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Verteidigung: Muss Deutschland „kriegstüchtig“ werden?

Der Altbautrakt des Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) im ehemaligen preußischen Regierungsgebäude am Rheinufer.
Verteidigung

Muss Deutschland „kriegstüchtig“ werden?

Foto: Thomas Frey, dpa
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    Annette Lehnigk-Emden hat einen überaus statthaften Blick darauf, wie Wehrhaftigkeit einst ausgesehen hat. Von ihrem Büro in einem der Obergeschosse des ehemaligen preußischen Regierungspräsidiums sieht sie, wie Vater Rhein in seinem weiten Bett zum deutschen Eck strömt. Dahinter erhebt sich die gewaltige Festung Ehrenbreitstein. Ob ein Land „kriegstüchtig“ werden muss? Der zweitgrößten historischen Verteidigungsanlage in Europa und ihren Kanonen muss man eine solche Frage nicht stellen. 

    Der Präsidentin des Bundesamtes für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBW) in Koblenz auch nicht. Es ist der Job der 62-Jährigen, dafür zu sorgen, dass die über Jahrzehnte blank gesparte Bundeswehr erhält, was sie immer dringlicher braucht, um das Land zu verteidigen und ihren Verpflichtungen in der Nato zu genügen: leistungsfähige und sichere Wehrtechnik sowie eine gute Ausrüstung. Die Verwaltungsjuristin ist schon seit über 30 Jahren im Dienst der Beschaffung tätig. Dass das riesige Amt, dessen Leitung sie vor einem knappen Jahr übernahm, öffentlich immer wieder scharf in der Kritik steht, ist ihr sehr bewusst. 

    Lehnigk-Emden, freundlich und direkt im Umgang, gerader Blick, kommt schnell zur Sache, wenn sie spricht. Sie hat eine klare Meinung: „Früher ist vor allem die öffentliche Kommunikation schiefgelaufen.“ Auch deshalb nimmt sie sich Zeit. Sich selbst übrigens hat sie mit Humor ausgerüstet. In ihrem Büro befindet sich – mal auf dem Schreibtisch, mal im Schrank – ein kleiner, aber praktikabler Punchingball. Die Dinger sollen bekanntlich Reaktionsfähigkeit und Beweglichkeit erhöhen. 

    Die Münchener Sicherheitskonferenz ist vielleicht notwendiger als jemals zuvor

    Das kann nie schaden. Erst recht nicht in diesen Tagen. In Europa tobt ein Krieg. In der Ukraine, sagen nicht nur die Ukrainer, werde die Freiheit des Kontinents verteidigt. Die Nato, die EU und Deutschland, leisten dabei ihren Beitrag. Aber der reicht hinten und vorne keinesfalls. Russland gewinnt noch nicht, aber dass es diesen Krieg verliert, danach sieht es derzeit auch nicht aus. Eher im Gegenteil. 

    In München hat die Sicherheitskonferenz begonnen. Dieses jährliche Treffen von Staats- und Regierungschefs, Topdiplomaten, hochrangigen Generälen und Sicherheitsexperten ist vielleicht notwendiger, als jemals zuvor. 2007 rechnete der russische Herrscher Wladimir Putin im Bayerischen Hof mit der vom Westen dominierten Welt ab. Für ihn, das sagte er Jahre später außerdem, ist der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Eine imperialistische, zu jeder Grausamkeit bereite Armee im Osten, ein immer mächtiger werdendes autokratisches China, die USA, deren Wähler sich möglicherweise nicht vor einer Wiederkehr Donald Trumps bewahren wollen – und mittendrin das militärisch schwache Europa, schutzlos ohne die von den USA dominierte Nato. 

    Von der der mögliche nächste US-Präsident gerade gesagt hat, er würde nur solche Staaten des Bündnisses verteidigen, die genügend gezahlt haben – und damit eine hitzige Debatte auslöste, ob Europa eigene Atomwaffen braucht. Keine gute Gemengelage für Deutschland und die Bundeswehr, die zwar endlich aufgerüstet wird, aber weit davon entfernt ist, eine schlagkräftige Armee zu sein. Eher Sandsack, weniger Boxer. 

    Kann Deutschland überhaupt rechtzeitig "kriegstüchtig" werden?

