Die blau-gelbe Flagge am Balkon in der Nachbarschaft beginnt langsam zu verblassen. Der heiße Sommer und die gleißende Sonne der letzten Wochen haben den Farben zugesetzt. Vielleicht ist dieser leicht mitgenommene Fetzen Stoff ein Symbol für all jene, die ausgelaugt sind von all den Krisen, die irgendwie entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch gehofft hatten, dass der Krieg in der Ukraine innerhalb weniger Wochen erledigt sein würde. Sechs lange Monate wird es am 24. August her sein, dass der russische Präsident Wladimir Putin seine Truppen einmarschieren ließ.
Doch das Leid der Menschen zwischen Kiew und Odessa rückt mit jedem Tag ein paar Zentimeter weiter in den Hintergrund. Wäre man zynisch, könnte man sagen: Die eigentliche Front verläuft nicht mehr im Donbass, sondern am Gaszähler im heimischen Keller. Ein Krieg in Europa, die fortwährende Corona-Bedrohung, eine lange nicht gekannte Inflation, die Energiekrise, der schwache Euro – multiple Krisen machen sich breit und nichts deutet darauf hin, dass sie sich bald in Luft auflösen. Das wohlige, sichere Leben, von dem die Politik die meisten großen Bedrängnisse fernhalten konnte, das Krieg und Verzicht nur aus den Nachrichten kannte, es scheint sich zu verflüchtigen. Schaffen wir das? Wie schaffen wir das? Oder schaffen die Krisen eher uns?
Noch gleichen die Bruchstellen eher feinen Haarrissen im Vergleich zu dem, was kommen könnte. Die Koalition streitet wie eh und je über Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger und überlegt, wo sie einen Gasersatz herbeischaffen könnte. Lobbyisten versuchen, ihre jeweilige Branche und deren Nöte in den Fokus zu rücken. Und die breite Masse der Menschen verschiebt die echte Sorge auf die Zeit nach dem Sommerurlaub und hofft, dass auch diesmal alles gut gehen könnte.
Deutschland hat lange keine Krise diesen Ausmaßes mehr erlebt
Sind wir nicht immer gut durch Krisen gekommen? Sogar die weltumspannende Pandemie konnte der Staat so weit zähmen, dass sie der Mehrheit nichts anhaben konnte. Die Ölkrise der 70er Jahre erscheint heute als nichts mehr als eine Fußnote. Und waren die Sonntagsfahrverbote im Rückblick nicht sogar irgendwie ganz romantisch – zumindest mit dem Wissen, dass danach nicht nur alles wurde wie früher, sondern sogar noch besser? Doch dass es auch diesmal so läuft, ist alles andere als gewiss. Zu tief sind die Einschnitte, zu gewaltig der Umbruch. Deutschland, das lange am Tropf billiger Energie-Importe hing, muss sich neu erfinden. Denn zumindest die Art und Weise, wie wir unseren Wohlstand sicherten und vermehrten, steht infrage.
Nun begleiten Umbrüche die Menschheit seit jeher. Und doch ist eines neu: „Wir waren über mehr als 70 Jahre lang verwöhnt, weil wir über diese lange Zeit keinen ernsthaften Krieg mehr in Europa hatten“, sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker, langjähriger Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. „Deshalb ist das, was wir erleben, eine große Veränderung.“ Deutschland und die schlechten Zeiten, das war über Dekaden zu einer Geschichte vom Hörensagen geschrumpft.
