"Berlin hat den Wechsel gewählt", sagt Kai Wegner. Bei der Wahlparty der Berliner CDU brandet Applaus auf, als der Sieger die Bühne betritt. Doch die Ovationen sind nicht euphorisch, erst recht nicht, als sich Wegner gleich darauf für den "klaren Regierungsauftrag" bedankt. Denn dem 50-jährigen Versicherungskaufmann Kai Wegner scheint der Sieg zwar nicht zu nehmen – doch dass er die Macht im Roten Rathaus bekommt, ist unwahrscheinlich. Gespräche wolle er führen in den kommenden Tagen, sagt er. Nur, das verrät die zögerliche Reaktion, scheinen auch seine Parteifreunde zu wissen, dass er bei den möglichen Partnern auf taube Ohren stößt. Denn das Wahlergebnis lässt wohl auch eine Fortsetzung des regierenden Bündnisses von SPD, Grünen und Linkspartei zu.
Franziska Giffey spürt die Unzufriedenheit der Berlinerinnen und Berliner
Theoretisch sind für Wegner nun Zweierbündnisse mit SPD und Grünen sowie Dreier-Koalitionen mit SPD, Grünen und FDP in unterschiedlicher Zusammensetzung möglich. Doch dazu bereit sind faktisch wohl nur die Liberalen, von denen zunächst noch nicht einmal klar ist, ob sie es wieder ins Abgeordnetenhaus geschafft haben. Zerknirscht wirkt die amtierende Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey von der SPD. Es ist ein bitterer Abend für die 44-Jährige, die nun um ihr politisches Überleben kämpft. Das Ergebnis zeige, räumt sie ein, dass die Berlinerinnen und Berliner nicht zufrieden seien. Allerdings habe ihr Senat nur ein Jahr Zeit gehabt.
Giffey hatte sich vor der Wahl zwar grundsätzlich offen gezeigt für eine Reihe von Möglichkeiten, doch ihr Landesverband gilt als weit nach links orientiert. Doch abgesehen davon, dass sie mehrfach betont hat, dass sie auch als zweite Siegerin, sofern möglich, im Amt bleiben will: Würde sie ernsthaft mit der CDU verhandeln, dürfte ihr Landesverband sie schnell fallen lassen. Diese Gefahr droht der Wahlverliererin sogar schon jetzt, gerade wenn sich bestätigen sollte, dass sie sogar noch hinter die Grünen zurückgefallen ist. Kenner der Berliner Sozialdemokratie möchten nicht ausschließen, dass Raed Saleh, der gut vernetzte starke Mann der Hauptstadt-Genossen, die Gelegenheit nutzt und nach der Macht greift.
Verdichten sich die ersten Zwischenergebnisse, scheint am Ende eine Fortsetzung der bisherigen Koalition aus SPD, Grünen und Linkspartei am wahrscheinlichsten – so unbeliebt bei der Bevölkerung und innerlich zerstritten sich diese zuletzt präsentierte. Die grüne Spitzenkandidatin Bettina Jarasch, 54, liefert sich in den Hochrechnungen ein enges Rennen mit Giffey um Platz Zwei – mit besten Chancen, Rathauschefin zu werden. Dabei hatte die Frau, die als Verkehrssenatorin darauf setzt, den Autoverkehr aus der Innenstadt zu verbannen, Teile der bürgerlichen Mitte gegen sich aufgebracht. Gerade Bewohner der Randbezirke fühlten sich durch den Anti-Auto-Kurs regelrecht schikaniert. Für die Linkspartei ist das Ergebnis laut Spitzenkandidat Klaus Lederer zufriedenstellend: „Wenn es das ist, was am Ende rauskommt, dann haben wir ganz schön was geleistet.“
Die Wiederholungswahl in Berlin läuft ohne größere Panne ab
Wichtigste Themen im Wahlkampf waren die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt, die Misere der Schulen und im Endspurt vor allem Sicherheit und Ordnung. Viele Berliner wünschen sich etwa ein härteres Vorgehen der Behörden gegen die Clan-Kriminalität. Die schweren Ausschreitungen in der Silvesternacht haben zudem eine Debatte um Jugendgewalt ausgelöst, die vor allem Giffey als ehemaliger Bürgermeisterin des Problembezirks Neukölln an Zustimmung gekostet hat. Berlin, die scheiternde Stadt, in der nichts funktioniert – dieses Bild hat sich in den vergangenen Monaten eher noch verstärkt, auch durch die Wahl 2021, bei der sich Trauben ungeduldiger Menschen vor den Wahllokalen bildeten und teils die Stimmzettel ausgingen.
