Das Entsetzen war groß: „Ich bin sicher, ich spreche für die ganze Stadt, wenn ich sage, dass unsere Gedanken und Gebete bei diesem Kind und seiner Familie sind“, sagte Londons Bürgermeister Sadiq Khan am Dienstag. Er reagierte damit auf eine brutale Messerattacke im Nordosten Londons, bei der ein 14-jähriger Junge getötet und mehrere Menschen verletzt wurden. Für den Labour-Politiker kam der „Horrorangriff“, wie britische Medien am Mittwoch titelten, kurz vor den Kommunal- und Bürgermeisterwahlen in England am Donnerstag zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Familien, deren Kinder in der Metropole getötet wurden, warfen Khan vor, „die Kontrolle über die Straßen der Hauptstadt völlig verloren zu haben“.
Der Labour-Politiker Khan will zum dritten Mal Bürgermeister der englischen Millionenmetropole werden und wird die Wahl trotz einer umstrittenen Bilanz seiner achtjährigen Amtszeit aller Voraussicht nach gewinnen. Zwar sei das Rennen enger geworden, doch könne der Labour-Politiker weiterhin mit einem „komfortablen Sieg“ rechnen, sagte Chris Hopkins vom Meinungsforschungsinstitut Savanta. 22 Punkte Vorsprung habe der Sozialdemokrat laut YouGov-Umfragen vor der Konservativen Susan Hall, die wenige Londoner überzeugte.
Khan muss die Kriminalität bekämpfen, hat aber die besten Chancen
Khan stehe jedoch vor ernsten Herausforderungen, so Hopkins. Der 53-Jährige war wegen seines Umgangs mit der Kriminalität in der Metropole in die Kritik geraten. Messerstechereien haben zugenommen. 2023 gab es 14.577 Vorfälle, 20 Prozent mehr als im Vorjahr, wie aus Statistiken der Metropolitan Police hervorgeht. Die Ausweitung der Umweltzone auf das gesamte Stadtgebiet dürfte Labour Stimmen bei den Pendlern kosten, die sich neue Fahrzeuge anschaffen müssen. Die Londoner seien geteilter Meinung und „ein anderer, populärerer Gegenkandidat hätte den Unterschied machen können“, sagte Hopkins.
Susan Hall, die auch bei den Konservativen nicht unumstritten ist, gilt jedoch als Politikerin, die zu Fehltritten neigt. So geriet sie im vergangenen Jahr in die Kritik, als sie behauptete, in der U-Bahn bestohlen worden zu sein, ein Bürger ihr jedoch ihre Brieftasche samt Bargeld und Karten zurückgab, nachdem er sie auf einem Sitz gefunden hatte. Hall wurde außerdem beschuldigt, rechtsextreme und extremistische Inhalte zu verbreiten, darunter eine Verschwörungstheorie, der zufolge Ex-Präsident Donald Trump um seinen Sieg bei den US-Wahlen 2020 betrogen worden sei.
Den konservativen Tories droht eine herbe Niederlage
Während Khan trotz Stimmenverlusten mit einer Wiederwahl rechnen kann, droht den Konservativen von Premierminister Rishi Sunak am Donnerstag eine herbe Niederlage. Experten gehen davon aus, dass die Partei in Dutzenden Gemeinden des größten Landesteils Großbritanniens mehrere Hundert Sitze verlieren wird. Tatsächlich befinden sich die Tories seit gut zwei Jahren in einer Abwärtsspirale, die auch Sunak nicht stoppen konnte. Ganz im Gegenteil. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos ist die Zustimmung zu der Partei in ganz Großbritannien auf ein Rekordtief von nur noch 20 Prozent gefallen. Damit liegt sie 27 Prozentpunkte hinter der Labour-Partei – und das, obwohl sie in den vergangenen Wochen in den Augen mancher Wähler durchaus etwas erreicht hat, etwa das umstrittene Gesetz, nach dem illegal eingereiste Migranten demnächst nach Ruanda ausgeflogen werden können.
Doch die Öffentlichkeit hört den Konservativen nicht mehr zu, heißt es selbst aus den eigenen Reihen. Hochrangige Tories befürchten einen weiteren Zerfall, nach den Kommunalwahlen drohe ein Putschversuch gegen Sunak. Der Premier sagte am Wochenende, er wolle sich von den Umfragewerten nicht beirren lassen, schloss aber Parlamentswahlen im Juli nicht aus, die bisher eher für den Herbst erwartet wurden und spätestens im Januar 2025 stattfinden müssen.
Wackelt Premierminister Sunak?
Wie es für Sunak weitergeht, hängt nach Ansicht von Experten auch davon ab, ob die konservativen Bürgermeister der Regionen Tees Valley und West Midlands, Ben Houchen und Andy Street, gegen den Trend wiedergewählt werden. Sollten sie verlieren, könnte dies richtungsweisend sein, so Eoin Sheehan, Analyst beim Meinungsforschungsinstitut Redfield & Wilton Strategies, denn es würde das Narrativ von der „toxischen“ konservativen Marke erneut unterstreichen. Andy Streets 149-seitiges Manifest erwähnt die Konservativen nur einmal, im Wahlkampf setzt er auf Grün und Lila statt auf die Parteifarbe Blau. Ob das hilft, bleibt abzuwarten.