Aktuell aber werden Gewissheiten in kürzester Zeit geradezu pulverisiert. Selbst die Tradition von Willy Brandt, mit der Sowjetunion zu kooperieren und damit den Kalten Krieg zu beenden, sei kaputt gegangen. Die Welt zerfällt wieder in Blöcke. „Und zwar durch das Verhalten von Herrn Putin in Moskau“, sagt Weizsäcker. Das habe vieles in Gang gesetzt. Zwar wolle der Westen nicht aktiv in den Krieg eingreifen, aus den Kämpfen in der Ukraine keinen Dritten Weltkrieg werden lassen. „Aber was bleibt einem dann anderes übrig als Sanktionen?“, fragt von Weizsäcker. „Die aber erzeugen bei uns im Land, in Russland, aber auch in anderen Regionen der Welt wie etwa in Afrika, ganz neue Herausforderungen.“
Ernst Ulrich von Weizsäcker, Jahrgang 1938, ist Sozialdemokrat, Naturwissenschaftler und einer der Pioniere der deutschen Umweltpolitik. Mit Krisen kennt er sich aus. Lange Jahre fungierte er als Co-Präsident des Club of Rome, ist heute dessen Ehrenpräsident. Der Experten-Zusammenschluss warnte schon vor 50 Jahren anhand mathematischer Berechnungen: „Die Grenzen des Wachstums sind erreicht.“ Allein: Gehört wurde die Botschaft nicht. Obwohl die Prognosen mit knallharten Zahlen unterfüttert waren. Obwohl die Stimmen, die einen radikalen Wandel forderten, immer lauter, immer eindringlicher wurden.
Es war wie beim Arzt, der vor dem Krebs warnt und der Patient nimmt erst einmal einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er fühlt sich frei und verdrängt die eigene Abhängigkeit. War es nicht so: Solange es auf der materiellen Ebene stimmte, solange der Kontostand des Einzelnen nicht in Gefahr war, konnte die Gesellschaft die Bedrohung gut verdrängen. Der Wohlstand, ein deutscher Mythos, der uns über andere erhoben hat. Hat der Schock, den die Folgen des Ukraine-Krieges ausgelöst haben, etwas in Bewegung gesetzt? Braucht es zumindest die Ahnung eines Desasters um uns wachzurütteln?
Brauchen wir Krisen um uns zu ändern?
Einer, der sich Gedanken über den Lauf der Welt und das Handeln der Menschheit macht, ist der Philosoph und Buchautor („Das große Ja. Ein philosophischer Wegweiser zum Sinn des Lebens“/Goldmann Verlag) Christoph Quarch. Er sagt: „Katastrophen und Krisen mögen dazu gut sein, eine in Wohlstandstrance versunkene Gesellschaft zu wecken.“ Allein für sich würden sie aber keine Transformation der Gesellschaft bewirken. „Dafür braucht es etwas völlig anderes, nämlich Begeisterung“, ist Quarch überzeugt. „Das jedenfalls lehrt unsere Geschichte: Alle großen kulturellen und gesellschaftlichen Transformationen – und davon gibt es viele – kamen zustande, wenn ein neuer, anderer – oder wie im Fall der Renaissance alter – Geist zu wehen begann; wenn es etwas gab, wofür die Menschen sich begeistern konnten: die Vision eines anderen, besseren Lebens.“
Braucht es also vor allem eine neue „Erzählung“ der Krise? Müssten jene, die die Menschen mitnehmen wollen, den Wandel weniger als Bedrohung, sondern vielmehr als Chance beschreiben? Ja, glaubt der 58-Jährige. Gerade die aktuellen Krisen könnten sehr hilfreich für eine Vision sein. „Wie wäre es mit einem emissionsfreien, grünen, bunten und freien Europa? Wir wäre es mit entfesselter Lebendigkeit und Schönheit?“, fragt er. „Das sind schwache Worte, aber ich glaube zutiefst, dass die Sehnsucht nach dem, was sie bedeuten, stark ausgeprägt ist und sich wie eine noch unterseeische Tsunamiwelle auftürmen wird. Etwas ist im Schwange.“
Auch Weizsäcker spürt sie schon, die Welle – und das ausgerechnet in einem Feld, dem man nachsagt, an der aktuellen Situation nicht unschuldig zu sein: der Wirtschaft. Die höher-schneller-weiter-billiger Mentalität hat sich zu einem sich immer schneller drehenden Rad entwickelt, das gefährlich ins Schlingern gekommen ist. „In der ökonomischen Theorie hat sich durch diese Zeitenwende etwas dramatisch verändert“, sagt von Weizsäcker. „Ironischerweise würde ich aber sagen: es hat sich etwas verbessert.“ Denn die Warenströme auf der Welt wurden durch die Globalisierung zwar optimiert, aber das habe fatale Konsequenzen gehabt. Produkte, die am anderen Ende der Welt hergestellt wurden, konnten mit ihrem Billigpreis Produkte ausstechen, die in Deutschland oder Europa produziert wurden. „Die unendlich langen Lieferketten und die Maximierung der finanziellen Endresultate der Firmen waren eine massive Schwächung der Staaten“, sagt von Weizsäcker.
