Jeden Samstag wird im Englischen Garten in München Cricket gespielt. Die Kugel schleudert ein Werfer über die Wiese, sein Gegner versucht sie mit einem breiten flachen Holzschläger wegzuschlagen. Cricket ist ein deutlich ruhigerer Sport als das verwandte Baseball, ein Spiel kann schon mal bis zu zwölf Stunden dauern. Dem Publikum erschließen sich die Spielregeln erst nach längerem Zusehen. Binesh Kumar Chinnari ist mit Cricket aufgewachsen. Er kommt aus Indien. Seit etwa fünf Jahren lebt er nun in Deutschland. Mit seiner "Cricket-Familie", wie er sagt, trifft er sich jede Woche. Es ist eine große Gruppe. 80 bis 90 Menschen gehören dazu. Die meisten kommen wie Chinnari aus Indien, ein paar sind aus Pakistan oder Bangladesch.
Allein in München leben heute etwa 15.000 indische Staatsbürger. In der gesamten Bundesrepublik hat sich die Zahl der indischen Einwanderer in den vergangenen drei Jahren verdoppelt. Die Summe der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten aus Indien stieg zuletzt auf 129.000. Die Inderinnen und Inder, die nach Deutschland ziehen, sind mehrheitlich hochgebildet oder kommen zum Studieren. Mittlerweile bilden Inder die größte ausländische Studierendengruppe an deutschen Hochschulen. Damit haben sie die chinesischen Studierenden überholt.
Binesh Kumar Chinnari hat seinen Bachelor in Indien absolviert. Danach wollte er nach Taiwan, doch seine Eltern waren dagegen. Er habe auch über die USA nachgedacht, erzählt der 27-Jährige. Seine Schwester lebe dort, doch der Lebensstil sprach ihn nicht an. Auf Deutschland kam er, weil das Studium kostenlos ist – und weil er alte Gebäude mag. "Meine Lieblingsstadt ist Rothenburg ob der Tauber", sagt er und schwärmt von der malerisch-mittelalterlichen Fachwerkhaus-Kulisse. Hochmodern klingt dagegen sein Studium der Mikro- und Nanotechnik an der Hochschule München.
In Indien herrscht ein Überschuss an Hochgebildeten
Student Chinnari passt mit seiner Fachwahl ins Bild: Viele Inderinnen und Inder sind hierzulande in der Tech-Branche oder als Ingenieure tätig. Das schlägt sich auch im Gehalt nieder: Im Mittelwert liegt es bei monatlich 5227 Euro gut 1500 über dem bundesdeutschen Schnitt. Die indischen Fachkräfte sind damit Bestverdiener aller Ausländergruppen.
Das merkt auch Madalina Dragalina. Sie betreibt eine Umzugsagentur in München. Solche Agenturen helfen Menschen, die neu nach Deutschland ziehen, beim Gang auf die Behörden, die Agentur sucht im Auftrag Wohnungen und die passende Schule für die Kinder. Dragalinas Kundschaft sei "sehr gut bezahlt und ausgebildet", sagt die Agenturchefin. Seit der Gründung der Agentur relosophy seien Inder die größte Kundengruppe. In den meisten Fällen betreut sie Männer im Alter von 30 und 45 Jahren, die einen Job in der IT-Branche haben. Die Familie komme dann häufig ein paar Monate später nach, erklärt Dragalina.
Indien überholt China und ist das bevölkerungsreichste Land der Erde
Es ist kein Zufall, dass so viele Menschen aus Indien nach Deutschland kommen. Der Software-Konzern SAP beispielsweise rekrutiert seit mehreren Jahren gezielt indische Fachkräfte. Hierzulande sind nach Angaben des Digitalverbands Bitkom 149.000 Stellen für IT-Fachleute unbesetzt. Unternehmen sehen sich gezwungen, ihre Suche auf das Ausland zu erweitern. In der Tech-Branche läuft dies eher problemlos. Viele Unternehmen in Deutschland sind englischsprachig ausgerichtet und Programmiersprachen weltweit einheitlich.
