Wenn der Druck hoch ist, kann man auf diplomatische Gepflogenheiten schon mal verzichten. Keir Starmer ist zu Besuch in Berlin, gemeinsam mit dem britischen Premierminister stellt sich Olaf Scholz am Mittwochmittag den Fragen der Journalisten. Und die wollen weniger zur Lage Großbritanniens und Europas hören, sondern zu der Frage, wie der Kanzler die Deutschen nach dem Messerattentat besser zu schützen gedenke. Scholz antwortet, und er tut es ausführlich, obwohl er natürlich weiß, dass das ein wenig unhöflich gegenüber seinem Gast aus London ist.
Aber Scholz kann jetzt nicht anders, er muss auf die Frage nach dem Kooperationsangebot eingehen, mit dem Friedrich Merz den Kanzler lockt. Zu viel steht gerade auf dem Spiel, wen interessiert im Moment die Weltpolitik, wenn das Fundament der eigenen Macht zerbröselt? Nach dem Messerattentat beim Solinger Stadtfest muss Scholz zeigen, was das Land sonst oft schmerzlich bei seinem Kanzler vermisst: Führungsstärke.
Die Ampel befindet sich im Endstadium
Es ist womöglich seine letzte Chance. Die Ampel, dieses Projekt, das vor zwei Jahren und knapp neun Monaten als sogenannte Fortschrittskoalition gestartet war, befindet sich im Endstadium. Sogar die eigentlich anstehende Kabinettsklausur Anfang September in Meseberg wurde abgesetzt, angeblich aus terminlichen Gründen. Gut möglich, dass ein schwaches Abschneiden der drei Ampel-Parteien bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen am Sonntag die Schieflage noch verschärft. Und dann steht in Brandenburg am 22. September mit Dietmar Woidtke auch noch ein SPD-Ministerpräsident auf der Kippe.
„Übergangskoalition“ nennt der Co-Chef der Grünen, Omid Nouripour, das Bündnis bereits. Und Wirtschaftsminister Robert Habeck quittiert das Unvermögen, die letzten Lücken im Haushalt 2025 gemeinsam zu schließen mit einem resignierten „Is halt so, ne“. Sogar SPD-Co-Chefin Saskia Esken räumt ein, dass der Regierungsstreit infrage stellt, „ob die Ampel eigentlich ernsthaft und verantwortungsbewusst zusammenarbeitet“. Wer über den Sommer mit Beteiligten in Berlin spricht, Regierungsmitgliedern und einflussreichen Abgeordneten, bekommt von allen Seiten die gleiche Einschätzung: Ein paar kleinere Projekte könne man noch schaffen, ansonsten aber sind die inhaltlichen Gemeinsamkeiten genauso aufgebraucht wie die gegenseitige Zuneigung des führenden Personals.
Der innerste Führungszirkel des Bündnisses funktioniert nicht mehr
Dabei sind es längst nicht mehr nur die äußeren Umstände, die Wahlergebnisse, die Versäumnisse in der Migrationspolitik, der Sparzwang, die miese Stimmung in der Wirtschaft, die die Ampel in die Knie zwingen. Inzwischen funktioniert auch der innerste Führungszirkel des Bündnisses nicht mehr. Einen wichtigen Beleg dafür lieferte am Freitag vor einer Woche der Spiegel. Das Magazin berichtete Details aus einer Unterredung, an der neben Bundeskanzler, Vizekanzler und Finanzminister nur noch deren drei engste Mitarbeiter teilgenommen haben. Dabei war nicht so sehr der Inhalt das Spannende, der in Berlin von mehreren Seiten bestätigt wird. In dem Gespräch zog sich Scholz kurzzeitig aus privaten Gründen zurück, so die Nacherzählung einer Telefonkonferenz von Mitte August. Die anderen blieben in der Leitung. Und dabei, so die Story, hätten sich Lindner und Habeck nur angeschwiegen, minutenlang, Stille in der Leitung.
Interessanter als dieser weitere, anschauliche Beleg für die zunehmende Zerrüttung in der Ampel, ist die Frage, wer die Begebenheit nach außen getragen hat. Wenn man sich in Berlin umhört, fällt der Verdacht rasch auf einen Mann: Wolfgang Schmidt, Scholz‘ umtriebiger und durchaus sympathischer Kanzleramtsminister, ein Mann, für den das Wort Spindoktor einmal erfunden worden sein muss. Schmidt also soll es gewesen sein. Sicher sagen lässt sich das freilich nicht. Was sich hingegen sicher sagen lässt: Wenn einer von sechs Teilnehmern einer Unterredung der Regierungsspitze plaudert, dann zerbröckelt der letzte Rest Vertrauen.
