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Wie Merz' Asylpolitik den Wahlkampf und die CDU spaltet

Migrationspolitik

Friedrich Merz geht ins Risiko: Er kann alles gewinnen – oder verlieren

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    Seit er sich in Ton und Inhalt der AfD annäherte, ist Friedrich Merz nicht mehr Antreiber, sondern Getriebener.
    Seit er sich in Ton und Inhalt der AfD annäherte, ist Friedrich Merz nicht mehr Antreiber, sondern Getriebener. Foto: Odd Andersen/AFP

    Es mag Zufall sein oder eine Ahnung der Programmverantwortlichen: In der ARD Mediathek ist seit Kurzem der Film „Die Getriebenen“ wieder verfügbar. Er blickt vor dem Hintergrund der Fluchtbewegungen 2015 „in die Hinterzimmer der Mächtigen, die vor allem eins sind: Getriebene, die zwischen politischer Verantwortung und dem atemlosen Tempo der sich überschlagenden Ereignisse in einer Ausnahmesituation Entscheidungen treffen“, wie es in der Inhaltsangabe heißt. Die realitätsnahe Fiktion findet gerade im politischen Berlin ihre Fortsetzung. Der Titel könnte sein: „Der Getriebene“. In der Hauptrolle: Friedrich Merz, CDU-Chef und Kanzlerkandidat der Union.

    Zum Getriebenen wird er am vergangenen Mittwoch, seit „Aschaffenburg“: Ein Afghane ersticht dort einen Zweijährigen und einen 41 Jahre alten Mann, weitere Menschen werden verletzt. Wie der Weihnachtsmarkt-Attentäter von Magdeburg hat er offiziellen Angaben zufolge psychische Probleme, beide sind vorher auffällig geworden, die Behörden wussten Bescheid, zogen aber weder den einen noch den anderen aus dem Verkehr. Merz lässt jede Zurückhaltung fahren, wenige Stunden nach der Messerattacke sieht er eine „neue Qualität einer völlig enthemmten Brutalität in Deutschland“. Plötzlich ist auch „Magdeburg“ kein Einzelfall mehr, sondern Teil einer Kette, eines Musters. „Ich weigere mich anzuerkennen, dass die Taten von Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg die neue Normalität in Deutschland sein sollen. Das Maß ist voll. Wir stehen vor dem Scherbenhaufen einer seit zehn Jahren fehlgeleiteten Asyl- und Einwanderungspolitik.“

    Der CDU-Chef und Unions-Fraktionsvorsitzende verschärft den Ton danach im Stundentakt. „Unserem Land wächst das Flüchtlingsproblem über den Kopf“, schreibt er in einer „MerzMail“. Auf einmal sind es nicht mehr einzelne Täter, es sind die Ausländer in Summe. Merz identifiziert „traumatisierte, alkohol- und vor allem drogenabhängige junge Männer“ als die größte Problemgruppe. Ob die Statistik das hergibt, ist zweifelhaft. Aber die Schleusen sind geöffnet, es gibt kein Halten mehr. Von „tickenden Zeitbomben“ spricht der Christdemokrat mehrfach. Menschen als „Zeitbomben“? Immerhin da scheint Merz noch Hemmungen zu haben, er schreibt diese ungeheuerliche Bemerkung als Zitat einem namentlich nicht genannten „Landrat aus Baden-Württemberg“ zu.