Die könnten kaum mehr freie Entscheidungen treffen, sie seien in einer Art Erpresser-Griff der Märkte gefangen. Die Auswüchse der Globalisierung hätten nicht nur die Kapitalismuskritiker mobilisiert, sondern auch den Rechtsextremisten ein Narrativ verschafft. „Das sind neue Phänomene, die es so im Jahr 1990 noch nicht gegeben hat“, sagt von Weizsäcker. „Doch das ist durch den Ukraine-Krieg massiv ins Wanken gekommen – und das mit Recht.“ Man habe gemerkt, dass etwa der in Asien produzierte Chip vollkommen absurd gewesen sei. Weizsäcker ist sich sicher, dass es gelingen wird, eine positive Vision zu entwickeln. „Jetzt gibt es in Deutschland ein neues Selbstbewusstsein: Wir können doch auch Chips herstellen“, betont der Umweltwissenschaftler. „Der Grund ist fürchterlich, aber der Effekt dieser Art von Zeitenwende ist eigentlich ein positiver.“
Kontrolle über Veränderungsprozesse behalten
Die Krise, sie leitet uns also mit straffer Hand und steigender Vehemenz zum Handeln an. „Tatsächlich spitzt die Weltlage sich zu, so dass Veränderungen unausweichlich sind“, sagt auch Christoph Quarch. Seine Diagnose ist so schlicht wie bestechend, denn sie führt zu einem einfachen Entweder-oder: „Entweder wir verändern uns aus freien Stücken oder wir werden unfreiwillig verändert“, sagt Quarch. „Ich meine, wir sind gut beraten, alles dafür zu tun, dass wir die Kontrolle über die Veränderungsprozesse behalten und verhindern, dass eine Katastrophe über uns hereinbricht.“ Unmöglich sei das nicht, denn so krisenhaft die Zeiten auch sein mögen, sei doch zumindest klar erkennbar, was zu tun ist.
Quarch zählt seine Sicht auf die Notwendigkeiten auf: konsequentes Umsteigen auf regenerative Energie, um dem Klimawandel zu begegnen; konsequentes Hinarbeiten auf eine gemeinsame europäische Union, um den geopolitischen Verwerfungen zu begegnen; konsequente Loslösung der Ideologie des globalen Marktes, um weitgehende wirtschaftliche Autarkie in Europa zu verwirklichen; konsequente Revision unseres Bildungswesens, um Gemeinsinn und demokratisches Bewusstsein zu stärken. „Das sind Mammutaufgaben, aber es wird nicht unmöglich sein, sie zu bewältigen, wenn es uns gelingt, aus unserer Wohlstandstrance zu erwachen und den Tatsachen in die Augen zu sehen“, sagt der 58-Jährige. „Tun wir das nicht, werden die Ereignisse ihren Lauf nehmen und unsere Kinder müssen sehen, wo sie bleiben.“
Vielleicht, so ist die Hoffnung, lehren die sich überlappenden Krisen die Menschen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und nicht allein auf politische Erlösung zu hoffen. Eine Erkenntnis könnte sein: In der Energiekrise haben wir zu lange gewartet - das darf in der Klimakrise nicht passieren. „Bisher war die Klimapolitik der westeuropäischen Staaten eigentlich erstaunlich mutig und vernünftig“, sagt von Weizsäcker. Doch sie habe sich beschränkt auf das, was Technologie und Infrastruktur versprachen. Autos wurden sparsamer, Produktionsprozesse sauberer. „Das persönliche Verhalten wurde nicht berührt, weil das sofort zu massiven Verstimmungen der Wählermasse führen würde“, sagt er. „Erst durch die fürchterliche Ukraine-Krise ist plötzlich das Volk bereit, schmerzliche Veränderungen mitzumachen.“
Das sei vorher lange anders gewesen, glaubt von Weizsäcker. Viel zu häufig werde der Politik der schwarze Peter zugeschoben, dabei hätten die Wählerinnen und Wähler schon mehrfach gezeigt, dass sie jene abstrafen, die ihnen Zumutungen verordnen. Weizsäcker erinnert an die Landtagswahl in Brandenburg im Jahr 2019, damals konnte die AfD ihren Stimmenanteil verdoppeln. Weizsäcker sieht einen klaren Zusammenhang mit dem vorher verabschiedeten Umweltschutzprogramm der Bundesregierung. Und doch meint er eine Veränderung zu erkennen: Schon bei der Bundestagswahl 2021, also nur zwei Jahre später, sei die Stimmung eine andere gewesen. Ausgerechnet Die Grünen, die für viele eine Art Verbotspartei sind, wurden für einen Augenblick sogar für kanzlerinnentauglich gehalten.
