt anlügen.“ Die Videos, meist noch nicht einmal eine Minute lang, werden zehntausendfach, wahrscheinlich sogar millionenfach geteilt. Putin mag mehr Panzer haben, doch Selenskyj hat eine andere mächtige Waffe: Worte und Bilder.

    Putin mag mehr Panzer haben, doch Selenskyj hat eine andere mächtige Waffe: Worte und Bilder

    Der frühere Schauspieler beherrscht das Spiel mit den modernen Medien. „Seine Art der Kommunikation ist zum einen nach innen gerichtet, indem er der eigenen Bevölkerung klare Hinweise gibt, was gerade zu tun ist“, sagt von Sikorski. „Er wendet sich direkt an seine Soldaten, sagt ihnen: Ich bin da. Und das ist gerade ausgesprochen wichtig.“ Zum anderen schaffe er es so auch, mit einem weltweiten Publikum zu kommunizieren – bis hin ins abgeriegelte Russland. „Er schafft eine Art Gegen-Öffentlichkeit“, sagt von Sikorski. „Und er ist extrem geschickt darin.“

    Wirklich kontrollieren lassen sich auch diese Botschaften nicht. Russland und die Ukraine werfen sich gegenseitig Kriegsverbrechen vor. „Natürlich verfolgt Selenskyj auch strategische Interessen“, sagt von Sikorski. „Etwa wenn es um die Frage geht, wie viele russische Panzer ausgeschaltet wurden – das lässt sich kaum überprüfen.“ Gerade in den sozialen Medien seien viele Videos zu sehen, die aus dem Kontext gerissen werden, die bewusst Falschinformationen verbreiten.

    Auch – und vor allem – die russische Seite kämpft um die Meinungshoheit im Netz. Da gab es etwa den Versuch, Bilder vom Beschuss eines Kindergartens in Luhansk durch prorussische Separatisten in Zweifel zu ziehen. Angeblich sei das Einschussloch in der Wand in der Turnhalle von einem Bagger aufgerissen worden, hieß es vor allem auf Telegram. Das Beweismittel, ein Foto mit dem Bagger, erwies sich schnell als plumpe Fälschung – ein Eigentor für Moskau.

    Heldengeschichten können tragisch enden

    Doch auch Heldengeschichten haben den Haken, dass sie tragisch enden können. Putin will den ukrainischen Präsidenten lieber tot als lebendig sehen. Und selbst wenn er überleben sollte, wird Selenskyj gezwungen sein, seine eigene Transformation vom Komiker zum Staatsmann fortzuschreiben. „Auch Selenskyj wird dieser Konflikt eine gewisse Entwicklung abverlangen“, glaubt Osteuropa-Experte André Härtel. Irgendwann wird es nicht mehr um Schlachten und Kampfgeist gehen, sondern um Verhandlungen, Diplomatie. „Darin hat der Präsident wenig Erfahrung, diese Rolle liegt ihm nicht.“ Zwar habe er in den vergangenen Jahren durch den

    Wann auch immer dieser Krieg enden mag, er wird ein zerstörtes Land hinterlassen, schwer traumatisiert, mit Wunden, die nur schwer wieder zu heilen sind.

    Alle Informationen zur Eskalation erfahren Sie jederzeit in unserem Live-Blog zum Krieg in der Ukraine.

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