    Merz lässt jede Zurückhaltung fahren

    Rückblende auf den Abend des 20. Dezember 2024: In Magdeburg rast ein in Saudi-Arabien geborener Mann mit seinem Wagen in die Menge auf dem Weihnachtsmarkt. Sechs Menschen werden getötet, Hunderte verletzt. Merz reagiert da noch betroffen. „Das sind sehr bedrückende Nachrichten aus Magdeburg“, schreibt er auf X. „Meine Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. Ich danke allen Einsatzkräften, die sich vor Ort um die Verletzten kümmern.“ Seinen Leuten in der Partei verordnet er Zurückhaltung, er selbst formuliert moderat. „Wir dulden zu viele Menschen in Deutschland, die sich nicht integrieren wollen“, schreibt er in seiner wöchentlichen „MerzMail“. Gleichzeitig differenziert er darin zwischen Einzeltätern aus dem Ausland und den Menschen, die „aus vielen Ländern der Welt zu uns gekommen sind, in Deutschland familiär und beruflich Wurzeln geschlagen haben, und die nicht unter den Generalverdacht einer ausländerfeindlichen Stimmung geraten dürfen“. Der Kanzlerkandidat wirkt nachdenklich, seine Botschaft ist klar: Der Anschlag von Magdeburg soll nicht den Wahlkampf prägen.

    Mit „Aschaffenburg“ ändert sich alles, ändert sich Merz: Er fasst seine Ideen zur Asylpolitik in einem „Fünf-Punkte-Plan“ zusammen, er geht wie selbstverständlich davon aus, dass SPD und Grüne den Plan mittragen. Doch die weichen entsetzt zurück, sehen Verstöße gegen geltendes Recht. An diesem Mittwoch nun will Merz seinen Plan als Antrag ins Parlament einbringen. Es ist eine direkte Reaktion auf die Regierungserklärung, die Kanzler Olaf Scholz (SPD) vorher halten wird. Was ein Befreiungsschlag werden soll, droht mangels Unterstützung jedoch wirkungslos zu verpuffen. Und um ihn herum wird die bis dahin siegessichere CDU unsicher und mutlos. „Das ist alles nur noch eine große Scheiße“, sagt einer aus der CDU-Spitze. Der Mann fällt sonst nie durch Kraftausdrücke auf, er ist in langen Politikjahren erfahren und zählt zu den Besonnenen in der Bundespolitik. Andere benutzen Wörter wie „Mist“ oder „Abgrund“. Gemeint ist die Lage, in der sich die Partei jetzt angeblich befinde. Gemeint ist die Lage, in die Friedrich Merz sie gebracht hat.

    Doch ist sie wirklich so schlecht? Kann es nicht sein, dass gerade der neue harte Ton, die Kurswende den Einzug von Merz ins Kanzleramt wahrscheinlicher macht? Dass es honoriert wird, dass er Klartext redet und sich als Macher präsentiert? Dass er sagt, was viele Bürger doch ganz offensichtlich denken? Der Ausgang ist ungewiss. Gewiss ist: Merz ist ins Risiko gegangen. Er kann alles gewinnen. Oder eben vieles verlieren.

    Die AfD frohlockt – und wirft der Union Ideenklau vor

    Drei Anläufe brauchte der Sauerländer, um CDU-Vorsitzender zu werden. Damit hatte er das erste Zugriffsrecht auf die Kanzlerkandidatur. CSU-Chef Markus Söder bot sich als Alternative an, aber Merz hält sich für alternativlos, das vorzeitige Ampel-Aus sicherte seine Position ab. In den wenigen Wochen bis zur Bundestagswahl ist schlichtweg keine Zeit mehr, einen anderen Spitzenkandidaten zu positionieren. Zunächst lief es ganz nach dem Geschmack der CDU. Merz machte seine Sache nach Einschätzung vieler Parteimitglieder gut. Er hielt Kanzler Scholz in den Debatten und in den Umfragen auf Abstand. Alles schien auf einen ungefährdeten Wahlsieg am 23. Februar zuzusteuern. Bis „Aschaffenburg“.