Genau aus solchen Phänomenen zieht Hedwig Richter ihre Hoffnung. „Kriege sind immer schrecklich. Auch dieser Krieg, der aber zugleich vieles in Bewegung gesetzt hat“, sagt die 49-Jährige. Sie ist eine der bekanntesten und angesehensten Historikerinnen des Landes. „Alle Umfragen zeigen uns doch, dass es der Bevölkerung vollkommen bewusst ist, dass etwas passieren muss“, erklärt Richter. „Ich habe aber häufig den Eindruck, die Politik nimmt das gar nicht zur Kenntnis, sie scheint weniger weit zu sein als die Gesellschaft.“ Dabei brauche es gerade in schwierigen Zeiten eine starke Führung, jemanden, der Dinge in Bewegung bringt. Richters These: Gerade Demokratien seien sehr gut geeignet, Krisen zu bewältigen und den Menschen Härten zuzumuten. „Man denkt immer, Diktaturen könnten einfach von oben herrschen – aber letzten Endes sind sie viel mehr auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen“, sagt die Historikerin. „Diktaturen können nicht einfach von roher Gewalt leben, das geht selten gut.“
DDR-Bürger rebellierten gegen "Erichs Krönung"
Schon in der DDR habe das SED-Regime sensibel auf Zumutungen des Alltags für die eigene Bevölkerung reagiert – selbst der Kaffee konnte zum Politikum werden. Als das Murren über den Kaffee-Ersatz (51 Prozent Bohnenkaffee, Getreidekörner und Hülsenfrüchte wie Erbsen, alles geröstet und gemahlen) zu laut wurde, bemühte sich das Regime, wieder richtigen Kaffee statt „Erichs Krönung“ einzuführen. „In einer Demokratie hingegen kann man den mündigen Bürgerinnen und Bürgern etwas zumuten“, sagt Richter. Das Beispiel von Wirtschaftsminister Robert Habeck zeige aktuell, dass eine solche Politik durchaus geschätzt werde: Der Grüne rangiert in der Liste der beliebtesten Politiker auf dem ersten Platz. „Dabei mutet er mit seiner Politik den Menschen wirklich etwas zu“, sagt sie.
Die Gesellschaft sei in der Lage Zusammenhänge zu verstehen, Prioritäten zu setzen, und ja: auch Verzicht zu üben. Heute gehöre es zur Wahrheit, dass der Wohlstand wohl nicht mehr steigen werde. Soziale Gerechtigkeit sei dann nicht mehr, dass es alle immer besser haben, sondern dass viele, vor allem die Reichen und Mittleren, weniger haben, so dass auch in Zukunft noch alle ein gutes Leben führen könnten. „Es wird auch Aufgabe des Staates sein, die Menschen davon zu überzeugen und dafür Regelungen zu schaffen, dass wir nicht mehr auf so breitem, ressourcenfressendem Fuß leben können wie bisher“, sagt Richter.
Es ist dieser Lernprozess, der womöglich gerade in die nächste Phase geht. Am Beispiel des Klimawandels lässt sich das zumindest erahnen. „Ich denke, dass die Zeiten vorbei sind, in denen wir etwa ganz unbeschwert die Umwelt zerstören konnten“, sagt Hedwig Richter. Das sei insofern tragisch, weil die Erkenntnis nicht neu sei. „Wenn wir in den Siebzigern angefangen hätten mit Veränderungen, wäre das jetzt alles viel, viel weniger schlimm“, sagt sie.
Müssen wir den Kapitalismus beerdigen?
Oder braucht es gar ein anderes System? Eine Abkehr vom Kapitalismus? Nein, sagt die Historikerin. „Um eine Transformation voranzutreiben, spielt durchaus auch die Innovationskraft des Marktes eine gewisse Rolle.“ Der technologische Fortschritt sei in der Lage Härten abzufangen und Veränderungen voranzutreiben. „Wir können heute etwa dank LED-Technik mit viel geringerem Aufwand einen Raum beleuchten als wir das vor 50 Jahren konnten“, sagt sie. „Das Problem ist, dass wir die Technik nicht immer nutzen, um Energie einzusparen, sondern um neben dem Zimmer auch noch den Himmel auszuleuchten.“ Deshalb sei es zwar richtig, auf die Kraft des Marktes zu setzen – aber eben nicht nur. Es brauche die Politik als Korrektiv.
„Was immer wieder sehr gut funktioniert hat, war, dass der Staat bestimmte Dinge verbietet oder vorschreibt“, sagt Richter. Das habe sich beim Verbot des Ozon-Killers FCKW gezeigt, aber auch bei der Einführung der Gurtpflicht im Auto. Tatsächlich war in den 70er Jahren ein wahrer Kulturkampf ausgebrochen, als Autofahrer sich anschnallen sollten. Die Wirksamkeit der Gurte wurde angezweifelt, Ängste geschürt, dass Menschen bei einem Unfall wegen des Gurts ihr Fahrzeug nicht verlassen können und verbrennen. Zum Vergleich: 1970 kamen 19.193 Personen im Straßenverkehr um – 2020 noch 2719. „Dass die Menschen aus sich heraus alles richtig machen und sich verändern und verzichten, das funktioniert nicht“, sagt Richter.
Und doch müssten die Menschen selbst entscheiden, auf welchen Pfad sie sich begeben – und sich bewusst machen, wohin der in Zukunft führen könnte. „Entweder auf den Weg in die Dystopie eines technologischen Überwachungsstaates nach chinesischem Vorbild, bei dem die Gesellschaft in eine algorithmisch optimierte Maschine konvertiert wird, die unter ökonomischen Gesichtspunkten zwar funktioniert, dabei aber jede menschliche Freiheit und Würde vernichtet“, sagt Quarch, der Philosoph. „Oder auf den Weg in die Utopie einer Re-Renaissance des europäischen Geistes der Humanität.“ Es sei dafür noch nicht zu spät. Deutschland habe gute Voraussetzungen: „Unsere sozialen, ökologischen und politischen Werte sind kraftvoll und wahr wie immer“, sagt er.
Ein Blick in die Zukunft
Wo also könnte unser Land stehen in 10, in 15 Jahren? „Ich bin kein Prophet“, sagt Ernst Ulrich von Weizsäcker. Auch den Überfall Russlands auf die Ukraine habe niemand vorhergesehen. „Aber ich hoffe, dass wir deutlich klimafreundlicher werden“, sagt er. Das könne einerseits durch technologischen Fortschritt geschehen, andererseits aber auch durch die Anpassung unseres Konsumverhaltens. Allerdings, so glaubt von Weizsäcker, würde diese Entwicklung wohl in mehreren Geschwindigkeiten vonstatten gehen. Länder wie Russland, Polen, Kolumbien, Südafrika, China oder Indien werden weiter auf Kohle als Energieträger setzen. Doch es werde auch Pioniere geben. „Deutschland wird stolz sein, weit früher als andere Länder aus der Kohle ausgestiegen zu sein“, prophezeit er dann doch. „In zehn Jahren werden die Wallstreet-Optimierer sagen: Großartig, Deutschland, ihr habt das geschafft und die anderen nicht.“
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Die Serie: Nicht nur die Welt ist im Umbruch, sondern auch in Deutschland macht sich die Gewissheit breit, dass sich unser Land verändern muss, um die Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Wie schaffen wir das? Diese Frage wollen wir in den kommenden Wochen in einer umfangreichen Serie stellen. Dabei soll es um Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Psychologie gehen.