Wenn es eine Stadt auf der Welt gibt, in der Bademoden eine zentrale gesellschaftliche Rolle spielen,
Diesmal wird aber in der „Welt des Bikinis“ im siebten Stock des Shoppingcenters in der Rua Santa Clara in Rio de Janeiro nicht über die neuesten Kollektionen diskutiert, sondern über Politik.
Es wird gewählt in Brasilien. Am Sonntag findet die mit Spannung erwartet Stichwahl zwischen dem rechtsgerichteten Amtsinhaber Jair Bolsonaro und seinem linksgerichteten Herausforderer Lula da Silva statt. Und im siebten Stock der Rua Santa Clara könnten die Meinungen kaum gegensätzlicher sein.
Brasilien wählt neuen Präsidenten
„Ich stimme für Bolsonaro, wie beim letzten Mal. Ich bin zufrieden mit dieser Regierung, sie hat während der schweren Krisen wie der Pandemie oder dem Krieg viele richtige Dinge für das Land getan“, sagt Andrea Bastos (50). „Wenn er über Dinge wie Gott, Vaterland oder Familie sprich, bekomme ich eine Gänsehaut, weil die Brasilianer jetzt gläubiger, stärker und vereinter sind. Weil er Werte vertritt.
Obwohl einige ihn einen Faschisten nennen, ist er das genaue Gegenteil. Es ist menschlicher geworden. Sie nennen ihn so, weil er gegen ein System ist. Ein System, das hier in Brasilien schon lange installiert war. Und er kämpft gegen die Korruption.“
Wahl in Brasilien: Extrem rechts gegen radikal links
Jurema Santana (57), ihre Nachbarin im Ladenlokal von nebenan, sieht es komplett anders. „Ich habe nie für Lula gestimmt, bei der letzten Wahl habe ich Bolsonaro gewählt. Ich bin sehr enttäuscht von seiner Amtszeit. Ich denke, Lula kümmert sich mehr um die Armen. Ich brauche keine Unterstützung, unabhängig von einer Regierung wird mein Leben weitergehen. Aber die Armen brauchen Hilfe, und Lula hilft den Armen. Ich denke, dass ein Präsident das ganze Land sehen muss, nicht nur die Agrar-Industrie und die Reichen. Deshalb werde ich Lula wählen.“
Dass es überhaupt noch mal ein solch enges spannendes Rennen um die Präsidentschaft gibt, hätte vor vier Wochen kaum jemand für möglich gehalten. Die führenden Umfrageinstitute lagen mit ihren Voraussagen kräftig daneben, schätzten den Rückhalt für Bolsonaro viel geringer ein, als er tatsächlich in der Wählerschaft ist. Lula kam auf rund 48 Prozent der Stimmen, Bolsonaro holte rund 43 Prozent, ihm wurden teilweise nur knapp über 30 Prozent vorhergesagt.
Wegen der krassen Differenz wirft das Bolsonaro-Lager den Umfrageinstituten vor, versucht zu haben, die öffentliche Meinung zugunsten von Lula zu manipulieren. Die Institute bleiben bei ihren Voraussagen, sehen Lula teilweise deutlich vorne. Liegen sie am Sonntag wieder daneben, dürfte das für sie existenzgefährdend sein.
Harter Wahlkampf im Netz und auf der Straße
In den Netzwerken und auf der Straße tobt nun ein harter Kampf. Für die Bolsonaro-Anhänger war das deutlich bessere Ergebnis wie ein Aufputschmittel, sie gingen plötzlich hochmotiviert in die vier letzten Wahlkampfwochen und glauben wieder an eine realistische Siegchance. Wer in diesen Tagen durch die Straßen der großen Städte spaziert, erkennt schnell, für welchen Kandidaten das Herz schlägt. Kleine runde Aufkleber auf dem T-Shirt mit den Zahl 13 oder 22 sowie dem Foto des Kandidaten sind ein klares Bekenntnis für Lula oder Bolsonaro. Aus den Hochhäusern flattern Badetücher, mit den Gesichtern der beiden Rivalen. Die Spaltung ist optisch zu sehen und überall greifbar, es liegt eine Spannung in der Luft. Was passiert, wenn es so knapp wird, dass der Unterlegene das Ergebnis nicht anerkennt, fragen sie viele Menschen. Das Lula-Lager wirft Bolsonaro vor, dann einen Militärputsch zu planen.
Lula geht als leichter Favorit in die Wahl
Der Riss geht durch ganz Brasilien. Er spaltet ein Land in Katholiken und Evangelikale, in Reiche und Arme, Schwarze und Weiße, in Linke und Rechte - und fast alle reden nur noch übereinander, aber nicht mehr miteinander. Nach diesem Wahlkampf wird es einen Verlierer und einen Gewinner geben. Was aber bleiben wird, sind tiefe Narben von Beleidigungen, von Beschimpfungen, manipulierten Videos und übelsten Angriffen auf das jeweils andere Lager.
Von Satanismus, Kannibalismus, Pädophilie ist da die Rede. Wie der Wahlsieger nach diesem Wahlkampf ein Präsident des ganzen brasilianischen Volkes sein will und kann, ist im Moment nur schwer vorstellbar. Vielleicht ist das aber auch gar nicht das Ziel. Lula geht als leichter Favorit ins Rennen, allein schon wegen der Mathematik. Für ihn ist der Sprung über die 50 Prozent-Marke bei derzeit nur fehlenden zwei Prozent deutlich einfacher, während Bolsonaro, der noch rund sieben Prozent aufholen muss. Unmöglich ist das nicht, aber doch ein Stückchen unwahrscheinlicher.