Die Zerrüttung der Regierungskoalition hat unvorstellbare Ausmaße erreicht
Die Zerrüttung der Regierungskoalition begann im vergangenen Herbst. Inzwischen hat sie Ausmaße erreicht, die selbst damals noch unvorstellbar waren. Lindner sagt schlimme Dinge, Scholz geht durch die Decke, Lindner und Habeck sind sich spinnefeind, man erhält in Berlin Bestätigungen für all das und noch viel mehr. Das Bündnis Scholz-Habeck-Lindner ist zerrüttet. Irgendwann in diesen Tagen, so berichtet es die Zeit, habe Lindner zu Scholz gesagt, wenn er eine andere Haushaltspolitik wolle, „dann müssen Sie mich eben entlassen“. Vizekanzler Habeck wiederum sagt bei einem Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern: „Sollte ich jemals Bundeskanzler werden, wird Christian Lindner nicht Finanzminister werden.“
Runtermachen auf offener Bühne, wenige Tage vor wichtigen Landtagswahlen. Das ist sogar für die Ampel eine neue Qualität. Scholz kreidete Lindner schon im vergangenen Dezember an, dass er noch nicht mal die Ausnahmen von der Schuldenbremse, die rechtlich zulässig wären, anwenden wollte, um die Haushaltssorgen der Koalitionäre zu lösen. Dabei hatte das Verfassungsgericht den Kitt, der die Koalition zusammenhielt, gesprengt. Soziales für die SPD, teurer Klimaschutz für die Grünen – und ein Haushalt streng nach den Regeln der Schuldenbremse für die FDP: All das sollte möglich werden durch die Umbuchung übrig gebliebener Coronahilfen. Damit war es nach dem Karlsruher Urteil vom 15. November 2023 vorbei. Was folgte, war der Zerrüttung erster Teil.
Dass Scholz die Haushaltsfrage verfolgt, ist ungewöhnlich
Nun die Wiederholung, doch dieses Mal, unter weit größerem persönlichen Einsatz. Scholz wirft Lindner vor, dass er die Gutachten, die nahelegten, Scholz habe beim neuen Haushalt für 2025 getrickst, medienwirksam in der Sommerpause streute. Dazu noch zu einer Zeit, als Scholz stolz am Frankfurter Flughafen stand, um die von Putin freigelassenen Geiseln zu empfangen. Für Scholz war der mehrere Länder umfassende Ringtausch, der unter anderem zur Freilassung des US-Journalisten Evan Gershkovich führte, eine große Sache, er kam extra aus dem Urlaub. Doch statt Lob für Scholz bestimmte nun neuer Haushaltsärger die Schlagzeilen. Der Zerrüttung zweiter Teil nahm seinen Lauf.
Dabei ist es ungewöhnlich, dass die Haushaltsfrage Scholz überhaupt verfolgt. Normal lässt der Kanzler das seinen Finanzminister regeln und schaltet sich nur ein, wenn es gar nicht anders geht. Scholz hingegen nahm in diesem Sommer schon zum dritten Mal die Haushaltsgespräche persönlich in die Hand. Dazu kommt, dass des Kanzlers Verhandlungsstil, vorsichtig gesagt, nicht vor maximaler Effizienz strotzt. Einer, der regelmäßig in diesen Runden sitzt, beschreibt es so: Der Kanzler sagt nicht, das sind meine großen Linien fürs Land, ich will folgende Ergebnisse von euch, beschafft das Geld bei den Ministern eurer Parteien.
Der Kanzler macht keine klare Ansage
Im Gegenteil: Wenn die Puzzleteile nicht zusammenpassen, macht Scholz keine klare Ansage, was sich zu ändern hätte. Stattdessen zerhackt er die ganzen Puzzleteile in immer kleinere Schnitzelchen, und hofft, dass man sich so kleinteilig einfacher einigen kann. Das Problem ist nur, das man nachher wieder alles mühselig zusammensetzen muss. Der Kanzler, so könnte man sagen, führt nicht, er häckselt. Im Dezember, beim Haushalt 2024 hat das gerade noch mal funktioniert. Doch es dauert, oft nächtelang, kostet Nerven, strapaziert Geduld und hinterlässt Narben.
Bei den aktuellen Haushaltsgesprächen, so ist zu hören, hätten sich Scholz und Lindner richtig angegiftet. SPD und Grüne wollen bemerken, dass Lindner, ohnehin ein misstrauischer Mensch, schon länger immer mehr das Schicksal der FDP im Kopf habe. Grund dafür gibt es angesichts der miesen Umfragen für die Liberalen genug. Die bislang wohl zerstrittenste Koalition jüngerer Zeit, das Bündnis von Angela Merkel mit der FDP Guido Westerwelles („Gurkentruppe“, „Wildsau“) endete 2013 mit dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag. Lindner hat das nie vergessen. FPD-Leute kontern, Kanzleramtschef Schmidt wolle in der nächsten Wahl in einem Hamburger Wahlkreis selbst in den Bundestag einziehen und agiere zunehmend parteipolitisch.
Die Gefahr eines Bruchs ist keinesfalls gebannt
Offen auf einen Bruch der Koalition arbeiten die drei bislang nicht hin. Klar, jeder hätte viel zu verlieren. Der Kanzler sein Amt, die FDP die Zugehörigkeit zum Bundestag und die Grünen stünden auch bloß knapp zweistellig da. Trotzdem ist die Gefahr eines Bruchs keinesfalls gebannt. Denn der Haushalt muss ja noch durch den Bundestag.
