Wer soll Bundeskanzler werden? Schweigen. „Schwierige Frage“. Pause. „Merz.“ Lange Pause. Dann: „Mal was anderes.“
Berlin, beim Forsa Institut, nicht weit vom S-Bahn-Halt Tiergarten. Nicht Regierungsviertel, aber auch nicht zu weit weg. Man könnte sagen, ein guter Beobachtungsposten. Es ist später Nachmittag, ein paar Tage, nachdem die CDU erstmals mit der AfD gestimmt hat. Oder doch die AfD mit der CDU? Die Befragungsmaschinerie läuft. Die berühmten Telefon-Interviews. Wer ausnahmsweise zuhören darf, ist quasi direkt in Deutschlands Küchen. Und da ratscht es sich bekanntlich am besten.
Manfred Güllner gefällt das. Er ist der Leiter eines der bekanntesten deutschen Meinungsforschungsinstitute. Er ist jetzt 83. Der Professor könnte längst den Ruhestand genießen. Aber er hat sein Ohr gern bei Volkes Stimme. Jeden Tag bekommt er frische Zahlen auf den Schreibtisch. Wenn einer weiß, was Deutschland denkt, fühlt, also meint und dann wahrscheinlich wählt, dann doch er. Oder?
Woche für Woche die Sonntagsfrage, 500 Mal jeden Tag, seit Jahren
Es ist die Phase des Wahlkampfs, in der Deutschland darüber diskutiert, ob die „Brandmauer“ gefallen ist. Oder ob CDU-Chef Friedrich Merz nach dem tödlichen Angriff eines 28-jährigen Afghanen in Aschaffenburg nur taktisch geschickt Handlungsstärke markiert hat, um den Rechtspopulisten von der AfD nicht schon wieder die Deutungshoheit zu überlassen. Es gibt dazu sehr unterschiedliche Meinungen.
Wie zu allen politischen Themen. Und das Forsa Institut fragt diese ab. Woche für Woche, seit Jahren. Besonders wichtig, das Standardinstrument der empirischen Wahlforschung, die „Sonntagsfrage“. Eigentlich sind es mehrere. Am wichtigsten: Wenn man den Kanzler direkt wählen könnte, wen würden Sie wählen? Und: Wenn am nächsten Sonntag tatsächlich Bundestagswahl wäre, welche der folgenden Parteien würden Sie dann wählen?
„Das ist eine ganz schwierige Frage.“ Pause. „Herr Merz hat versucht, es mir auszureden, aber eigentlich würde ich CDU wählen.“
Tja. Eigentlich. Wen wählen? Nicht wenige Amtsträger sagen, dass Umfragen ihnen gleichgültig seien. Ein variantenreicher Umgang mit der Wahrheit gehört zum politischen Geschäft. Nichts aber ist vermutlich so glatt gelogen wie diese Behauptung. Natürlich: Umfrageergebnisse bestimmen die Debatte. Nachdem der Bundestag das von Merz zur Abstimmung gebrachte „Zustrombegrenzungsgesetz“ mit knapper Mehrheit abgelehnt hatte, wartete das ganze politische Berlin ungeduldigst auf „die ersten Zahlen“.
Forsa-Chef Güllner hat sein Ohr an Volkes Stimme
Güllner, leise, großväterliche Stimme, sitzt im topmodernen Konferenzraum in einer oberen Etage des kantigen Gebäudes, das Forsa hier bezogen hat. Hinter ihm hohe Glasscheiben, die den Blick auf die Straßen der Hauptstadt freigeben. Da unten und hinter all den Fassaden, in den Büros, den Neubauwohnungen sind sie - die gar nicht mehr so unbekannten Wesen, die Wählerinnen und Wähler.
