Die Sirenen des Bombenalarms hatte Florian Westphal nicht gehört. Der Bunker, in dem der Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzende von „Save the Children Deutschland“ stand, war zu gut von der Außenwelt abgeschirmt. Dennoch bemerkte er den Luftangriff auf die südostukrainische Großstadt Saporischschja schnell, als auf einen Schlag dutzende Kinder in den Schutzraum eilten. Streng geordnet wie Soldaten trippelten sie an ihren Platz und setzen sich kerzengerade hin. Für einen Moment erschien Westphal alles so, wie es sein sollte: kleine Tische, niedrige Stühle, bunte Bilder an der Wand. Das Klassenzimmer einer Grundschulklasse eben, berichtet er. Nur die dicken Winterjacken, aus deren Ärmel sich die Finger kaum herauswagten, wollten nicht so recht ins Bild passen. Denn in dem Bunker war es kalt, Ende November hatte sich der Winter in der Ukraine schon angekündigt.
Es ist eine der Erinnerungen, die Westphal nicht aus dem Kopf will. „Beim Anblick der Grundschulklasse, die sich so geordnet und routiniert im Schutzraum einfindet, wird einem schmerzlich bewusst: Für diese Kinder ist der Krieg Lebensrealität“, sagt er. Jedes sechste Kind wächst laut dem neuesten Bericht der Kinderrechtsorganisation „Save the Children“ in einem Krisengebiet auf. Im vergangenen Jahr gab es 59 bewaffnete Konflikte, an denen sich Staaten beteiligten. Das seien so viele, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
2023 gab es 59 bewaffnete Konflikte – so viele, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr
Die meisten Kinder, die in einem Krisengebiet leben, befinden sich laut dem Bericht der Organisation auf dem afrikanischen Kontinent. „Eine der größten Krisen spielt sich derzeit im Sudan ab“, sagt Westphal. Das Land verzeichnete im vergangenen Jahr den höchsten Anstieg schwerer Verbrechen gegen Minderjährige, wo sich die Zahl seit 2022 mehr als verfünffacht hat. Setzt man jedoch die Zahl der Betroffenen ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, gilt der Nahe Osten als die gefährlichste Region: Dort lebt mehr als jedes dritte Kind in unmittelbarer Nähe eines bewaffneten Konflikts. Auch Angriffe auf Schulen – mit der Ukraine an der Spitze – und auf Krankenhäuser – insbesondere im Gazastreifen – haben dem Bericht zufolge dramatisch zugenommen.
Zudem leiden immer mehr Kinder unter den Folgen der Klimakrise. Extreme und häufige Wetterereignisse verschlechtern ihre Zukunftschancen, Mangelernährung und Armut verbreitet sich, Schülerinnen und Schüler müssen arbeiten, anstatt zu lernen. „Die Gewalt gegen Zivilisten und humanitäre Helferinnen und Helfer nimmt ebenfalls stetig zu“, sorgt sich Westphal. Auch der Zugang werde immer öfter verweigert, dabei hätten sich mehr als 60 Prozent der Fälle im Jahr 2023 in den besetzten palästinensischen Gebieten ereignet.
„Das Völkerrecht wird nicht respektiert“, kritisiert Westphal. „Die internationale Gemeinschaft sollte das internationale Recht durchsetzen und den Kinderschutz von den Konfliktparteien einfordern. Doch hier fehlt es oftmals am politischen Willen der einflussreichen Staaten.“ Der ehemalige Geschäftsführer der deutschen Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“ fordert: „Deutschland sollte im internationalen Kontext stärkeres Engagement zeigen und eine Führungsrolle bei der Durchsetzung des Völkerrechts übernehmen. Das ist unsere Verpflichtung, egal, in welcher Regierung.“
Von einer Verbindlichkeit, die Deutschland erfüllen sollte, spricht auch die Parlamentarische Staatssekretärin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bärbel Kofler. „Dabei geht es nicht nur um unsere moralische Verpflichtung. Grundsätzlich möchten wir ein verlässlicher Partner sein“, erläutert die SPD-Politikerin. Dem Entwicklungsministerium standen in diesem Jahr 11,22 Milliarden Euro zur Verfügung, was etwas mehr als zwei Prozent des gesamten Bundeshaushalts entspricht.
Kofler geht offen mit der früheren Kritik um, dass die deutsche Entwicklungshilfe hauptsächlich der Förderung eigener wirtschaftlicher Interessen gedient habe: „Wir haben unsere Politik neu ausgerichtet und eine Win-Win-Situation geschaffen – also einen Vorteil für die Partnerländer und auch für uns.“ Doch das politische Klima sei rauer geworden, Entwicklungszusammenarbeit müsse heute stärker erklärt werden als früher. Gleichzeitig fordert Kofler mehr Ehrlichkeit in der Debatte: „In einer globalisierten Welt gelingen die Zukunftsaufgaben Hungerbekämpfung, Krisenprävention, Klimaschutz und menschenwürdiges Leben nur gemeinsam. Zwischen den Rufen nach noch mehr Waffen geht das oft unter.“
Zwischen den Rufen nach noch mehr Waffen geht das oft unter.
Bärbel Kofler, Parlamentarische Staatssekretärin des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Gemeinsam mit Ulrike Bahr, der Vorsitzenden des Familienausschusses, organisiert Kofler öffentliche Veranstaltungen zu ihrer Arbeit. Die SPD-Politikerin Bahr erklärt: „Was wir nicht wollen, ist, mit dem moralischen Zeigefinger zu belehren. Wir müssen wirksame Strategien entwickeln und uns gezielt engagieren.“ Vorausschauendes Handeln sei unabdingbar, aber manchmal helfe Bargeld am schnellsten aus der Not, sagt Westphal: „Als ich in Kramatorsk in der Ostukraine war, haben wir den Familien direkt Geld in die Hand gegeben, damit sie ihre Fensterscheiben noch vor Wintereinbruch reparieren können.“
Schon vor Kriegsbeginn haben laut Westphal über 40 Prozent der Menschen in der Stadt im Donbass in Armut gelebt. „Doch nun sind es mehr als 80 Prozent. Und das sieht man auch, wenn man dort durch die Straßen läuft“, sagt der Geschäftsführer der Kinderrechtsorganisation. „Helfen wir nicht, haben die Menschen die größte Mühe, ihre Grundbedürfnisse zu decken.“ Westphal atmet tief aus, um die Bilder der zerstörten Straßen und Häuser loszulassen. Er versucht, sich die schönen Momente in Erinnerung zu rufen: „Ich begegne so vielen Kindern, die einen unglaublichen Optimismus ausstrahlen. Mich beeindruckt immer wieder, mit welcher Tatkraft sie ihr Leben trotz aller widrigen Umstände meistern.“
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden