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Warum die Kritik an Benjamin Netanjahu nicht abreißt

Israel

Israel ist in der Wut auf Benjamin Netanjahu vereint

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    Gadi Redem demonstriert gegen die Politik der israelischen Regierung. Die Familie seiner Tochter wurde beim Überfall der Hamas getötet.
    Gadi Redem demonstriert gegen die Politik der israelischen Regierung. Die Familie seiner Tochter wurde beim Überfall der Hamas getötet. Foto: Win Schumacher

    Ihr Protestschild ist ein Foto, wie es in jedem Familienalbum kleben könnte. Links der junge Vater, der das Selfie wohl im letzten Jahr gemacht hat. Rechts neben ihm seine Frau, die übers ganze Gesicht strahlt. Sie hält ihre Zwillingstöchter im Arm. Die Mädchen tragen weiße Sommerkleidchen. Der kleine Bruder will seinen orangefarbenen Ball mit im Bild haben. Gadi Kedem steht inmitten einer Gruppe von Demonstranten und hält das Bild stumm über seine rote Baseballkappe. Eine Aufschrift, einen Protest-Slogan, braucht das Schild nicht. Jeder versteht die Botschaft, die Gadi und seine Frau Reuma Kedem damit übermitteln wollen. „Das ist meine Tochter Tamar, ihr Mann Yonatan und meine Enkel Arbel, Shachar und Omer. Sie wurden alle ermordet.“ Als die Hamas am Morgen des 7. Oktober den Kibbuz Nir Oz angriff, hatte sich die Familie in ihren Schutzraum verschanzt. „Sie sind hier, sie verbrennen uns. Wir ersticken“, schrieb

    „Wir sind hier, weil wir nicht wollen, dass nun auch noch ihre Freunde in Gefangenschaft sterben“, sagt Gadi Kedem. An diesem Abend im März weht der kühle Frühlingswind die blau-weißen Fahnen der anderen Demonstranten über das Bild. Die meisten Israelis kennen die Geschichte der Kedem-Siman Tovs. Das ausgelöschte Glück der jungen Familie wurde zum Symbolbild für den Schmerz der überfallenen Kibbuzim – und vielleicht des ganzen Landes. Hier und jetzt auf der Tel Aviver Kaplanstraße, wo lange vor dem 7. Oktober Zehntausende gegen die rechtsreligiöse Regierung unter Benjamin Netanjahu demonstriert hatten, ist es jedoch nicht nur ein Bild der Trauer. Es ist ein Bild der Anklage.

    Rechte Regierung will Hamas zerstören

    „Wir wissen, wer dafür verantwortlich ist“, sagt Gadi Kedem. „Die Regierung hat weder ein Herz noch Verstand. Ihr fehlt jegliche Seele.“ Wie Gadi und Reuma Kedem demonstrierten in den vergangenen Tagen Tausende in Israel. Während immer mehr Menschen in Tel Aviv herbeiströmen, erreicht ein anderer Protestzug den Pariser Platz in Jerusalem, wo seit Wochen Demonstrationen gegen Netanjahu in der Nähe seines Amtssitzes stattfinden. Der Marsch war vor vier Tagen vom Kibbuz Re'im aufgebrochen. Dort hatte auf dem nahen Supernova-Musikfestival das größte Massaker der Hamas stattgefunden. Hunderte haben sich den Angehörigen der im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln angeschlossen, die ihre sofortige Freilassung fordern.

    Schon vor dem Krieg waren die Israelis auf die Straße gegangen. Kurz nachdem die rechtsreligiöse Regierung unter Benjamin Netanjahu angetreten war, nahmen monatelang Zehntausende im Zentrum Tel Avivs an den Kundgebungen teil, um gegen deren geplante Justizreform zu demonstrieren. Erst der Krieg brachte die Protestzüge zum Erliegen. Fünf Monate nach dem 7. Oktober tönt nun wieder das Stakkato der Trommler: „Wahlen jetzt!“, „Crime Minister“ und „Zerstörer Israels“ stehen auf den Schildern der Demonstranten. Diejenigen, die hier über Monate „Demokratie! Demokratie!“ gerufen hatten, skandieren jetzt „Du bist das Oberhaupt! Du bist schuld!“ Die israelische Regierung kämpft mit einem massiven Vertrauensverlust. 

    Wut auf Benjamin Netanjahu in Israel wächst

    Die Gründe, warum zuletzt wieder mehr Menschen auf die Straße gehen, sind unterschiedlich und teils gegensätzlich. Was die Angehörigen der Geiseln und Opfer des Terrorangriffs der Hamas, Gruppierungen, die Neuwahlen fordern, und Kriegsgegner eint, ist ihre erbitterte Wut auf Benjamin Netanjahu und seine Regierung. Das Schicksal der Geiseln habe der Ministerpräsident untergeordnet, um seine Koalition mit rechtsextremen Parteien und damit seinen eigenen Machterhalt nicht zu gefährden, glauben viele. 

    Erst kürzlich hatte Bezalel Smotrich, Finanzminister von der rechtsextremen Partei „Religiöser Zionismus“, einmal mehr den Zorn vieler Israelis auf sich gezogen, als er erklärte, die Rückkehr der Geiseln sei nicht die allerwichtigste Sache. Polizeiminister Itamar Ben-Gvir von der rechtsradikalen Partei „Jüdische Stärke“ forderte in dieser Woche gar ein Ende der Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln. Es sei notwendig, in "eine neue Phase intensiver Kämpfe” überzugehen, sagte er. Netanjahu weist selbst "den internationalen Druck zurück, den Krieg zu beenden", bevor Israel alle Ziele erreicht habe. Ob mit oder ohne neue Vereinbarung, "wir werden bis zum totalen Sieg kämpfen", bekräftigte er. Doch an den endgültigen Sieg über die Hamas glauben viele der Demonstrierenden ohnehin nicht. 

    "Wir werden nicht aufhören, zu protestieren"

    „Netanjahu-Smotrich-Ben-Gvir – Zur Hölle oder nach Den Haag“ hat ein Demonstrant auf der Kaplanstraße auf sein Protestschild geschrieben. Vor einer Woche hatte die Polizei nicht weit von hier mit Wasserwerfern und Reiterstaffeln Regierungsgegner und Angehörige von Geiseln auseinandergetrieben. Das Video eines Polizisten, der von seinem Pferd aus einem Demonstranten mit Wucht die Zügel auf den Kopf schlug und ihn über den Bordstein schleuderte, verbreitete sich rasend schnell in den sozialen Medien. 

    Auch an diesem Abend versuchen Sicherheitsleute, die Demonstranten daran zu hindern, die Straße zu blockieren. In Trauben durchbrechen aufgebrachte Menschen die Barrieren. Eine Gruppe setzt sich vor dem ins Stocken geratenen Verkehr im Schneidersitz auf die Straße. „Entlasst ihn jetzt!“, ruft die Menge auf Netanjahu bezogen. „Wahlen jetzt! Bring sie zurück! Jetzt!“ - „Jetzt! Jetzt!“, stimmt auch Reuma Kedem mit ein. Als Polizisten sie und ihren Mann zur Seite zerren, werden die Sprechchöre der Protestierenden immer lauter. Gadi Kedem blickt still auf das Bild der Familie seiner Tochter. „Wir werden nicht aufhören, zu protestieren“, sagt er.

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