Der Soziologe hat Forsa 1984 gegründet. Davor arbeitete er für das Bonner Institut für angewandte Sozialwissenschaft, wurde Direktor des Statistischen Amtes der Stadt Köln, dann machte er sein eigenes Ding. Nach all den Jahren sagt er: „Man darf als Politiker nicht panisch reagieren, wenn die Zahlen kommen. Das ist allerdings das, was heute passiert. Man muss die Zahlen gelassen hin- und sie zugleich ernst nehmen. Dass Armin Laschet zum Beispiel als Unions-Kanzlerkandidat keine Chance haben würde, war klar. Das hatte mit seinem Lachen gar nichts zu tun. Die Zahlen der Union gingen nach unten, sobald seine Nominierung bekannt war.“ Zugleich warnt Güllner davor, inhaltlich-politische Entscheidungen an der Mehrheitsmeinung auszurichten. „Das darf man nie machen. Wenn es danach ginge, hätten wir in Deutschland wieder die Todesstrafe einführen müssen.“
Der Forsa-Chef hat eine leise Stimme aber sehr klare Meinungen - auch zu Merz
Güllner selbst ist SPD-Mitglied und war 1969 das jüngste Mitglied im Kölner Stadtrat. Er zumindest hat kein Problem damit, Wahlforscher und Sozialdemokrat zu sein. Er sagt: „Ich habe als Person ja zu allen möglichen Themen meine Meinung. Insofern stört die SPD-Mitgliedschaft auch nicht mehr als wäre ich Vegetarier und die Fleischfresser würden mich beschimpfen. Die persönliche Einstellung ist von Forschungsergebnissen zu trennen. Das ist eine Grundvoraussetzung, die die empirische Sozialforschung wie alle Wissenschaften grundsätzlich immer beachten muss.“ Den Gedanken, dass er um seines Instituts willen aus der Partei austritt, verwirft er. „Ich bin kein aktives Mitglied, nicht in der Landes- oder Bundespolitik tätig, auch wenn das möglich gewesen wäre.“ Dass er mit seiner Partei zimperlich umginge, lässt sich jedenfalls nicht behaupten. Über die Genossen sagte er einmal: „Seit Jahrzehnten ist die SPD immun gegen die Realität.“ Und zu den Grünen meint er: „Wenn eine kleine elitäre Minderheit der oberen Bildungs- und Einkommensschichten der Gesellschaft der großen Mehrheit der Andersdenkenden ihre Werte durch Belehrungen oder Verbote aufzwingt, kann das wohl als eine Art Diktatur gewertet werden.“
Güllner spricht zwar bedächtig-gedämpft, aber hat sehr klare Meinungen. Auch zu Merz und der Brandmauer: „Ich glaube nicht, dass sein Manöver klug war. Schon vor dem Anschlag in Aschaffenburg hat eine Mehrheit der Menschen in diesem Land gesagt, dass die Migrationsgesetze verschärft werden müssen. Dass jetzt mit der Brechstange durchsetzen zu wollen, halte ich für falsch.“ Die Leute würden erwarten, dass sich die Politiker in dieser Frage zusammenraufen. „Wahlstrategisch ist die wirtschaftliche Lage das wichtigste Thema, darauf sollte Merz sich konzentrieren, denn da besitzt die SPD in der Wahrnehmung der Leute überhaupt keine Kompetenz.“
Er muss es wissen. 2500 Interviews führen die Telefonisten pro Woche an den Werktagen. Immer zwischen 16.30 und 21 Uhr. 125.000 pro Jahr. Natürlich wird nicht nur Wahl-, sondern auch Marktforschung betrieben, aber für die politischen Analysen ist Forsa bekannt. Drei Telefonzentren gibt es. In Berlin, in Dortmund und Frankfurt am Main. Die „Sonntagsfrage“ wird jeden Werktag 500 Mal gestellt.
Unterschied zwischen Umfrage, Prognose, Hochrechnung und Wahlergebnis
Natürlich nicht nur von Forsa. Es gibt Konkurrenz. Etwa die Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF. Den ARD-Deutschlandtrend von infratest dimap, das Institut für Demoskopie Allensbach (FAZ) oder Yougov, bei dem die Deutsche Presse Agentur der Hauptauftraggeber für politische Umfragen ist. Alle arbeiten mit unterschiedlichen Methoden. Allensbach zum Beispiel führt nur mündlich-persönliche Interviews. Mit Marktforschung, sagt Güllner, könne man auf jeden Fall mehr Geld verdienen als mit Wahl- und Meinungsforschung. Aber Forsa sei über die Jahre organisch gewachsen, mache rund 12 Millionen Euro Umsatz und schreibe schwarze Zahlen. Es interessiert eben, was die Leute interessiert. Gerade vor Wahlen.
Nächstes Telefonat: Was sind die größten Probleme in Deutschland? „Die politische Landschaft“. „Die Ukraine“. „Dass es friedlich bleibt in Deutschland, dass die Rechtspartei nicht groß wird, die AfD“.
In der Wochen vor der Wahl sehen die verschiedenen Institute die extrem rechte Partei zwischen 20 und 22 Prozent. Die Union changiert zwischen 27 und 32 Prozent, dahinter folgen SPD, Grüne, Linke, FDP und BSW. Wie es dazu kommt? Und warum Wahlergebnisse von Umfragen (stark) abweichen können? Empiriker Güllner erklärt es so: „Jede Stichprobe hat eine Fehlertoleranz. Wir messen den Verlauf von Stimmungen. Und deswegen kann man unsere Arbeit nicht danach bewerten, ob die letzte Umfrage vor der Wahl ganz exakt war – oder wie weit sie vom Endergebnis abgewichen ist. Die Qualität unserer Arbeit kann man daran ablesen, ob wir die Entscheidungsprozesse adäquat abbilden können. Also erklären können, woran es lag, dass die Wahl so ausging, wie sie ausging.“
Beeinflussen Umfrageergebnisse Wahlentscheidungen?
