Herr Müller, vor zwei Jahren mussten Sie als Chef der Bundesnetzagentur dafür sorgen, dass es genügend Gas und Strom im Land gibt. Wenn Sie heute zurückblicken: Sind Sie zufrieden mit Ihrem Krisenmanagement oder gibt es einen Punkt, wo Sie sagen: Mensch Müller, da hätte ich besser sein können?
Klaus Müller: Es wäre arrogant, wenn irgendjemand im Rückblick auf ein Krisenmanagement behaupten würde, er hätte alles richtig oder optimal gemacht. Natürlich wünsche ich mir, dass wir die Digitalisierung des Krisenmanagements noch früher und noch schneller auf die Reihe bekommen hätten. Wir waren erst im Oktober 22 wirklich handlungsfähig. Da haben wir ein paar Monate lang angesichts der Drohungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin intern ganz schön gezittert. Whatever it takes war damals die aus der Not heraus geborene Devise. Das hat am Ende die Industrie beruhigt und, auch Dank der vollen Gasspeicher, die Preise wieder fallen lassen. Aber es hatte einen hohen Preis, den wir als Steuerzahler gezahlt haben. Insofern würde ich rückblickend sagen, wir hätten noch effizienter sein können. Und bei einer nächsten Gaskrise wären wir das auch.
Unter dem Eindruck der Gaskrise orderte die Bundesregierung in Windeseile schwimmende LNG-Terminals. Die waren nicht nur teuer, sie sind auch umstritten, weil LNG ein fossiler Rohstoff ist. War die Anschaffung im Nachhinein trotzdem richtig?
Müller: Ein uneingeschränktes Ja. Deutschland bekommt zwar stabil Gas aus Norwegen durch die Pipelines über die LNG-Terminals in Holland und Belgien. Aber es wäre komplett fahrlässig zu glauben, dass das eine resiliente, also eine wirklich widerstandsfähige Struktur für unseren Erdgasverbrauch wäre. Und ich weigere mich zu glauben, dass jeder Winter per se warm ist, dass die russische Kriegsstrategie schon am Ende ist und dass wir technische, aber auch andere Ausfälle immer vorhersehen können.
Was meinen Sie mit anderen Ausfällen?
Müller: Nehmen Sie die zeitweise Einstellung des Betriebs bei Freeport LNG in den USA in Folge des Wirbelsturms Beryl, den LNG-Streik in Australien oder den Unsicherheitsfaktor Naher Osten. In schönen, warmen, friedlichen Wetterzeiten hat Deutschland in der alten Struktur gut und preiswert gelebt. Aber sich auf solche Zeiten zu verlassen und dann auch nur national zu denken, ist zu kurz gegriffen. Es gibt in Europa Länder, die haben keine Küste und sind bis heute massiv von russischen Gaslieferungen abhängig. Jede Bundesregierung muss sowohl für kalte Winter wie für technologische und andere Herausforderungen, aber auch auf russische Kriegsstrategien vorbereitet sein. Darum ist eine eigene und vielfältige Importstruktur notwendig. Es ist eine Versicherungslösung - und so, wie sich jeder wünscht, seine Haftpflichtversicherung nicht wirklich in Anspruch nehmen zu müssen, ist doch jeder froh, dass er sie hat.
Es heißt immer wieder, dass über Umwege am Ende doch russisches LNG-Gas in Wilhelmshaven und den anderen deutschen Standorten anlandet. Stimmt das?
Müller: Wahrscheinlich beziehen wir über die deutschen LNG-Terminals nicht direkt russisches Erdgas. Wir kontrollieren nicht jedes Schiff, aber alles in allem halten wir das für unwahrscheinlich. Die Einschränkung ist, dass sowohl in Belgien, Frankreich und Spanien russisches LNG angelandet wird, das dann in das europäische Pipeline-Erdgasnetz eingespeist wird. Mindestens über Belgien bezieht auch Deutschland signifikante Mengen Erdgas, immer mal wieder auch aus Frankreich. Das heißt nicht, dass das europäische Sanktionsregime unterlaufen wird. Wir reden nicht über Rechtsverstöße. Aber es gibt das moralische Dilemma, dass wahrscheinlich russische Erdgasmoleküle im deutschen Erdgasnetz vorhanden sind. Aber die Menge ist glücklicherweise eher gering.
Aus den schwimmenden LNG-Terminals werden stationäre Anlagen. Die Laufzeitgenehmigung reicht bis 2043. Lässt sich verhindern, dass private wie gewerbliche Kunden sich darauf ausruhen und der Ausbau der Erneuerbaren darunter leidet?
Müller: Der Vorwurf, dass die LNG-Infrastruktur ein Pullfaktor für LNG-Gas ist, wird ja immer wieder von den Kolleginnen und Kollegen aus den Umweltverbänden erhoben. Das gibt die Empirie so nicht her. Es wird außerdem darauf geachtet, dass diese LNG-Terminals Wasserstoff ready sind. Zudem hält niemand Unternehmen oder Betreiber davon ab, schon vor 2043 umzustellen. Will heißen: Wir haben eine Versicherungslösung für die fossile Welt, und gleichzeitig wird in die künftige Wasserstoffwelt investiert. Das halte ich für absolut vernünftig.
Die einen sagen, Terminals wie Leitungen seien ohne großen Aufwand für grünen Wasserstoff nutzbar. Andere sagen, es müssten noch mal rund 50 Prozent der ursprünglichen Investitionskosten aufgewendet werden, um wirklich H2-Ready zu sein. Was sagen Sie?
