Im kommenden Jahr steht die nächste Bundestagswahl an. Dabei sollen die neuen Regeln gelten, die die Ampelkoalition im vergangenen Jahr mit der Wahlrechtsreform beschlossen hat. Doch 195 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die bayerische Staatsregierung, die CSU, die Linke, die Linke-Bundestagsfraktion, Bundestagsabgeordnete der Linken mit über 200 weiteren Privatpersonen sowie mehr als 4000 weitere Privatpersonen haben den Gang nach Karlsruhe angetreten. Deshalb hat sich das Bundesverfassungsgericht mit der Wahlrechtsreform beschäftigt. Das Urteil wurde am Dienstagvormittag verkündet. Doch schon am späten Montagabend machte eine offenbar geleakte Datei im Internet die Runde.
Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Schluss, dass die Reform des Bundeswahlgesetzes in Teilen verfassungswidrig ist. Konkret geht es um die Grundmandatsklausel. Zuletzt war diese gestrichen worden, soll nun aber doch bei der nächsten Bundestagswahl gelten.
Welche Änderungen gab es bei der Wahlrechtsreform 2023?
Die Reform sieht vor, dass der Bundestag, der auf 736 Abgeordnete angewachsen ist, ab der nächsten Wahl dauerhaft auf 630 Mandate verkleinert wird. Die Verkleinerung des Bundestags soll erreicht werden, indem auf Überhang- und Ausgleichsmandate ganz verzichtet wird. Die 299 Wahlkreise sollen bestehen bleiben. Ausschlaggebend für die Sitzverteilung sollen allein die Zweitstimmen sein. Nach den neuen Regeln kann es künftig vorkommen, dass ein Bewerber seinen Wahlkreis zwar direkt gewinnt, aber trotzdem nicht in den Bundestag einzieht. Dass die Ampel die Überhang- und Ausgleichsmandate gestrichen hat, ist aus Sicht der Karlsruher Richterinnen und Richter verfassungskonform.
Die sogenannte Grundmandatsklausel sollte eigentlich gestrichen werden. Sie bewirkt, dass eine Partei auch dann nach ihrem Zweitstimmenergebnis in den Bundestag einzieht, wenn sie zwar die Fünf-Prozent-Hürde verfehlt, aber mindestens drei Direktmandate gewonnen hat. Laut dem Bundesverfassungsgericht sei eine Fünf-Prozent-Hürde ohne Grundmandatsklausel aber unvereinbar mit dem Grundgesetz. Bis zu einer Neuregelung, so ordnet es das Urteil an, soll die Grundmandatsklausel deshalb doch weiterhin gelten.
Warum wurde das Wahlrecht geändert?
2020 hatte die große Koalition aus CDU/CSU und SPD eine Wahlrechtsreform verabschiedet, die nicht das bewirkt hat, was sie hätte bewirken sollen: eine Verkleinerung des Bundestags. Sie schaffte es lediglich, den Anstieg der Abgeordnetenzahl zu bremsen. Bei der Wahl 2021 wuchs der Bundestag von 709 auf 736 Abgeordnete. Damit ist es weiterhin das größte frei gewählte Parlament weltweit.
Warum wird gegen die Wahlrechtsreform 2023 geklagt?
Laut der Wahlrechtsreform 2023 wird künftig jede Partei nur noch so viele Mandate erhalten, wie ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen – auch dann, wenn sie mehr Direktmandate geholt hat. Die Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis gehen dann leer aus. Das kritisieren vor allem CSU und CDU. Die CSU gewann bei der Bundestagswahl 2021 45 Direktmandate, kam aber nur auf ein bundesweites Zweitstimmenergebnis von 5,2 Prozent. Sie erhielt so 11 Überhangmandate, die sie nach dem neuen Wahlrecht nicht mehr bekäme. Weitere 12 Überhangmandate holte die CDU in Baden-Württemberg. Zusammen waren das 23 von insgesamt 34 Überhangmandaten, die wiederum 104 Ausgleichsmandate zur Folge hatten.
Bei der nächsten Bundestagswahl hätte es bei einem Wegfall der Grundmandatsklausel für die CSU besonders bitter kommen können. Wäre sie bundesweit hochgerechnet unter die Fünf-Prozent-Marke gerutscht, wäre sie nach dem neuen Wahlrecht aus dem Bundestag geflogen – auch wenn sie wieder die allermeisten Wahlkreise in Bayern direkt gewinnen würde.
Auch die Linke empörte der Wegfall der Grundmandatsklausel. Sie hat von dieser Regel bislang besonders profitiert. Bei der Bundestagswahl 2021 kam sie zwar nur auf 4,9 Prozent der Zweitstimmen, aber Gregor Gysi (Berlin), Gesine Lötzsch (Berlin) und Sören Pellmann (Leipzig) gewannen jeweils ein Direktmandat – und die Linke zog mit 39 Abgeordneten in den Bundestag ein. Bei der Wahl 1994 holte die Linke-Vorgängerpartei PDS sogar nur 4,4 Prozent der Zweitstimmen. Doch dank vier in Berlin gewonnener Direktmandate entfielen auf sie 30 Sitze im Bundestag.
Wahlrechtsreform 2023: Worüber verhandelte das Bundesverfassungsgericht?
Das Bundesverfassungsgericht verhandelte über zwei Normenkontrollverfahren (195 Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, bayerische Staatsregierung), drei Organstreitverfahren (CSU, Linke, Linke-Bundestagsfraktion) und zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren (mehr als 4000 Privatpersonen, Bundestagsabgeordnete der Linken mit über 200 weiteren Privatpersonen).
Bei einem Normenkontrollverfahren wurde geprüft, ob ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Organstreitverfahren ist eine Auseinandersetzung zwischen obersten Bundesorganen oder diesen gleichgestellten Beteiligten über ihre Rechte und Pflichten aus dem Grundgesetz. Antragsberechtigt sind auch einzelne Bundestagsabgeordnete und politische Parteien. Jeder kann eine Verfassungsbeschwerde mit der Begründung erheben, durch die öffentliche Gewalt in einem Grundrecht oder bestimmten Artikeln des Grundgesetzes verletzt worden zu sein.
Die Antragsteller und Beschwerdeführer sehen sich nach Angaben des Bundesverfassungsgerichts insbesondere in zwei Grundrechten verletzt: bei der Wahlrechtsgleichheit nach Artikel 38 Grundgesetz und beim Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Artikel 21 Grundgesetz. (mit dpa)