Für die Abweichung von Umfrage- und Wahlergebnis gibt es verschiedene Gründe, sagt Güllner. Zum Beispiel: „In Deutschland sagt man nicht, dass man nicht zur Wahl geht. Deshalb können wir bis heute mit Umfragen den Anteil der Nichtwähler vor dem Urnengang nicht präzise ermitteln.“ Eine andere Möglichkeit wäre, dass Bürgerinnen und Bürger in Umfragen das Eine angeben, sich in der Wahlkabine nochmals umentscheiden. Das aber, sagt Güllner, sei eher die Ausnahme. „Es sei denn, es passiert in der Woche vor der Wahl noch etwas ganz Dramatisches.“ Und beeinflussen Umfragen selbst wiederum die Stimmung? Güllner sagt: „Umfrageergebnisse beeinflussen die Wahlentscheidung der großen Mehrheit nicht. Allenfalls eine kleine Gruppe eher taktisch denkender Wähler orientiert sich daran.“
Wie geht's Deutschland vor der Wahl? Nächster Anruf. „Bin zufrieden.“ Pause. „Aber ich habe eine Bekannte heute zum Arzt gebracht. Da waren 55 Leute im Wartezimmer. Damit bin ich nicht zufrieden.“
Das kann übrigens auch für die Arbeit der Meinungsforschungsinstitute gelten. Güllner ist das bewusst, aber er bleibt gelassen. „Als Ex-Kanzler Schröder noch gute Zahlen hatte, hat mich die CDU beschimpft. Die SPD dann nach den für sie schlechten Bundestagswahlen seit 2009.“ Die Kritik richte sich oft gegen die ganze Branche. Gerade vor Wahlen würden die Leute sagen: Man kann das so alles nicht machen. Aber er nimmt für sich und sein Institut in Anspruch, stets wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Dass Kritiker ihm selbst schon Suggestivfragen vorgeworfen haben, ficht ihn nicht an. Wo ist die Grenze zwischen Meinungsforschung und Meinungsgestaltung? „Es gehört zum Einmaleins der Sozialforschung, dass man Suggestivfragen vermeidet. Es kann sein, dass mal unglücklich formuliert wurde“, gibt er zu. Aber in Summe hält er die Kritik für großen „Unfug“. Er sagt: „Wie jede andere Branche können auch wir Fehler machen, aber wir geben uns Mühe, so nah es geht die Wirklichkeit abzubilden.“
Suggestivfragen sind zu vermeiden
Schlecht ist: „Herr Scholz schlägt vor, dass Unternehmen, die in Deutschland investieren, eine Prämie bekommen sollen. Was halten sie davon?“ Gut ist: „Es gibt den Vorschlag, dass Unternehmen, die...“ Natürlich muss eine repräsentative Umfrage auch einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung abbilden. Wenn also rund 40 Prozent aller Bundesbürger über 60 sind, müssen in der Stichprobe auch circa 40 Prozent über 60 sein. Und es muss in allen Bundesländern gefragt werden. In Stadt und Land. Und so weiter. Die Telefonisten von Forsa werden geschult, ihre Telefonate werden überprüft. Es gibt vorher Probeläufe. Güllner, das merkt man ihm an, hängt an seinem Institut. Damit es mündige Bürger gibt und keine Untertanen, „braucht es objektive Zahlen - um die Demokratie zu verankern.“
Also, was wird nun am Sonntag? Güllner blickt auf, schaut zunächst ein bisschen indigniert ob der bewusst provokant-ignoranten Frage, lächelt dann allerdings und erklärt ruhig: „Wie gesagt: Wir stellen keine Prognosen.“ Denn Prognosen, wie sie am Wahlabend gezeigt werden, basieren auf Befragungen von Wählern am Wahltag. Für die „Exit Polls“ werden in ausgewählten Stimmbezirken Wähler nach ihrer Stimmabgabe befragt. Natürlich sind auch deren Angaben mit Unsicherheiten belegt. Denn wo sie ihre Kreuzchen gemacht haben und was sie öffentlich sagen, muss nicht übereinstimmen. Das Wahlgeheimnis gibt es in Demokratien nicht ohne Grund. In die auf die Prognose folgenden Hochrechnungen werden dann erste Auszählungen einbezogen.
Was die eigentlich spannende Frage dieser Bundestagswahl ist
Die eigentlich spannende Frage, meint Güllner, sei nicht, wer vorne liegt. Wichtig sei, wie viele Parteien es ins Parlament schaffen. Und was das mit den Mehrheiten macht, wenn es BSW, Linke und FDP in den Bundestag schaffen. Was passiert, wenn es doch wieder ein Dreier-Bündnis gibt? Die Ampel war doch auch deshalb so schlecht gelitten, weil es immer so viel internen Streit gab.
Letzter Anruf. Was war wichtig diese Woche? „Die Diskussion in Berlin.“ Pause. „Die gehen mir auf die Nerven.“

Diese Damen & Herren haben auch die Niederlage von Trump gegen Harris vorhergesagt. Kaffeesatzlesen oder in Kristallkugeln gucken mit Katze auf dem Rücken ist da wohl genau so seriös.
Nein. Forsa hat keine Umfragen in den USA durchgeführt. Und die Umfragen in den USA wiesen unisono auf ein sehr knappes Kopf-an-Kopf Rennen hin.
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