Müller: Im großen industriellen Maßstab gibt es zu dieser Frage schlicht noch keine Erfahrung. Aber es gibt dazu momentan viele Testläufe. Ein ganz wesentlicher Punkt ist, dass man die Grundstücke und die nötigen Genehmigungen schon hat. Kosten sind das eine, die Zeiten, um sich die nötigen Strukturen zu sichern, sind mindestens genauso relevant. Im Kontext mit der Genehmigung des Wasserstoff-Kernnetzes sehen wir, dass die Umstellung von Leitungen kostengünstiger und technologisch einfacher ist, als man das befürchtet hat. Bei den Terminals wird es sehr stark darauf ankommen, welche Stoffe genutzt werden.
Jetzt wird es kompliziert.
Müller: Kleiner Exkurs in den Chemieunterricht aus der Schule: Wasserstoff ist flüchtig und deshalb eine große Herausforderung. Wasserstoffderivate, Ammonium oder Ammoniak zum Beispiel, sind wesentlich robuster. Das heißt, es wird sehr darauf ankommen, für welchen technischen Weg, für welchen unmittelbaren Rohstoff sich die Importeure bei den Schiffen und die Terminals entscheiden. Das wird eine unternehmerische Entscheidung sein und ich würde mich mal heute aus dem Fenster lehnen und glauben, dass es mit Ammoniak deutlich leichter wird. Mit Wasserstoff werden wir höhere Umstellungskosten sehen, aber das wird die Erfahrung zeigen. Und wie immer wird es Skaleneffekte geben. Der erste zahlt ein höheres Lehrgeld, hat aber im Markt den first mover advantage. Die, die nachfolgen, werden davon profitieren, und es kostengünstiger hinkriegen.
Dem regenerativen Wasserstoff gehört die Zukunft, haben Sie mal gesagt. Vor drei Wochen hat das Kabinett erleichterte Genehmigung von Elektrolyseuren beschlossen, um den Hochlauf der Wasserstofferzeugung zu beschleunigen. An der Nationalen Wasserstoffstrategie wird seit vielen Jahren schon gearbeitet. Verliert die Industrienation Deutschland gerade den Anschluss?
Müller: Ich weiß, dass diesbezüglich gerade viel geklagt wird. Aber beim Thema Wasserstoff würde ich tatsächlich widersprechen. Deutschland ist eines der ersten EU-Länder, das eine Gesetzgebung für Wasserstoff auf den Weg gebracht hat. Nach Holland und Belgien bauen wir jetzt das dritte Wasserstoff-Kernnetz in Europa. Wir haben mit der schon erwähnten Importstrategie Vorbereitungen getroffen. Es gibt viele Punkte, die man in der Energiepolitik kritisieren kann, keine Frage. Aber beim Thema Wasserstoff ist Deutschland mindestens auf Bronzemedaille-Kurs.
Mit Blick auf das Wasserstoff-Kernnetz beklagen Länder wie Bayern und Baden-Württemberg ein Nord-Süd-Gefälle. Können Sie die Kritik nachvollziehen?
Müller: Wir hören diese Kritik auch. Wir haben jetzt die dritte Konsultationsrunde, die in diesem Kontext stattfindet. Dabei weisen wir erstens gerne darauf hin, dass es kein staatlich konzipiertes Netz ist. Die Fernleitungsnetzbetreiber haben mehrfach bei allen potenziellen Kunden nach belastbaren Projekten für Elektrolyseure und für neue Verbraucher nachgefragt. Sie können nur mit den Meldungen arbeiten, die sie aus den Ländern erhalten haben. Darauf aufbauend haben die Fernleitungsnetzbetreiber ihren Vorschlag eingereicht, den prüft die Bundesnetzagentur. Damit sind wir auch noch nicht ganz durch, wollen aber Ende September damit fertig sein. Es ist also ein Vorschlag aus der Wirtschaft heraus, da wird niemand diskriminiert. Hinzu kommen geografische Unterschiede. Es kommt mehr Wasserstoff aus dem Norden, weil da die Küsten, die Einspeisemöglichkeiten aus Norwegen, Belgien oder Holland liegen. Das muss in den Süden transportiert werden, das bildet sich im Netz unterschiedlich ab.
Also eben doch mehr Netz im Norden und weniger im Süden?
Müller: Es ist nur das Kernnetz, also der erste Schritt. Wir haben jetzt schon mit dem Szenariorahmen für die sogenannten Netzentwicklungspläne begonnen, also den weiteren Ausbauplänen. Es wird ja gerne das Bild der Autobahnen und Landstraßen bemüht. Und so, wie sich eine Verkehrsinfrastruktur Jahr für Jahr weiterentwickelt, kann das auch für die Wasserstoffinfrastruktur gelten. Je nach Bedarf kann es eben auch im Süden hinweg weiter verfeinert werden. Es kommt auf die Investitionsvorhaben an.
Wie zufrieden sind Sie mit dem Ausbau der Stromnetze?
Müller: Stand August, die Zahlen sind taufrisch, sehen wir, dass wir auch dank der drei Beschleunigungsgesetze des Bundestages deutlich schneller werden. Im August letzten Jahres hatten wir 500 Kilometer an neuen Leitungen genehmigt, diesen August sind es 1900 Kilometer. Also eine knappe Vervierfachung. Das heißt, sowohl auf Ebene der Übertragungsnetzbetreiber wie auf Ebene des Gesetzgebers - und auch ein klein wenig innerhalb der Bundesnetzagentur - haben wir Geschwindigkeit aufgenommen und liegen absolut im Plan.
Zur Person Klaus Müller, geboren 1971 in Wuppertal, ist seit März 2022 Präsident der Bundesnetzagentur. Zuvor war er seit Mai 2014 Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv). Von 1998 bis 2000 war Klaus Müller Abgeordneter der Grünen im Deutschen Bundestag.
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