    Es gibt zumindest gute Gründe, „kriegstüchtig“ zu werden. Wenn man das so sieht. Es gibt auch andere Meinungen. Aber wenn, dann muss die zwingende Anschlussfrage lauten: Kann das überhaupt rechtzeitig gelingen? 

    Lehnigk-Emden sagt: „Wenn nicht, liegt es nicht an uns. Wir haben schon mehr als 60 Milliarden Euro des Sondervermögens in Verträge gegossen. Der Rest folgt aller Voraussicht nach bis zum Jahresende.“ Der Punchingball ruht im Schrank, aber die sachliche Tonlage ihrer Stimme ist nun sehr sachlich. Sie kann ausführlich begründen, warum das BAAINBW, zuletzt wieder bei der Kritik am Sturmgewehr G95A1, aus ihrer Sicht zu Unrecht am Pranger steht. Die Liste der ihrem Amt zugeschriebenen Unzulänglichkeiten ist lang, aber sie sagt: „Ich kann fachlich in dieser Behörde keine Fehler erkennen.“ 

    BAAINBW-Präsidentin Annette Lehnigk-Emden: "Wir müssen priorisieren, vieles bleibt liegen."
    BAAINBW-Präsidentin Annette Lehnigk-Emden: "Wir müssen priorisieren, vieles bleibt liegen." Foto: Britta Pedersen, dpa

    Im BAAINBW gibt es eine „Vision“. Diese lautet: „Wir werden als kompetenter und motivierter Partner für Rüstung wahrgenommen. Für bestmögliche Ergebnisse ziehen wir gemeinsam an einem Strang.“ Wenn das aber die Vision ist, was ist dann in der Gegenwart und was war in der Vergangenheit? Lehnigk-Emden sagt: „Wir hatten früher nicht ausreichend Geld, um diese Vision voll und ganz zu unterstützen. Die Vision, und das ist damit gemeint, ist natürlich die Vollausstattung der Bundeswehr.“ 

    Das Bundesamt für Ausrüstung hat rund 12.500 Dienstposten

    Daran arbeiten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen. Ihr Amt ist eine sehr große und weitverzweigte Behörde. Sie hat rund 12.500 Dienstposten. Allein in Koblenz sind es etwa 7500. Allerdings sind 1000 unbesetzt. Ob diese Personalausstattung nicht reicht? Die schnelle Antwort: „Nein. Wir müssen priorisieren, vieles bleibt liegen. Und vor allem: Wir machen hier Projektmanagement. Wir haben ein kompliziertes und schwieriges Geschäft. Wir sind nicht einfach eine Einkaufsabteilung.“ 

    Wer sich Zeit nimmt und einen Tag mit den Beamtinnen und Beamten ihres Hauses diskutiert, lernt einmal mehr: Die Wirklichkeit ist kompliziert. Zu dem fälschlicherweise oft als „Beschaffungsamt“ bezeichnete Haus gehören auch noch die sechs Wehrtechnischen Dienststellen, etwa die WTD 61 für Luftfahrzeuge und Luftfahrtgerät in Manching, das Marinearsenal und zwei wehrwissenschaftliche Institute. Sie sind über ganz Deutschland verstreut. Sogar eine Außenstelle in Nordamerika gibt es. Und das Amt ist im Gesamtsystem der Bundeswehrbeschaffung nur ein Glied in der Kette. Von der Idee bis zum fertigen Gerät ist es ein komplexer Prozess. Es kann dauern. 

    Die Beschaffung von Waffen ist ein komplexes Geschäft

    Sehr verkürzt geht der Ablauf so: Es gibt zum Beispiel im Heer die Idee für ein neues Aufklärungs- und Gefechtsfahrzeug für die Spezialkräfte. Diese Idee geht dann zur Analyse und Planung ins Bundesverteidigungsministerium. Danach entscheidet der Generalinspekteur über die Lösung, und dann erst kommt die Sache in Koblenz an – auch wenn man natürlich schon vorher mit der Planung im Ministerium eng zusammengearbeitet hat. Die Projektleiter im BAAINBW übernehmen schließlich die Beschaffung in Koblenz. 

