Sein Name steht für den ersten großen politischen Erfolg der AfD im Ringen um Ämter: Seit einem halben Jahr ist Robert Sesselmann Landrat im thüringischen Sonneberg. Die Aufregung um seinen Sieg hat sich längst gelegt. Gut 200 Kilometer von ihm entfernt sitzt Hannes Loth auf dem Bürgermeisterstuhl. Er ist in Raguhn-Jeßnitz, in Sachsen-Anhalt, erster hauptamtlicher AfD-Bürgermeister Deutschlands. Schon bald folgt ihm Tim Lochner, der im Dezember zum Oberbürgermeister von Pirna (Sachsen) gewählt worden ist. Dabei gilt die AfD in allen drei Bundesländern als „gesichert rechtsextremistisch“.
Viele Menschen im Land gehen inzwischen davon aus, dass diese Entwicklung erst der Anfang ist. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov zeigte in dieser Woche: Die Mehrheit der Deutschen rechnet damit, dass die AfD bei mindestens einer der drei Landtagswahlen in Ostdeutschland in diesem Jahr die absolute Mehrheit erreicht und damit auch den Ministerpräsidenten stellen kann. 53 Prozent halten ein solches Szenario für wahrscheinlich und nur 32 Prozent für unwahrscheinlich.
Wird die AfD zu einer Partei wie jede andere? Zumindest eines dürfte ihr auch nach den Wahlen im September in Sachsen, Thüringen und Brandenburg verwehrt bleiben: das Amt des Regierungschefs. Eine Koalition mit der AfD schließen alle anderen in den drei Landtagen vertretenen Parteien aus. Die AfD könnte daher nach jetzigem Stand nur den Regierungschef stellen, wenn sie die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament erhält. Das ist unrealistisch – aber ist es auch ausgeschlossen? In Sachsen ist die Partei laut einer Umfrage zumindest schon einmal stärkste Kraft. In Thüringen könnte eine Schwachstelle in der Landesverfassung der AfD helfen: Spätestens im dritten Wahlgang wird dort derjenige zum Ministerpräsidenten, der die meisten Ja-Stimmen erhält – so wurde im Jahr 2020 schon einmal der FDP-Kandidat Thomas Kemmerich MP, wenn auch nur für wenige Stunden.
Forsa-Chef fühlt sich an 1930er Jahre erinnert
Und doch blickt nicht nur der politische Betrieb mit Sorge auf die Entwicklung. Manfred Güllner beobachtet als Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa die gesellschaftliche Stimmung im Land seit Jahrzehnten. Sein Fazit: Nie seit dem Ende des Nationalsozialismus hat es eine rechtsradikale Bewegung in Deutschland geschafft, so viele Anhänger um sich zu versammeln: NPD, Republikaner und DVU gelang nie der Schritt hin zu einer ernsten politischen Größe. Gegen Ende des Jahres konnte die AfD in Deutschland mit 23 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen rechnen. „Von allen Wahlberechtigten würden somit 17 Prozent die AfD wählen – und damit mehr als die NSDAP bei der Reichstagswahl im September 1930“, so Güllner. Damals wählten 15 Prozent der Wahlberechtigten die Nationalsozialisten. Zwei Jahre und 4 Monate nach dieser Reichstagswahl von 1930 wurde Adolf Hitler Reichskanzler.
„Auch wenn Vergleiche mit der Entwicklung in der Weimarer Republik nur mit Vorsicht erlaubt sind: 1930 hatte die NSDAP eine ,kritische Masse‘ erreicht, die Ausgangsbasis für ihren weiteren Stimmenzuwachs war“, sagt Forsa-Chef Güllner. 2023 habe die AfD diese damalige „kritische Masse“ schon überschritten. „Und bei dem großen Unmut über die gegenwärtige Politik, der unter dem Viertel der Wahlberechtigten vorhanden ist, die sich derzeit nicht an einer Wahl beteiligen würden, ist weiteres Potential für die AfD vorhanden.“ Auch die Mitgliederzahl der AfD ist stark gestiegen. Derzeit liegt sie bei 40.131 und damit rund 37 Prozent höher als Ende 2022.
Vertrauen in die Regierung ist auf einem Tiefpunkt
Verantwortlich dafür sei sowohl die Regierung als auch die Union als Opposition. Nur noch 21 Prozent aller Bundesbürger haben zur Bundesregierung großes Vertrauen. „Dass das Vertrauen zur Bundesregierung und zum Kanzler auf einen so extrem niedrigen Wert gesunken ist, kann nicht – wie es von den Ampel-Koalitionären vielfach gemutmaßt wird – auf die von ihnen so bezeichneten Stapelkrisen zurückgeführt werden“, glaubt Güllner. „Auf dem Höhepunkt der die Menschen 2020 völlig unerwartet und mit gravierenden Folgen für ihr alltägliches Leben getroffenen Corona-Krise sank nämlich das Vertrauen zum Amt des Kanzlers beziehungsweise der Kanzlerin bei der damaligen Amtsinhaberin Angela Merkel nicht wie heute bei ihrem Nachfolger, sondern stieg auf 75 Prozent. Ende 2023 ist dieser Wert mit 20 Prozent um 55 Prozentpunkte niedriger als Ende 2020.“
Die AfD müsse nur abwarten, wie ihr die Wählerinnen und Wähler in die Arme getrieben werden, glaubt der Meinungsforscher. Tatsächlich stört es die auch nicht, wenn Versprechen dann gebrochen werden. Wahlkampf hatte die AfD etwa in Sonneberg mit Forderungen gemacht, die ein Landrat niemals umsetzen kann - etwa nach der Abschaffung des Euro oder der Rundfunkbeiträge. Auch ein halbes Jahr nach Sesselmanns Wahl zahlen die Menschen in dem kleinen Landkreis mit dem Euro, überweisen weiterhin Rundfunkbeiträge. Die Flüchtlinge sind auch noch nicht dort untergebracht, „wo Fuchs und Hase grußlos aneinander vorbeiziehen“, wie sein AfD-Parteikollege Stefan Möller Sesselmanns Gestaltungsmöglichkeiten als Landrat skizziert hatte.
Nicht viel anders sieht es bei Bürgermeister Loth in Raguhn-Jeßnitz aus. Entgegen seiner Wahlversprechen sei es nicht möglich, die Verwaltungskosten in Raguhn-Jeßnitz zu senken, sagt er. Das sei aber kein Beinbruch. "Wir haben einen Vergleich der Kosten anstellen lassen und festgestellt, dass wir da sehr gut dastehen." Doch Versprechen, die er nicht einhalten kann, trüben Loths Stimmung nicht. Er sei zufrieden mit seinen ersten Wochen als Bürgermeister, er sei auf offene Ohren gestoßen, beteuert er. "Die harten Kernforderungen der AfD brauchen wir hier auch gar nicht. Zum Beispiel in Sachen Migration. Die haben wir hier nämlich gar nicht." (mit dpa)