    Seit er sich in Ton und Inhalt der AfD annäherte, ist Merz nicht mehr Antreiber, sondern Getriebener. Die „Alternative für Deutschland“ frohlockt, wirft der Union plakativ Ideenklau vor. Sie zieht einen alten CDU/CSU-Antrag aus der Schublade und droht damit, ihn einzubringen. Merz muss als Fraktionsvorsitzender sofort reagieren, an diesem Freitag will er den Antrag selbst zur Abstimmung stellen. Doch die AfD wird wohl für das Papier stimmen. SPD und Grüne werden es voraussichtlich nicht tun. Vom Bündnis Sahra Wagenknecht ist zu hören, dass es das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz mittragen werde, nach aktuellem Stand jedoch nicht den Unionsantrag mit dem Fünf-Punkte-Plan. Die Lage ist unübersichtlich. Die FDP, die man fest an der Seite von Merz wähnte, sieht am Dienstagabend noch Beratungsbedarf. Eintreten könnte genau das Szenario, das Merz unbedingt vermeiden will: Die AfD wird für die Union im Bundestag zum Mehrheitsbeschaffer. Dabei müsste er dringend die Initiative zurückgewinnen, um nicht tiefer im Treibsand der immer aufgeheizteren migrationspolitischen Debatten zu versinken.

    Eine Forsa-Umfrage sorgt für Unruhe in der Union

    In einer am Dienstag veröffentlichten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag von RTL und ntv ist die Union zwischenzeitlich um drei Zähler auf 28 Prozent abgerutscht. Während die AfD, um es für Merz noch schlimmer zu machen, zwischenzeitlich von 19 auf 21 Prozent kletterte. Die Werte der Meinungsforscher sind so volatil wie die politischen Entwicklungen. Sogar die SPD legt laut Forsa leicht zu. Das ist praktisch die Höchststrafe für den Sauerländer. Die Umfrage deckt bereits den Zeitraum nach „Aschaffenburg“ ab und lässt den Schluss zu, dass sich die Kurswende von Merz hin zu einer harten Asylpolitik für ihn nicht auszahlt. Es gibt Fehlertoleranzen in solchen Umfragen, es gilt nun zu schauen, ob weitere Erhebungen diesen Trend bestätigen. Doch im nur noch kurzen Wahlkampf läuft gerade vieles gegen Merz. Er weiß, dass er die Flucht nach vorn antreten muss. Und dabei schreckt er vor nichts mehr zurück.

    Zum Entsetzen seiner Wahlkampfstrategen dringt Merz auf gemeinsame TV-Auftritte nicht nur mit Kanzler Scholz und Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck, sondern auch mit AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel. Das sei „seine feste Absicht“, sagte er dem Medienhaus WMH. Seine Begründung sagt viel aus über den 69-Jährigen: „Eine Diskussion zu viert ist für die Wählerinnen und Wähler sicher erhellend.“ Das ist wohl nett gemeint, offenbart aber ein steinzeitliches Medienverständnis. Als es nur drei Programme gab und sich die Familie um einen Schwarz-Weiß-Fernseher versammelte, funktionierte diese Art der Meinungsbildung noch. Inzwischen gibt es eine Vielzahl anderer Informationskanäle. Die Prognose ist alles andere als gewagt: Noch während Merz im TV-Duell seine Sätze sprechen wird, wird die AfD sie zerpflücken und für ihre Zwecke nutzen.

    Warum der Chef so handelt? In der CDU schütteln sie ratlos die Köpfe. Merz habe „völlig ohne Not“ eine Lawine ausgelöst, die ihn jetzt vor sich hertreibe, sagt eine CDU-Abgeordnete aus dem Präsidium. Er müsse rennen, um nicht unter den Ereignissen verschüttet zu werden. Die Ratlosigkeit geht über die Partei hinaus. Bei SPD und Grünen winken sie ebenfalls ab. Dem Merz sei gerade nicht zu helfen, heißt das. Medienleute sind verblüfft. Viele blicken auf 2015 zurück, als die Fluchtbewegungen zu heftigen Debatten in der Union führten. CDU und CSU standen kurz vor der Trennung, die damalige Kanzlerin Angela Merkel kurz vor der Abdankung. Aber selbst damals, so die nahezu einhellige Einschätzung, habe es zumindest noch einen Kompass gegeben.