    Es wird dann möglicherweise ein Rahmenvertrag geschlossen. Bevor aber final bestellt wird, gibt es noch Einsatzprüfungen für das Hightech-Trumm unter verschiedenen Bedingungen. In Peru (Höhentauglichkeit), in den USA (heiß und trocken), in Panama (heiß und feucht) und in Alaska (sehr kalt). Klingt aufwendig, aber das tonnenschwere Gefährt ist kein Urlaubsjeep, sondern soll im Gefecht zuverlässig funktionieren. Versichert wird auf Nachfrage, dass es sich dabei nicht um die berüchtigte Goldrandlösung handele, nicht das Beste vom Besten sei, sondern einen vernünftigen Kompromiss. Ist alles geklärt, und alle Seiten sind zufrieden, können die Hersteller produzieren und liefern. 

    Präsidentin Annette Lehnigk-Emden will die Eigenverantwortung ihrer Beschaffer stärken

    Knapp zusammengefasst: Es kann viel Wasser an Ehrenbreitstein vorbeifließen. Im konkreten Fall fünf Jahre. Natürlich geht es auch schneller, wenn etwas auf dem Markt Verfügbares gekauft werden kann. Das geht aber nicht immer, auch wenn das eine der expliziten Maßgaben ist, um schneller „kriegstüchtig“ zu werden. 2023 hatte das Amt über 1600 Projekte in Arbeit. 

    Klar wird: Das BAAINBW steht, wenn es um Beschaffung geht, zwar prominent in der Öffentlichkeit, aber es ist Teil einer längeren Entscheidungskette. Fragt man die Präsidentin, wie man Geschwindigkeit aufgenommen hat, was das Bundeswehrbeschaffungsbeschleunigungsgesetz und der Beschleunigungserlass gebracht haben, sagt sie: „Wir hatten 167 interne Regeln und Vorschriften, knapp die Hälfte davon haben wir aufgehoben.“ 

    Wie das Ausrüstungs-Amt der Bundeswehr schneller geworden ist

    Zugleich will sie die Eigenverantwortung ihrer Mitarbeitenden stärken. „Wir möchten die Kreativität unserer Leute fördern, andere Lösungen zu suchen, als die, die wir irgendwann mal vorgegeben haben. Auch davon versprechen wir uns, schneller zu werden.“ Was aber besonders helfe, sei der Verzicht auf die Losvergabe. „Wenn wir früher 3000 Lastwagen bestellen wollten, müssen wir für 1000 davon jeweils ein Los vergeben und danach drei Vergabeverfahren durchführen. Jetzt reicht eins.“ 

    Und wenn sie in dem langen Entscheidungsprozess etwas verändern könnte, damit Deutschland schneller „kriegstüchtig“ wird? Die Präsidentin antwortet, dass sie sich zum Beispiel vorstellen könne, mit den Inspekteuren der Teilstreitkräfte direkt zu sprechen: „Wenn der dann sagt: Hier habe ich Bedarf, dann könnte ich ihm anbieten, zu schauen, was am Markt verfügbar ist. Und dann unterhalten wir uns, in welchem Verfahren – es hängt ja immer von den Wertgrenzen des Auftrages ab – wir das umsetzen.“ 

    Für den Militärhistoriker Sönke Neitzel muss man über die Notwendigkeit der Wehrpflicht nicht diskutieren

    Der Rhein strömt weiter, heute Grau in Grau, Lehnigk-Emden hat Anschlusstermine. Bis wann Deutschland tatsächlich „kriegstüchtig“ ist, kann sie nicht sagen. Wichtig ist ihr: „Die Bundeswehr braucht große Unterstützung innerhalb der Bevölkerung, damit ihre Finanzierung gar nicht hinterfragt und besser wird. Denn wir sichern mit unserer Arbeit unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung.“ 

    Militärhistoriker Sönke Neitzel ist überzeugt, dass Deutschland seine Anstrengungen vervielfachen muss, um seine Verpflichtungen in der Nato zu erfüllen.
    Militärhistoriker Sönke Neitzel ist überzeugt, dass Deutschland seine Anstrengungen vervielfachen muss, um seine Verpflichtungen in der Nato zu erfüllen. Foto: Matthias Rietschel, dpa

    Dem widerspricht Sönke Neitzel nicht, denn er sagt klipp und klar: „Wir können nicht ausschließen, dass deutsche Soldaten eines Tages an der Ostflanke der Nato kämpfen müssen – allen diplomatischen Anstrengungen zum Trotz.“ Der Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam ist überzeugt, dass Deutschland seine Anstrengungen vervielfachen müsse, um seine Verpflichtungen in der Nato zu erfüllen. Etwa bei der viel diskutierten rund 5000 Männer und Frauen starke Brigade für Litauen. Ende 2027 soll sie kampfbereit sein.

