Wer die 60er-, 70er- oder 80er-Jahre erlebt hat, kann sich an schier endlose Militärkonvois mit dröhnenden Panzern auf den Autobahnen, an Kampfjets im Tiefflug gut erinnern. Deutschland war Frontstaat direkt an der Grenze zum Warschauer Pakt, Militärübungen waren alles andere als eine Seltenheit.
Den Augenzeugen von damals könnte nun ein Déjà-vu-Erlebnis bevorstehen. Denn in diesen Tagen beginnt die heiße Phase des Großmanövers „Quadriga 2024“ mit rund 12.000 deutschen Soldatinnen und Soldaten. Eingebettet ist das Vorhaben in die noch weit größere Nato-Übung „Steadfast Defender“ („Standhafter Verteidiger“), für das die Allianz insgesamt etwa 90.000 Soldaten mobilisieren will. Die letzte vergleichbare Übung fand 1988 statt, mit etwas über 124.000 Soldaten.
Nato-Manöver Quadriga: Von der "Friedensdividende" ist keine Rede mehr
Von der viel zitierten „Friedensdividende“ nach dem Ende des Kalten Krieges ist nicht mehr die Rede. Verflogen wie die Hoffnung auf Frieden und nachhaltige globale Abrüstung nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes in den 90er-Jahren. Im Gegenteil: Spätestens nach Russlands Generalangriff auf die Ukraine im Februar 2022 ist die Bedrohung durch Moskau ein Dauerthema in der westlichen Welt.
In vielen Staaten – auch in Deutschland – geht es um die Ertüchtigung von über viele Jahre massiv unterfinanzierten Streitkräften, um neue Verteidigungsstrategien der Nato und um die effektive Verzahnung der verbündeten Armeen, also nicht zuletzt um große Militärmanöver.
Der Name „Quadriga“ geht auf das frühklassizistische Viergespann auf dem Brandenburger Tor in Berlin zurück – Ende des 18. Jahrhunderts errichtet, um der Macht Preußens zu huldigen. Seit dem Fall der Mauer steht das Kunstwerk für Freiheit und Einheit. Eine Symbolik, die aus Sicht der Nato exemplarisch zu der Motivation für die Manöver „Quadriga“ und „Steadfast Defender“ passt. Das Ziel der Übungen ist nicht – wie bei früheren Manövern üblich – fiktiv, sondern klar benannt. Geübt wird das Szenario eines russischen Angriffs an der Nato-Ostflanke.
Involviert sind die drei Divisionen des Heeres der Bundeswehr, Marine und Luftwaffe sowie Sanitäts- und Logistikeinheiten. Schwerpunkt ist die schnelle Verlegung von Truppenteilen. Konkret geht es darum, dass Kontingente zügig Norwegen („Grand North“) erreichen, über Polen nach Litauen („Grand Center“) vorstoßen, in den Südosten des Bündnisgebietes („Grand South“) gelangen sowie über die Ostsee nach Litauen („Grand Quadriga“) kommen. Damit wird das Augenmerk auf die erheblichen Defizite bei der Fähigkeit des Militärbündnisses zur schnellen Verlegung von Truppen in größerer Zahl gelegt.
Militärexperte Mölling: Ein Problem ist die Infrastruktur in Deutschland
Der stellvertretende Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Christian Mölling, hat keine Zweifel, dass „mehr und größere Manöver natürlich sinnvoll für Bundeswehr und Nato sind“. Allerdings dürfe die Politik in Deutschland nicht vergessen, das Augenmerk auf die Verbesserung der Infrastruktur zu legen: „Die Mobilität der Truppe liegt nicht nur in der Hand der Bundeswehr, dafür benötigen wir beispielsweise auch ein intaktes ziviles Schienensystem. Wie es darum derzeit steht, weiß jeder Berufspendler. Was in Friedenszeiten nicht funktioniert, kann im Ernstfall erst recht nicht funktionieren“, sagt Mölling im Gespräch mit unserer Redaktion. „Manöver haben generell zwei Funktionen. Erstens geht es darum, zu überprüfen, was man selbst kann oder noch verbessern sollte. Zweitens ist der Zweck, potenziellen Gegnern – in diesem Fall Moskau – zu zeigen, wozu man militärisch fähig ist“, fügt der Experte für Sicherheitspolitik hinzu.
Die Bundeswehr ist sich bewusst, dass Deutschland eine wichtige Rolle im Verteidigungskonzept für Europa spielt. „Deutschland ist das Rückgrat der Verteidigung Europas“, erklärte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. „Quadriga“ sei ein wichtiger Schritt zur „Kriegstüchtigkeit“ mit dem Ziel, einen Gegner abzuschrecken, fügte der oberste Soldat der Truppe hinzu. Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte mit seiner Bemerkung, dass Deutschland aktuell nicht „kriegstüchtig“ sei, eine aufgeregte Debatte ausgelöst.
Mölling fasst den Begriff weiter als Breuer in seinem Statement zum Auftakt der „Quadriga“-Übung: „Die Frage ist, wie viele Schritte wir noch zur Kriegstüchtigkeit brauchen. Diese Aufgabe betrifft nicht nur die Bundeswehr, sondern das gesamte Land. Wir brauchen eine effektive Armee, die von einer entsprechenden Infrastruktur, der Industrie und der Gesellschaft getragen wird. Ich glaube, das meinte Pistorius, als er von Kriegstüchtigkeit gesprochen hat.“