Stephan Weil atmet auf. „Wir haben gekämpft, und wir haben gewonnen“, sagt er am Wahlabend, spricht von einem klaren Regierungsauftrag, der „nicht selbstverständlich“ sei in einer Zeit so großer Sorgen. Der 63-Jährige wird Ministerpräsident von Niedersachsen bleiben, seine SPD geht aus den Landtagswahlen als stärkste Kraft hervor. Die Große Koalition zwischen SPD und CDU macht nun aller Voraussicht einer rot-grünen Landesregierung Platz. Für CDU-Generalsekretär Marjo Czaja klar, warum es für den christdemokratischen Herausforderer Bernd Althusmann nicht gereicht hat: Der "Amtsbonus" von Weil und die niedersächsischen Landesthemen haben den Ausschlag gegeben. Noch am Abend kündigt Althusmann, in der bisherigen Großen Koalition unter Weil Wirtschaftsminister, seinen Rücktritt als CDU-Landesvorsitzender an.
Die letzte von vier Landtagswahlen galt als Stimmungstest für die Bundespolitik in Zeiten der Krise. Ministerpräsident Stephan Weil sagte am Ende des Wahlkampfs, dass der Krieg in der Ukraine und die Sorgen der Menschen um die Energieversorgung die beherrschenden Themen gewesen seien. Die CDU hatte die Wahl im Endspurt zur Abstimmung über die Politik der Ampel-Regierung in Berlin erklärt. Doch am Ende sollten diejenigen Recht behalten, die auf den starken Amtsbonus von Stephan Weil verwiesen. Wurde in Umfragen die direkte Präferenz der Menschen zwischen dem Amtsinhaber und seinem Herausforderer erhoben, hatte Weil regelmäßig die Nase weit vorn gehabt. Entgegen dem bundesweiten Negativ-Trend der SPD brachte er diesen Vorsprung am Wahltag ins Ziel. Aufatmen kann damit auch Kanzler Olaf Scholz, dem nicht nur eine peinliche Debatte über seine Mitverantwortung an einer Niederlage erspart bleibt. Mit seinem Vertrauten Weil, der in den kommenden Monaten Chef der Ministerpräsidentenkonferenz ist, hat er einen wichtigen Partner beim Regieren in schweren Zeiten.
SPD und Grüne könnten wohl künftig Niedersachsen regieren
In Hannover spricht nun alles für eine rot-grüne Regierung. Die niedersächsischen Grünen gelten traditionell als besonders stark links orientiert, zwar wurde auch ein Pakt mit der CDU nicht völlig ausgeschlossen, doch die Tendenz zur Rot-Grün war glasklar. Mit Julia Hamburg und Christian Meyer hatte der Landesverband ein zumindest bundesweit ziemlich unbekanntes Spitzenduo ins Rennen geschickt. Die Strategie baute darauf, von der anfänglichen Euphorie über die Regierungsbeteiligung in Berlin zu profitieren. Doch der Ukraine-Krieg und die daraus resultierende Energie- und Inflationskrise ließen diese Hoffnung platzen. Gerade die Patzer des grünen Wirtschafts- und Energieministers Robert Habeck kosteten in Niedersachsen viel Zustimmung. So fiel das Ergebnis zwar deutlich besser aus, als vor fünf Jahren, aber längst nicht so gut, wie zwischenzeitlich erhofft. Parteichefin Ricarda Lang betonte, die Grünen hätten bei der Landtagswahl wahrscheinlich ihr bestes Ergebnis in Niedersachsen eingefahren. "Es ist aus meiner Sicht ein Auftrag, dass wir auch in Niedersachsen Verantwortung übernehmen", sagte sie. Ihre Partei sei nun "bereit für Gespräche für eine rot-grüne Regierungsbeteiligung."
Schadete die Energiepolitik der Bundesregierung den Grünen, versuchte die CDU im Wahlkampf mit Kritik daran zu punkten. Dass das niedersächsische Atomkraftwerk Emsland im Gegensatz zu den beiden Meilern in Süddeutschland nicht als Reserve erhalten bleiben soll, gilt als Zugeständnis Habecks an die örtlichen Parteifreunde. Niedersachsen hätte auch die Möglichkeit, Erdgas im Fracking-Verfahren zu gewinnen, doch an dieses heiße Eisen wagte sich nicht einmal die CDU.
