Die englische Redewendung „As long as it takes“ ist in Nato-Kreisen seit geraumer Zeit besonders beliebt und fehlt in kaum einem Politiker-Statement. Solange, wie es nötig ist, werde man die Ukraine im Kampf gegen Russland unterstützen, versprechen US-Präsident Joe Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz oder Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gebetsmühlenhaft. Die Zusage ist so hinreichend vage, dass sich die Verbündeten problemlos darauf einigen können.
Wird es dagegen konkreter, offenbaren sich Risse in der zur Schau gestellten Einigkeit. Das zeigte der Nato-Gipfel, der am gestrigen Dienstag in der litauischen Hauptstadt Vilnius begann. So physisch nahe waren die Staatenlenker dem aktuellen Gegner noch nie bei ihren regelmäßigen Treffen in der 74-jährigen Geschichte. Immerhin liegt Russland nur rund 180 Kilometer entfernt vom Messegelände, wo es vor allem um eine Frage ging: Welche Perspektive will das transatlantische Bündnis der Ukraine bieten? Noch am späten Dienstagnachmittag verhandelten und rangen die Partner um die finale Fassung der Gipfelerklärung. Das Feilschen um Worte bis zum letzten Moment wollten die Staats- und Regierungschefs eigentlich vermeiden, doch die Positionen lagen schlicht zu weit auseinander bei der Ansicht, was man Kiew an Garantien für die Zeit nach dem Krieg bieten kann – oder will.
Nato-Staaten einigen sich auf einstufigen Beitrittsprozess für die Ukraine
„Die Zukunft der Ukraine ist in der Nato“, hieß es schlussendlich im Kommuniqué. Zu einer Beitrittseinladung werde die Nato der Erklärung zufolge allerdings erst in der Lage sein, „wenn die Verbündeten sich einig und die Voraussetzungen erfüllt sind“. Als konkrete Beispiele wurden „zusätzliche erforderliche Reformen im Bereich der Demokratie und des Sicherheitssektors“ angeführt. Das war substantiell mehr als in früheren Entwürfen gestanden war. Und trotzdem nicht genug für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Der hatte aus der Ferne Druck gemacht, bevor er am frühen Abend ebenfalls in Vilnius eintreffen sollte. Es sei „beispiellos und absurd, wenn es keinen Zeitplan gibt, weder für die Einladung noch für die Mitgliedschaft der Ukraine“, monierte Selenskyj und kritisierte „vage Formulierungen über Bedingungen“. Eine formelle Einladung in die Nato hatten vorneweg die USA und Deutschland abgelehnt. Auch auf genaue Zeitpläne wollten sie sich nicht festlegen. Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte zuvor verlangt, dass das angegriffene Land zumindest ein deutliches Signal für eine Aufnahme in die Allianz erhalten solle. „Die Ukraine ist einen langen Weg gegangen.“ In der Erklärung folgten die Partner seiner Empfehlung, nach der man auf den sonst üblichen Membership Action Plan (MAP) zur Heranführung von Beitrittskandidaten im Fall der Ukraine verzichten sollte. Als „eine Geste in Richtung Ukraine“ bezeichnete ein Diplomat den Schritt.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach davon, „die gefundene Einigkeit und Solidarität auch weiter voranzubringen“. Man müsse sich „gegen eine Bedrohung unseres Territoriums wappnen“. Die empfindet vorneweg Litauen.
In Litauen ist die Angst vor Russland spürbar
Anders als die USA und Deutschland hatten östliche Mitgliedstaaten auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine gepocht. Dies wurde schon am Austragungsort des Gipfels deutlich. Anders als in vielen anderen Mitgliedstaaten spielt die Nato in dem baltischen Land auch in Nicht-Gipfel-Zeiten eine besondere Rolle. Aufgrund seiner geografischen Lage zwischen Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad wird die Region als wunder Punkt an der Ostflanke des westlichen Verteidigungsbündnisses betrachtet. Umso symbolischer war die Wahl von Vilnius als Veranstaltungsort – sowohl für die Welt als auch für die stolzen Gastgeber. Kaum ein Bus, eine Häuserfassade, eine Litfaßsäule, wo die Flagge mit der weißen Kompassrose auf marineblauem Feld fehlen würde. Neben den Nato-Symbolen wehen etliche blau-gelbe Fahnen als Zeichen der Solidarität zur Ukraine.
Ein anderes Streitthema war schon vor dem offiziellen Beginn des Gipfels vom Tisch, nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am späten Montagabend nach einem langen Gespräch mit Stoltenberg und dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson eingelenkt und sein Veto gegen die Aufnahme Schwedens in die Allianz aufgegeben hatte. Sobald das türkische Parlament das Beitrittsprotokoll ratifiziert hat, was als Formsache gilt, ist das skandinavische Land das 32. Mitglied.
Die von Erdogan entfachte Auseinandersetzung vergiftete monatelang die Atmosphäre im Bündnis. Umso erleichterter zeigte sich Stoltenberg. Der Gipfel sei „bereits historisch, bevor er begonnen hat“, sagte der Norweger. Tatsächlich war die Last-Minute-Einigung vor allem politisch und symbolisch für das Bündnis wichtig, um glaubwürdig die Botschaft der inneren Geschlossenheit aussenden zu können. Der mühsam erzielte Durchbruch ist auch auf Stoltenberg zurückzuführen, der sich seit mehr als einem Jahr persönlich um die Befindlichkeiten der Türkei gekümmert hatte.