Englisch ist auf dem asiatischen Subkontinent Amtssprache und die Ausbildung gut. Indien baute schon in den 1950er-Jahren Technologie-Institute auf und zieht damit die Elite des Landes an. Beispielsweise besuchte Google-Chef Sundar Pichai ebenso wie Microsoft-Boss Satya Nadella derartige Ausbildungsschmieden. Die Technische Universität München führt seit dem Jahr 2001 eine enge Beziehung zu indischen Forschungsinstituten. Inzwischen sind daraus neun Partnerschaften entstanden. Zudem eröffnete die TU 2014 ein Verbindungsbüro in Mumbai – das frühere Bombay ist Finanz- und Wirtschaftshauptstadt des Landes. Das Forschungsinteresse der deutschen Wissenschaftler in Indien habe in den letzten Jahren deutlich zugenommen, sagt TU-Sprecher Ulrich Meyer. "Indien bringt jedes Jahr Tausende von sehr gut ausgebildeten Ingenieuren hervor, die oft auch gut für die IT-Branche geeignet sind. Daher verfügt Indien über einen riesigen Talentpool."
Das hat auch schon längst die Politik erkannt: "Indien ist ein junges Land, und Indien bringt jedes Jahr mehr Menschen in den Arbeitsmarkt rein als herausgehen", sagt Ralph Brinkhaus. Der CDU-Politiker ist Vorsitzender der Deutsch-Indischen Parlamentariergruppe im Bundestag. Der frühere Unionsfraktionschef steht im stetigen Kontakt mit Politikern, Wirtschaftsvertretern und NGOs in und aus Indien. "Das Land ist wirtschaftlich interessant, da bieten sich viele Chancen für uns", sagt Brinkhaus. Ethisch sei es oft heikel, Fachkräfte aus anderen Ländern zu holen, das könne schnell zu einem sogenannten Brain-Drain führen. "Das heißt, wir holen die besten Leute aus den Ländern raus und nehmen diesen Ländern eine Entwicklungschance. Das ist bei Indien ausdrücklich nicht der Fall, weil dort ein Überschuss an qualifizierten, gut ausgebildeten Menschen herrscht. Deswegen hat die indische Regierung auch ein Interesse daran."
Seit 2009 sitzt Brinkhaus im deutschen Parlament und hat miterlebt, wie die Beziehungen zu China unter Bundeskanzlerin Angela Merkel an Wichtigkeit gewannen. Indien hatten in vergangenen Jahrzehnten nicht viele weit oben auf dem Zettel. Dabei hat sich das Land in den vergangenen 20 Jahren rasant entwickelt. Um das Jahr 1991 war Indien fast pleite, wie der Experte Christian Wagner von der Stiftung für Politik und Wissenschaft erklärt. Es war die große Zäsur des Landes: Es folgten Wirtschaftsreformen, diese führten in den Neunzigerjahren zu einer Liberalisierung und einem Abbau an Bürokratie, ausländische Unternehmen investieren seither kräftig in Indien. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich in dem Zeitraum mehr als verzehnfacht. "Es ist wichtig, neben China einen zweiten Pfeiler in Asien zu haben", findet Brinkhaus. Die vielen Fachkräfte aus Indien stärkten langfristig auch die Zusammenarbeit beider Länder.
Deutschland und Indien schließen Migrationsabkommen
Indien boomt nicht nur wirtschaftlich. Nach Berechnungen der UN überholte es mit gut 1,4 Milliarden Menschen inzwischen China als bevölkerungsreichstes Land der Erde. Bundeskanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock und Arbeitsminister Hubertus Heil besuchten das Land, im Dezember 2022 gab es ein Migrationsabkommen, das die Visa-Vergabe für Fach- und Arbeitskräfte erleichtern soll. Doch Deutschland ist damit nicht allein. Weltweit wird um indische Fachkräfte gebuhlt. Etwa 32 Millionen Menschen aus Indien leben im Ausland, jedes Jahr verlassen zweieinhalb Millionen ihre Heimat. Meist auch wegen der Sprache Richtung USA, Großbritannien, Kanada und Australien.
"Die Leute, die zu uns kommen, das ist in Indien natürlich die Elite", sagt Indien-Experte Wagner über die IT-Fachkräfte. Eigentlich herrsche in Indien ein Fachkräftemangel, aber eben nicht unter den gut ausgebildeten Eliten, die sich Privatschulen und ein Studium leisten können. Fachkräfte fehlten im Handwerk und Fabriken. Je höher gebildet man in Indien sei, desto größer sei das Risiko der Arbeitslosigkeit. Ein Grund mehr, warum es junge Inder wie den Neu-Münchner Chinnari nicht nur zum Studieren nach Deutschland zieht.