Immerhin: Vom Chaos des ersten Durchgangs ist an diesem Berliner Wahlsonntag kaum mehr etwas zu spüren. Wo sich damals teils lange Schlangen bildeten, gibt es kaum Wartezeiten. Mehr Wahlräume, mehr Wahlkabinen, mehr Urnen sorgen für einen entspannten Ablauf. Landeswahlleiter Stephan Bröchler berichtet gegen Mittag nur von "kleineren Problemen" – ein verlorener Urnen-Schlüssel hier, dort eine Telefonleitung, die nicht funktioniert. Nichts jedenfalls, was mit den "schweren systemischen Mängeln" und zahlreichen Wahlfehlern vergleichbar wäre, derentwegen das Ergebnis von vor eineinhalb Jahren für ungültig erklärt worden war. Ein solches Debakel jedenfalls scheint ausgeblieben zu sein.
Vereinzelt gibt es sogar Berichte über eine "Überausstattung" mit Kabinen und Wahlhelfern, deren Zahl von 34.000 auf 42.000 erhöht worden war. Ein junger Mann im Kapuzenpulli, der die Wählenden in der Grundschule am Vierrutenberg in Reinickendorf auf die Kabinen verteilt, macht keinen Hehl daraus, dass er sehr zufrieden ist mit der Aufwandsentschädigung von 240 Euro, die er für seinen Einsatz bekommt. Bei der letzten Wahl wurden 60 Euro bezahlt.
Die Union wird stärkste Kraft, die Liberalen verzeichnen eine schwere Niederlage
Gespannt verfolgt wird der Ausgang der Wahl nicht nur an der Spree selbst, sondern auch in der Bundespolitik. Es ist der erste große politische Lackmustest in diesem Jahr. Für die regierende Ampel-Koalition ist es kein guter Abend. Bundeskanzler Olaf Scholz jedenfalls kann für seine auch in den Bundes-Umfragen schwächelnden Sozialdemokraten keinen Aufwärtstrend aus dem Hauptstadt-Ergebnis ableiten. Die Grünen, denen Umfragen zwischenzeitlich ein deutlich besseres Ergebnis prophezeiten, wollen weiter mit den linken Partnern regieren, sagt Parteichef Omid Nouripour. Besonders bitter ist der Abend für die Liberalen, die mit Sebastian Czaja an der Spitze angetreten waren – dem Bruder von CDU-Generalsekretär Mario Czaja. Das schlechte Abschneiden in Berlin bestätigt den absteigenden Bundestrend und macht die Lage für Parteichef Christian Lindner nicht eben leichter.
Für die Union ist der Erfolg in Berlin ein unerwartet starker Auftakt ins Landtagswahljahr, das im Mai in Bremen weitergeht und für CDU und CSU vor allem im Herbst spannend wird, wenn in Hessen und Bayern neue Landesregierungen bestimmt werden. Dabei hatte die Bundes-CDU mit ihrem Chef Friedrich Merz dem Vernehmen nach zuvor sogar nach einem Kandidaten gesucht, der glamouröser wirkt als der nüchterne Versicherungskaufmann Wegner. Nun wird die CDU ausgerechnet in der seit 2001 SPD-regierten Hauptstadt stärkste Kraft. Merz sieht einen "klaren Regierungsauftrag" für seine Partei in Berlin. Dass die Suche nach willigen Partnern schwierig werden dürfte, spielt zumindest am Wahlabend für ihn keine Rolle.