Beste politische Freude werden sie in diesem Leben wohl eher nicht mehr. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron sind nicht nur ihrem Wesen nach so unterschiedlich wie Tag und Nacht – hier der kühle Norddeutsche, dort der hitzige Draufgänger. Die Männer tragen ihre Rivalität inzwischen auch auf offener Bühne aus. Der so häufig beschworene deutsch-französische Motor, der Europa voranbringen soll, stottert laut vernehmbar. Einen neuen Schlag versetzt hat dem wichtigen Gespann die Debatte über das weitere Vorgehen in der Ukraine. Und nicht nur zwischen Paris und Berlin brodelt es anhaltend. Kurz gesagt: Die russische Propaganda- und Kriegsmaschinerie läuft auf Hochtouren. Doch die westlichen Verbündeten zanken untereinander.
Im Ausland muss beim Blick auf die Bundesregierung und ihren Chef inzwischen sogar die Cannabis-Legalisierung herhalten. Die sei, ätzte Kommentator Walter Russell Mead im Wall Street Journal (WSJ), gerade noch rechtzeitig gekommen. In einer Welt, in der sich niemand mehr nach Deutschland richte, brauche die Regierung jedes Mittel, um runterzukommen und Gelassenheit zu bewahren. Vor zwei Jahren hatte das noch ganz anders geklungen. Da stellte das WSJ fest: „President Biden is no Olaf Scholz“ (Präsident Biden ist kein Olaf Scholz) und lobte den SPD-Politiker dafür, dass der angesichts des russischen Einmarsches in die Ukraine die jahrzehntelange deutsche Verteidigungs- und Energiepolitik der Mitte-Links-Parteien kurzerhand auf den Kopf gestellt habe.
Hat Scholz militärische Geheimnisse ausgeplaudert?
Erst war es nur eine innenpolitische Streitfrage zwischen den Ampel-Koalitionären, ob die Marschflugkörper in die Ukraine geliefert werden sollen oder nicht. Seit Scholz vergangene Woche sein Schweigen über Taurus gebrochen hat, interessieren sich aber auch die Verbündeten verstärkt dafür. Der Vorwurf der Indiskretion steht im Raum und will von dort nicht mehr verschwinden. „Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung vonseiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden“, hatte der Kanzler gesagt. Was er genau damit meint, ließ er zwar offen. Der Satz wurde aber von einigen als Hinweis verstanden, Franzosen und Briten würden die Steuerung ihrer an die Ukraine gelieferten Marschflugkörper Storm Shadow und Scalp mit eigenen Kräften unterstützen.
Die Kritik, die dem deutschen Kanzler entgegenschlägt, ist deutlich und geht inzwischen ins Grundsätzliche. „Wir brauchen Staatschefs, die entschlossen handeln“, sagte der frühere Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in einem Interview mit der Neue Zürcher Zeitung. In Kriegszeiten könne man nicht führen, indem man der öffentlichen Meinung folge. „Wir brauchen eine viel entschlossenere deutsche Regierung. Bundeskanzler Scholz ist viel zu langsam, viel zu zögerlich. Er wirkt nicht wie ein Anführer“, sagte Rasmussen.
Scholz trotz Ukraine-Hilfen in der Nato eher schwach?
Selbst in Großbritannien, das sich traditionell eher weniger dafür interessiert, was auf dem Festland geschieht, brodelt es. Scholz kam die seltene „Ehre“ zuteil, es mit Namenserwähnung auf die Titelseiten britischer Zeitungen zu schaffen. „Wir wissen, dass Deutschland von russischen Geheimdiensten unterwandert ist, und das ist nur ein Beweis dafür, dass es weder sicher noch zuverlässig ist”, urteilte dort Ex-Verteidigungsminister Ben Wallace. Downing Street bezeichnete den Verrat von Militärgeheimnissen vonseiten des Bundeskanzlers als „sehr ernste Angelegenheit". Die britische Tageszeitung The Times sieht in Scholz trotz seiner umfangreichen Ukraine-Hilfen das schwächste Glied im Kreis jener Nato-Verbündeten, die das Kriegsland im besonderen Maße unterstützen. „In Berlin sollten einige Köpfe rollen”, verlangte der Kommentator.