    Die Nato wird Deutschland früher um Unterstützung bitten

    Das reiche nicht, findet Neitzel. „Die große Anfrage der Nato wird vorher kommen“, glaubt der Wissenschaftler. Damit was vorangeht, meint er, müsse das gesamte Bundeskabinett die Bundeswehr von „ihren administrativen Fesseln, aus dem Korsett einer Friedensarmee, lösen. Das kann Pistorius gar nicht alleine. Denken Sie nur an so etwas wie Arbeitsschutzrichtlinien oder an das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr in Köln – meiner Meinung nach ein bürokratischer Moloch.“ 

    Und wenn es um Rekrutierung geht, die Aussetzung der Wehrpflicht wieder rückgängig zu machen, muss man mit Neitzel auch nicht diskutieren. Er selbst hat 1987/88 seinen Wehrdienst geleistet, zwei Jahre später nochmals eine Wehrübung absolviert, ist derzeit von der Einsatztauglichkeit allerdings in etwa so weit entfernt wie die für Litauen vorgesehene Brigade. Die Bundeswehr sei überaltert und sie habe ein Nachwuchsproblem, bemängelt der Experte. „An der Notwendigkeit eines Pflichtjahres – gleichgültig nach welchem Modell – besteht überhaupt kein Zweifel.“ Aber der Kanzler und das gesamte Kabinett müssten das wollen. An der Bundeswehr könne man wie an so vielen anderen Bereichen sehen, dass „dieses Land nur in Tripleschritten vorangeht, aber eben nicht groß denkt.“ Er gibt noch ein Beispiel, das die Nachwuchsmisere auf den Punkt bringt: „Wir haben mittlerweile Leute, die bei der Panzertruppe sind, die noch nie einen Panzer gesehen haben, sondern nur den Simulator. Die waren motiviert und sagen jetzt natürlich, das ist doch sinnlos.“ 

    Ein positiverer Diskurs als derzeit ist für die Bundeswehr kaum vorstellbar

    Warum die Wehrpflichtdebatte nicht entschiedener geführt wird, findet er auch deshalb so erstaunlich, weil sich die Einstellung der Kultur- und Medieneliten seit dem Angriff Russlands spürbar verändert habe. „Eingefleischte Grüne werfen Pistorius nicht Militarismus vor, sondern dass er schneller machen soll. Ein positiverer Diskurs über die Bundeswehr ist doch in einem liberalen und kritischen Land kaum vorstellbar.“ Er selbst habe eine ganze Reihe Freunde im Kulturbetrieb, die inzwischen sagten, dass sie den Wehrdienst heute nicht mehr verweigern würden. 

    Das Gefährlichste für Neitzel ist, dass Russlands Überfall auf die Ukraine zeige, dass es wieder möglich sei, konventionelle, also nicht atomare, Kriege in Europa zu führen. Vielleicht auch – und das ist seine größte Sorge – gegen die Nato. Trumps viel diskutierter Wahlkampfauftritt könnte Putin genau darin bestärken: „Der Herr im Kreml könnte sich sagen: Wir testen mal, was passiert, wenn wir ein kleines Nato-Land angreifen und mit einem Atomschlag drohen. Und dann schauen wir, wie der Westen reagiert. Im schlimmsten Fall verlieren die Russen 30.000 Mann. Das schreckt Putin nicht.“ Umso entscheidender ist für Neitzel deshalb, dass Deutschland seine Hausaufgaben zügig erledigt. Unsere Schwäche ist eine Einladung für Putin, nach dem Krieg in der Ukraine den Westen herauszufordern. Und die Wahrscheinlichkeit, dass er sich traut, sinkt, je schlagkräftiger die Bundeswehr wird.“ 

