Mehr als 360 Millionen Bürgerinnen und Bürger der EU sind in den kommenden Tagen bei der Europawahl dazu aufgerufen, die Zusammensetzung des nächsten Europäischen Parlaments zu bestimmen. Eine Reihe von Themen, mit denen sie sich beschäftigen werden müssen, steht heute schon fest. Ein Überblick:
Verteidigung
Der Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine war für die EU eine Zäsur. Die meisten Spitzenpolitiker sind sich mittlerweile einig darüber, dass die EU als eines der größten Friedensprojekte der Geschichte nur dann eine sichere Zukunft hat, wenn sie sich im Notfall auch mit Waffengewalt gegen Gegner wehren kann. Keine gemeinsame Antwort gibt es bislang aber auf die Frage, wie bestehende Defizite im Bereich der Verteidigung beseitigt werden sollen. Während Deutschland vor allem auf Nato-Projekte setzt, will Frankreich mit EU-Geld die europäische Rüstungsindustrie fördern und die EU so auch unabhängiger von den USA machen.
Die Entscheidung, wie es weitergeht, dürfte nach der Europawahl fallen - und auch vom Ausgang der US-Präsidentenwahl im November beeinflusst werden. Vor allem, wenn der Republikaner Donald Trump den Wiedereinzug ins Weiße Haus schaffen sollte, könnten Frankreichs Vorstellungen zusätzliche Unterstützung bekommen. Äußerungen Trumps hatten in der Vergangenheit Zweifel daran geweckt, dass die USA als Nato-Partner weiterhin uneingeschränkt bereit sind, für die Sicherheit der europäischen Verbündeten einzustehen.
EU-Erweiterung
Auch das Thema EU-Erweiterung hat durch die russische Invasion in die Ukraine eine ganz neue Bedeutung bekommen. Grund ist, dass viele Politiker der Meinung sind, dass eine größere EU eine der geopolitischen Antworten auf Russlands Angriffskrieg sein sollte. Zudem besteht die Sorge, dass Länder mit fehlender Beitrittsperspektive engere Partnerschaften mit den Systemrivalen China oder Russland eingehen könnten. Das gilt vor allem für die Staaten des westlichen Balkans, die zum Teil schon seit vielen Jahren vergeblich auf größere Fortschritte auf dem Weg in die EU hoffen. Insbesondere bei den neueren Beitrittskandidaten Ukraine und Moldau geht es zudem darum, den Menschen dort zu zeigen, dass es sich lohnt, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen.
Schwierig ist das Thema Erweiterung vor allem deswegen, weil eine Aufnahme von vielen weiteren Ländern auch umfangreiche Anpassungen auf EU-Seite erfordern würde. Mit Blick auf eine mögliche Aufnahme der Ukraine gilt zum Beispiel die Agrarpolitik als kritisch, da das kriegsgeplagte Land vergleichsweise groß ist und vermutlich für lange Zeit Zuschüsse erhalten müsste.
Klimaschutz
Eines der größten Projekte der EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen war in den vergangenen Jahren der sogenannte Green Deal - ein beispielloses Maßnahmen- und Gesetzespaket, das unter anderem für einen drastischen Rückgang der Treibhausgasemissionen sorgen soll. Der "Green Deal" umfasst neue Vorgaben in Bereichen wie Energie, Verkehr, Industrie oder Landwirtschaft. Bis 2030 sollen etwa erneuerbare Energien 42,5 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs in der EU ausmachen - was auch dem Bestreben dient, unabhängig von russischem Gas zu werden.
Nach der Verabschiedung der unterschiedlichen Klima-Gesetze ist nun die Umsetzung die große Herausforderung. Strengere Regeln für die Landwirtschaft wurden bereits vor einigen Wochen nach großen Bauernprotesten in vielen EU-Ländern teils zurückgenommen. Ein eigentlich geplantes Naturschutzgesetz stand zuletzt wieder auf der Kippe. Weiter unklar ist auch, ob der Beschluss hält, dass bis 2035 keine Neuwagen mehr zugelassen werden sollen, die mit Benzin oder Diesel fahren. Das oft auch als Verbrenner-Aus bezeichnete Vorhaben zog viel Kritik auf sich. Unter anderem CDU und FDP wollen es stoppen.
Wirtschaftspolitik
In der Wirtschaftspolitik richtet sich der Fokus zunehmend auf die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Sorgen bereitet vor allem Konkurrenz aus China und den USA. Das Handelsdefizit der EU gegenüber China belief sich zuletzt auf fast 400 Milliarden Euro. Und in einem von den EU-Staaten und der EU-Kommission in Auftrag gegebenen Bericht wurde zuletzt festgehalten: "Während das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in den USA zwischen 1993 und 2022 um fast 60 Prozent gestiegen ist, betrug der Anstieg in Europa weniger als 30 Prozent."
Hat Europa also den wirtschaftspolitischen Anschluss verschlafen und wenn ja, warum? "Bisherige Erklärungen lassen noch vieles offen", schrieb Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), vor wenigen Tagen in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Für ihn scheint es überzeugend, dass viele Regulierungen und stärkerer Gewerkschaftseinfluss als in den USA Produktivitätsfortschritte in Europa verhinderten. Darüber hinaus seien hohe Energiepreise und eine ambitionierte Klimapolitik Herausforderungen für die Wirtschaft.
Diskutiert werden dürften nach der Wahl aber auch Maßnahmen gegen unfaire Wettbewerbspraktiken. Die EU untersucht derzeit beispielsweise, inwiefern China seinen Autobauern mit erheblichen staatlichen Subventionen inakzeptable Vorteile auf dem Markt für Elektrofahrzeuge verschafft. Es könnten Strafzölle erhoben werden.
Migration und Asylrecht
Obwohl 2024 die umstrittene Asylreform final beschlossen wurde, wird das Thema Migration die EU wohl auch nach der Wahl weiter im Griff haben. Neben den deutschen Kommunen klagen schließlich auch andere europäische Staaten über überlastete Asylsysteme. Nun kommt es auf die Umsetzung der neuen Regeln an: Eine große Aufgabe, die vor allem die EU-Länder an den Außengrenzen fordert. Schließlich sollen die Mitgliedstaaten etwa zu einheitlichen Verfahren an den Außengrenzen verpflichtet werden, damit rasch festgestellt werden kann, ob Asylanträge unbegründet sind und die Geflüchteten dann schneller und direkt von der Außengrenze abgeschoben werden können.
Um jene Länder, in denen viele Geflüchtete ankommen - also beispielsweise Italien, Griechenland oder Spanien - zu entlasten, soll ein "Solidaritätsmechanismus" gelten. Geplant ist, dass pro Jahr mindestens 30.000 Geflüchtete aus diesen Ländern in andere EU-Staaten umverteilt werden. Wenn die Länder keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, müssen sie auf anderem Weg Unterstützung leisten, zum Beispiel finanziell. Fraglich ist, ob alle Länder dabei am Ende mitspielen: Es wurden schon erste Stimmen aus Polen und Ungarn laut, diesem Mechanismus entgehen zu wollen.
(Von den Brüsseler dpa-Korrespondentinnen und -Korrespondenten)