    Niemand in Partei und Fraktion stellt Merz offen infrage. Aber es grummelt

    War das Merz-Manöver also ein Fehler? Nach außen hin gibt sich die Union demonstrativ gelassen. Die Diskussionen der vergangenen Woche ließen sich demoskopisch noch nicht abbilden, betont man. Und bis zur Wahl könne sich vieles bewegen. In der Union hoffen sie, dass Merz es noch irgendwie hinbekommt, die Dinge zu trennen: Auf der einen Seite muss er Klarheit in der Migrationsdebatte beweisen. Auf der anderen Seite fordern seine Leute die scharfe Abgrenzung zur AfD. Nur kleinste Anzeichen einer bröckelnden Brandmauer könnten Stimmen kosten, die Forsa-Umfrage vom Dienstag liefert einen Vorgeschmack. Schon jetzt ist eine gewisse Panik spürbar. Denn der nächste Bundestag wird kleiner, die AfD drückt, im Ergebnis droht der Verlust von Wahlkreisen, die seit Jahrzehnten in CDU-Hand waren.

    Niemand in Partei und Fraktion stellt Merz offen infrage. Aber es grummelt, einige zweifeln an, dass er tatsächlich der richtige Kandidat ist. Ihre Sorge gilt nicht allein der derzeitigen Situation, sondern auch und vor allem der Zeit nach dem 23. Februar. Mit wem will Merz regieren, wenn er Kanzler wird?

    Für den Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz ist diese Woche also eine vorentscheidende Woche. An deren Ende wird wohl klarer sein, ob er ein Getriebener bleiben – oder einen großen Schritt in Richtung Kanzleramt gemacht haben wird.

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    5 Kommentare
    Maria Reichenauer

    Von einem Kanzlerkandidaten kann man doch verlangen, dass er die Ereignisse differenziert sieht. Man kann doch nicht von Einzelfällen auf die große Zahl von Migranten schließen. Aber wer so unbeherrscht reagiert, wem jedes Mittel recht ist, der ist einfach nicht der richtige Kandidat als Bundeskanzler. Er hatte früher schon Aussetzer, wo er unwahre Behauptungen aufstellte (z.B. wegen der Zahnarzttermien der Asylbewerber), und jetzt bindet er sich die AfD ans Bein. Kann man noch unüberlegter handeln? Wie wird das sein, wenn dieser Mann Kanzler wird? Wenn Trump einen seiner Pfeile loslässt? Vor diesem Mann muss man sich fürchten – er ist zerfressen von Machtgier und von Vorurteilen und er ist skrupellos bis zum Anschlag.

    Walter Koenig

    Merz ist doch nur en Schaumschläger, er gibt den starken Mann, aber jeder Mensch mit etwas Lebenserfahrung und Menschenkenntnis sieht, dass er es eben nicht drauf hat. Er ignoriert Fakten, er kopiert 1:1 die Hassparolen der AfD, und so jemand will Kanzler werden?

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    Peter Zimmermann

    Bei Trump hat es geklappt ob aber seine Trumpeleien vom deutschen Wähler goutiert werden ist noch mit einem großen Fragezeichen versehen. Wenn dem Wähler zu viel Ängste eingeimpf werden kann das ganz schnell in die Hose gehen. Gerade wir müssten das wissen.

    Thomas Grüner

    Siehe da, es geht doch! Deutschland kann wieder auf die Schiene kommen, wenn der Wille vorhanden ist!

    Wolfgang Boeldt

    So groß ist das Risiko für Merz nicht. Ich finde eher schade, daß Aschaffenburg den Wahlkampf unverhältnbismäßig ändert. Auf diesen Zug hätte man nicht springen müssen. Er hat eine gesunde und demokrtische Haltung zum Komplex "Abstimmungsverhalten". Die CDU/CSU wird die Wahle gewinnen und das wissen alle anderen Parteien auch.

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