    Was Deutschlands bekanntester Pazifist Jürgen Grässlin zu all dem sagt

    Deutschlands bekanntester Pazifist Jürgen Grässlin kann da nur mit dem Kopf schütteln. Er teilt weder die Meinung der Armee-Ausrüsterin Lehnigk-Emden noch die des Militärhistorikers Neitzel. Seine Profession ist es, Frieden ohne Waffen zu schaffen. Er arbeitet an einer Welt, in der militärisches Material erst gar nicht beschafft werden muss. So würde der Aktivist gerne auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine Rede halten. Dann hätte Grässlin die Gelegenheit, den Teilnehmern nahezulegen, weshalb schon der Name der Tagung aus seiner Sicht verfehlt ist: „Denn Sicherheitskonferenz ist ein Begriff der Kriegs- und nicht der Friedensrhetorik.“ 

    Für den 66-Jährigen „trifft sich bei dem Event die Crème de la Crème der Unkultur der Kriegslogik“. Dass Grässlin so denkt, dürfte den Organisatoren der Sicherheitskonferenz bekannt sein. Seinem Namen wohnt für Menschen, die an der Sicherheitslogik festhalten, ein hohes Abschreckungspotenzial inne. Der Friedensaktivist merkt ironisch an: „Sie haben auch dieses Jahr nicht bei mir angerufen und mich um einen Redebeitrag gebeten. 

    Dass Jürgen Grässlin (Mitte) zum Friedenskämpfer wurde, ist der Bundeswehr zu verdanken.
    Dass Jürgen Grässlin (Mitte) zum Friedenskämpfer wurde, ist der Bundeswehr zu verdanken. Foto: Sina Schuldt, dpa

    Der Autor arbeitet ohnehin „Tag und Nacht“ an einem neuen Buch. Dieses Mal hat er sich mit Konstantin Wecker, dem Liedermacher und Bruder im pazifistischen Geiste, zusammengetan, um Menschen und Organisationen vorzustellen, die sich „der Friedenslogik verschrieben haben“. Grässlin war vier Jahrzehnte als Lehrer an einer Realschule in Baden-Württemberg tätig. Er lebt in Freiburg. Dass der Pädagoge zum Friedenskämpfer wurde, ist der Bundeswehr zu verdanken. Denn der in einem militärkonformen Umfeld aufgewachsene Mann entschied sich für die Truppe, im Glauben, dort als Mitglied eines Sanitäts-bataillons Menschen helfen zu können. Dann sollte sein Vorgesetzter einen Tagesbefehl ausgeben, der das Leben Grässlins radikal veränderte, lautete die ihm gestellte Aufgabe doch: „Kopfschusstraining an Chinesen“. Er hätte ins Schwarze und damit zwischen die Augen des Gegners treffen müssen. Es meldete sich sein „mitfühlendes Herz“. Der Mann verweigerte die Schießübung und wurde letztlich als untauglich erklärt. 

    Jürgen Grässlin legte sich mit Heckler & Koch an

    Das war die Geburtsstunde des kämpferischen Pazifisten, der sich mit den Mächtigen der Militärindustrie anlegte, ob mit dem einst größten deutschen Rüstungsbetrieb, der Daimler-Benz AG, oder mit dem Handfeuerwaffen-Produzenten Heckler & Koch. Beide Goliaths wollten den lästigen David, der auf Aktionärstreffen gegen die Unternehmensführung stichelte, juristisch in die Knie zwingen. Grässlin hält sich indes zugute, in allen Verfahren die Oberhand behalten zu haben und dreimal vor dem Bundesgerichtshof siegreich gewesen zu sein. Dabei setzte sich der Friedensbewegte höchstrichterlich gegen den früheren Daimler-Chef Jürgen Schrempp durch, der „mich mundtot machen wollte“. 

    Das Grässlin-Prinzip „Steter Tropfen höhlt den Stein“ bewährte sich auch bei Heckler & Koch. Denn das aus Sicht des sturen Optimisten „einst tödlichste Unternehmen der Welt“ beschloss eine „Grüne-Länder-Strategie“, beschränkte sich darauf, nur noch Staaten mit Pistolen und Maschinengewehren zu beliefern, die der Europäischem Union und/oder der Nato angehören, beziehungsweise dem Verteidigungsbündnis gleichgestellt sind. 