Die Bilanz des CDU-Chefs Friedrich Merz ist durchwachsen
Als Wirtschaftsminister und Vize-Ministerpräsident hatte sich CDU-Herausforderer Bernd Althusmann mit Angriffen auf Stephan Weil merklich zurückgehalten. Dass er Weil Amtsmüdigkeit unterstellte, blieb die schärfste Attacke. Die Große Koalition, die letzte in einem Bundesland, hatte in den vergangenen fünf Jahren weitgehend geräuschlos regiert. Dass das Land mit seinen vielen Windrädern und künftig mit Flüssiggas-Terminals in seiner Bedeutung für die nationale Energieversorgung zugelegt hat, stellte auch Althusmann im Wahlkampf als Erfolg heraus. Der größte Konflikt mit der SPD blieb im Thema Inklusion an den Schulen. Althusmann will die Förderschule für Kinder mit Behinderungen erhalten. Doch breite Wirkung konnte dieser Konflikt nicht entfalten. Der 55-jährige Herausforderer gehört zudem nicht gerade zu den Politikern, die vor Charisma nur so sprühen. So konnte auch die massive Unterstützung von CDU-Chef Friedrich Merz im Endspurt der Kampagne den Abstand auf den Amtsinhaber nicht mehr schließen. Für Merz fällt die Landtagswahl-Bilanz seit der Übernahme der Parteispitze damit durchwachsen aus: Zwei Siege in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein stehen zwei Schlappen in Niedersachsen und dem Saarland entgegen.
Ein Problem für die Christdemokraten war zudem das Fehlen einer realistischen Koalitionsoption. Zwischen CDU und Grünen klafft in Niedersachsen ein tieferer Graben als anderswo. Althusmann hatte deshalb zuletzt auch eine Neuauflage der Großen Koalition nicht ausgeschlossen, doch die SPD wies diese Avancen recht deutlich zurück.
Die FDP bangt um den Einzug in den niedersächsischen Landtag
Bangen um den Einzug ins Parlament muss am Wahlabend die FDP. Es fehlte an Rückenwind aus Berlin an der Zugkraft des Spitzenkandidaten. Stefan Birkner machte bundesweit vor allem durch den Umstand von sich reden, dass er der Schwager von Robert Habeck ist. Für die Bundes-FDP stellt sich nun umso mehr die Frage, ob ihnen die Rolle als kleinster Partner in der Ampel langfristig bekommt. Die Folge könnten weitere Abgrenzungsversuche zu SPD und Grünen sein, wodurch sich das Klima in der Regierung verschärfen könnte. Parteichef Christian Lindner sagte: "Wir sind in der Ampel-Koalition aus staatspolitischer Verantwortung, nicht weil SPD und Grüne uns von den inhaltlichen Überzeugungen so nahe stünden." Lindner weiter: "Wir zahlen dafür gewiss einen Preis bei unserem politischen Profil, weil manche die FDP als liberale Kraft dann nicht erkennen und glauben, wir seien jetzt auch eine linke Partei und keine mehr der Mitte."
Verfangen hat offenbar die scharfe Protest-Kampagne gegen die Politik der Bundesregierung und die hohen Energiepreise mit der die AfD unter ihrem Spitzenkandidaten Stefan Marzischewski-Drewes angetreten war. Deutlich zweistellig in einem westdeutschen Bundesland, noch dazu in Niedersachsen, wo sie selbst auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in den Umfragen einstellig blieb - für die Rechtspopulisten ist das ein Triumph. Auch die prorussische Haltung der AfD-Doppelspitze Alice Weidel und Tino Chrupalla schadete offenbar nicht - eher war wohl das Gegenteil der Fall. Das Protestpotenzial in der Bevölkerung konzentriert sich auf den rechten Rand - zum Leidwesen der Linkspartei, die den Sprung in den Landtag von Hannover abermals verpasst.