Dass der Kanzler einem Nato-Partner in den Rücken fällt, um seine Entscheidung zu rechtfertigen? Höchste politische und militärische Kreise warfen dem SPD-Mann sogar „Geheimnisverrat” vor. Scholz habe gegen das ungeschriebene Protokoll verstoßen, bei solchen Einsätzen weder die Anwesenheit noch den Standort von eingesetzten Truppen öffentlich zu machen, sagte der ehemalige britische Nato-Beamte Jamie Shea gegenüber unserer Redaktion. Immerhin: London sei irritiert, werde aber schnell wieder zur Tagesordnung übergehen, glaubt er: „Deutschland ist ein zu wichtiger Verbündeter, um daraus einen bilateralen Vorfall zu machen.”
Macron stichelt gegen Scholz
So scheint man auch in Paris verfahren zu wollen. Der französische Außenminister Stéphane Séjourné erklärte in einem Interview mit Le Monde: „Es gibt keinen deutsch-französischen Konflikt, wir sind uns bei 80 Prozent der Themen einig.“ Es bestehe der Wille, miteinander zu sprechen. – Die Frage ist, ob Macron selbst sich daran hält. Denn der legte am Dienstag noch einmal nach. „Wir nähern uns mit Sicherheit einem Moment in Europa, in dem es gilt, nicht feige zu sein“, sagte er. „Man will nie die Dramen vorhersehen, die kommen.“ Obwohl es aus Macrons Umfeld umgehend hieß, der Präsident habe sich nicht auf Scholz bezogen, löste die vermeintliche Retourkutsche Empörung aus. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius sagte am Rande eines Besuchs in Schweden, Diskussionen über mehr oder weniger Mut seien „etwas, das nicht wirklich dazu beiträgt, die Probleme zu lösen“.
Jenseits aller Spitzen kristallisieren sich aber auch schlicht unterschiedliche Positionen heraus. Frankreich als einzige Atommacht in der EU pflegt die „strategische Ambiguität“, will Russland also im Unklaren darüber zu lassen, wozu es bereit ist und deshalb auch den Einsatz von Bodentruppen zumindest nicht öffentlich ausschließen. Zugleich hinkt die französische Militärhilfe zahlenmäßig im Vergleich deutlich hinterher. Scholz mag anfänglich gezögert haben, ist aber inzwischen zweitstärkster finanzieller und militärischer Unterstützer der Ukraine – während Macron häufig eher mit markigen Worten auftritt. Appelle aus Berlin, mehr zu liefern, verärgerten den Franzosen. Dass sein eigener Vorstoß zu Bodentruppen nicht nur im Kanzleramt als abenteuerlich bewertet wurde, spielt für ihn eine untergeordnete Rolle. Das Urteil von Le Monde über Deutschland und sein Führungspersonal lautet gleichwohl: „Ihr Verhältnis zum Krieg bleibt irreal, unbequem, grenzt sogar an Verweigerung.“
Wohlwollende Beurteilung aus den USA
Im Nato-Hauptquartier in Brüssel dürfte man den Streit mit wachsender Nervosität verfolgen. Immerhin von dort hat Scholz kaum etwas zu befürchten. Generalsekretär Jens Stoltenberg betont gebetsmühlenhaft, dass das Militärbündnis keinerlei Pläne habe, Soldaten in die Ukraine zu entsenden, auch wenn die Partner das kriegsgebeutelte Land „in noch nie dagewesener Weise“ unterstützten. Die Allianz will unbedingt vermeiden, in einen größeren Krieg mit dem atomar bewaffneten Russland hineingezogen zu werden. Allerdings hindert sie einzelne Mitglieder nicht daran, sich vor Ort zu engagieren. Die Organisation selbst würde jedoch nur eingreifen, wenn alle 32 Verbündeten zustimmen.
Auch in den USA ist der Blick auf Scholz eher wohlwollend. Angesichts der monatelangen innenpolitischen Blockade in den USA wirkt das, was in Berlin geschieht, aus Washingtoner Perspektive ja tatsächlich geradezu zielstrebig. Bei seinem letzten Washington-Besuch war Scholz gut anderthalb Stunden bei US-Präsident Joe Biden. Das ist mehr Zeit, als andere bekommen. Biden lobte Scholz ausdrücklich: „Sie haben etwas getan, von dem niemand dachte, dass es gelingen könnte: Sie haben die deutsche Militärhilfe für die Ukraine in diesem Jahr verdoppelt.“