    Wie soll man sich als Pazifist gegenüber Wladimir Putin verhalten?

    Die Siege über Daimler wie Heckler & Koch glückten Grässlin mit jeweils einer Aktie, die ihm bei beiden Unternehmen das Rederecht bei Hauptversammlungen einräumen. 

    Das Prinzip der einen Aktie zur Verbesserung der Welt funktioniert nicht gegen einen brutalen Kriegsherrn wie Wladimir Putin, den Grässlin äußerst kritisch sieht. Doch bekommt in dem Diktatorenfall auch ein standhafter Pazifist wie er Gewissensbisse, reiht sich wie viele Grünen-Politiker in die Truppe der militärischen Ukraine-Unterstützer ein? Der Friedens-Mann spricht in Bezug auf den Überfall Russlands auf die Ukraine von einem „harten Rückschlag“. 

    Bröckelt sein pazifistisches Weltbild? Grässlin schüttelt den Kopf: „Der antimilitaristische Kampf ist ein Lebensengagement, wohl wissend, dass es Berge und Täler gibt.“ Für ihn bleibt das Militär weiterhin nicht die Lösung, sondern sei unverändert das Problem. Seine Lebenserkenntnis macht er an Militäreinsätzen wie in Afghanistan fest: „Hier haben zunächst die Russen und später die USA und Deutschland vergeblich versucht, mit der Macht der Rüstung das Land zu befrieden.“ 

    Die Deutsche Friedensgesellschaft befürchtet in der Ukraine eine weitere Eskalation

    Für die Ukraine befürchtet der Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft Ähnliches und warnt vor einer weiteren Eskalation, die bis zu einem Einsatz taktischer Atomwaffen reichen könnte. 

    Doch wie lässt sich ohne Waffen in der Ukraine Frieden schaffen? Grässlin spricht von einem „barbarischen völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine“ und stuft Putin, der ein inhumaner Machtmensch sei, als „eiskalt“ ein. Ein solcher Aggressor lässt sich doch nicht durch Argumente auf friedliche Pfade lenken. Der Aktivist beschwört die Kraft des zivilen und gegen Menschen gewaltlosen Widerstands, wie ihn einst Mahatma Gandhi in Indien erfolgreich praktizierte. Nach der gewaltlosen Logik hätte die Bevölkerung der Ukraine nach dem russischen Einmarsch in den Generalstreik treten müssen. „Das hält kein Aggressor auf Dauer durch. Hunderttausende Menschen wären gerettet worden“, glaubt Grässlin. Für eine solche Option, die Trainings in Friedenszeiten erfordert, scheint es allerdings zu spät zu sein. 

    Ist Grässlin mit seinem Friedenslatein am Ende? Nein, er schlägt eine andere Lösung vor, die den Krieg und das Morden zum Ende bringen könnte. Demnach würde in einem neutralen Land wie der Schweiz eine von UN-Generalsekretär Antonio Guterres moderierte Friedenskonferenz stattfinden. Als Ergebnis müsste die Ukraine einen neutralen Status mit Schutzgarantien beider Seiten bekommen. 

    Willy Brandt würde sich im Grab umdrehen

    Am Ende scheint es ein unmögliches Unterfangen zu sein, den Pazifisten und Optimisten Grässlin zu bekehren, im Fall Putins eine militaristische Ausnahme zu machen, glaubt er doch: „Ich bin der festen Überzeugung, dass die Unkultur des Krieges durch die Kultur des Friedens überwunden wird.“ Der Pazifist bleibt sich treu, auch wenn das zu Abschieden führt: Obwohl er einer der Mitbegründer der Grünen ist, trat Grässlin aus der Organisation aus, als der damalige grüne Außenminister Joschka Fischer den Kampfeinsatz der Bundeswehr im Kosovokrieg rechtfertigte. 

    Seitdem gehört Grässlin keiner Partei an und beobachtet mir Argwohn, wie Kanzler Olaf Scholz Deutschland aufrüstet und Friedensbewegte „als „gefallene Engel, die aus der Hölle kommen“ abqualifiziert: „Der Friedensnobelpreisträger Willy Brandt wird sich dabei im Grabe umgedreht haben.“ 

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