Dort nehmen sich zwar ausgewiesene Fachpolitiker der Sache an – die jeweiligen Chefhaushälter ihrer Fraktionen Dennis Rohde, Sven-Christian Kindler und Otto Fricke. Die entscheidende Frage aber wird sein, ob diese Drei vom seriösen Fach genug Autorität aufbringen, um gegen die Querschläger in ihren Fraktionen zu bestehen. Kubicki, Schäffler und all die anderen. Die große Bereinigungssitzung, der Tag- und Nachtermin, in dem der Haushalt bis ins letzte Detail festgezurrt wird und Minister im Stundentakt vor den mächtigen Haushältern antreten müssen, ist für Mitte November terminiert, die Haushaltswoche, also der Beschluss im Bundestag, für Ende desselben Monats.
Zum Ende des Jahres droht erneut ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Besondere Würze bekommt dieses ohnehin schon kniffelige Procedere durch die Steuerschätzung, die für Ende Oktober erwartet wird, auch so eine Besonderheit beim Haushalt. Bei allen anderen Gesetzesvorhaben kann man streiten und eine Lösung finden oder nicht, die Vorschläge aber liegen da und ändern sich nicht mehr groß. Beim Haushalt hingegen kann auf den letzten Metern nochmal alles anders werden. Ist weniger Steuergeld da, also weniger Einnahmen für den Staat, muss die Sparschraube noch einmal weitergedreht werden. Und während durchaus denkbar ist, dass die Steuerschätzung angesichts der trüben Wirtschaftslage nicht allzu rosig ausfällt, ist auf der anderen Seite aus heutiger Sicht nur schwer vorstellbar, dass die Ampel die Kraft hat, auch diese Hürde noch zu nehmen. Eine Regierung ohne Haushalt aber, das geht kaum. „Dann muss sich Friedrich Merz halt irgendwie wählen lassen“, heißt es in der Ampel.
Dazu kommt, dass zum Jahresende erneut ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts droht. Noch in diesem Jahr will Karlsruhe über die Klage gegen den Soli entscheiden, also das, was von der früheren Solidaritätsabgabe noch übrig ist. Etwa 13 Milliarden Euro bringt der Rest-Soli jedes Jahr für die Steuerkasse. Sollte Karlsruhe ihn einkassieren, müsste das Geld woanders herkommen, womöglich sogar ein Vielfaches davon, wenn das Gericht rückwirkend entscheidet.
Nach den Landtagswahlen könnte die CDU im Fokus stehen
Für den Moment hoffen die Ampel-Leute, dass neue Schlagzeilen das Schlaglicht vom Zustand der Koalition lenken. Sicher, niemand dachte an einen Anschlag wie jetzt in Solingen, aber nach den Landtagswahlen am Sonntag, da könnte sich doch die Aufmerksamkeit auf die CDU lenken, etwa wenn sich die Frage stellt, ob die mit AfD und BSW zusammenarbeiten müsse.
Allein, an dem tiefen Graben, der sich durch die Regierungsspitze zieht, wird das nichts ändern. Gleich mehrere Regierungsmitglieder flüchten sich in diesen Tagen in die Phantasiewelt des „Herrn der Ringe“, wenn sie über ihre Rolle in der Regierung nachdenken. Wie Zauberer Gandalf werde er sich am Ende vor die Schuldenbremse stellen und rufen: „You shall not pass!“ So zitiert der Spiegel Lindner. „Du kannst nicht vorbei.“ Ein anderer Koalitionär sagt, er werde bei der kommenden Bundestagswahl wie Filmheld Aragon in einer der Schlussszenen der Trilogie das Schwert zücken und in die Schlacht ziehen. Ohne zu wissen, wer folgt. Einer ungewissen Zukunft entgegen.
Sagt man nicht "Totgesagte leben länger?" Ich glaube nicht, dass die Koalition vor Ablauf der Legislatur zerbrechen wird, auch wenn die AZ Endzeitstimmung verbreitet. Man wird die Wahlen in Thüringen und Sachsen ertragen müssen wie ein Furunkel, aber auch die Union – auch wenn Merz dies vielleicht sagt – ist nicht daran interessiert, im Moment Neuwahlen anzugehen. Man wird abwarten, wie sich die AfD in Sachen und Thüringen präsentieren und schlagen wird. Wenn die Menschen dort keine spürbar andere Lage sehen – und das ist nur mit Gesetzes- und Vertragsbrüchen möglich, dann wird man sehen. Statt die Koalition nun in die Endzeit zu schreiben, wäre mir lieber, man ließe die teilweise hahnebüchenen Äußerungen der AfD-Wähler nicht ohne irgendeine Art von Faktencheck über dem Tresen gehen. Auch wenn die Koalition nicht allem gerecht wird – was die extremen Parteien verbreiten, gehört sachlich und neutral zurechtgerückt. Wer es nicht tut, macht sich an deren Erstarken mitschuldig.
Das sehe ich auch so, Frau Reichenauer.
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