Es ist das Wort, das mit der Kanzlerschaft von Olaf Scholz in Verbindung bleiben wird: die "Zeitenwende". Jahrelang war die militärische Verteidigung des Landes und die Ausgaben für diesen Sektor zum politischen Stiefkind verkommen. Mit dem Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine drehte sich die Stimmung, sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch in der Bevölkerung. Doch eineinhalb Jahre nach der Ausrufung der "Zeitenwende" wird immer zweifelhafter, wie die Regierung das Schlagwort mit konkreten Vorhaben ausfüllen will. Die Finanzierung wird immer unsicherer.
Anders als geplant will das Verteidigungsministerium das Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben, nicht rechtlich bindend machen. Im Haushaltsentwurf, der in der vergangenen Woche verabschiedet wurde, tauchte der Passus zu einer gesetzlichen Selbstverpflichtung nicht mehr auf. Stattdessen ist davon die Rede, dass man die zwei Prozent im mehrjährigen Durchschnitt einhalten wolle.
Laut der Nachrichtenagentur Reuters war es das Auswärtige Amt, das gegen den Passus im Haushaltsgesetz war. Dort hält man die bisherige Rechtslage für ausreichend.
Deutschland verfehlt 2023 das Zwei-Prozent-Ziel
Bundeskanzler Scholz hatte im Februar 2022 gesagt, Deutschland werde "von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in unsere Verteidigung investieren". Doch schon jetzt bricht die Bundesregierung das Versprechen, das der Kanzler der Nato gegeben hatte. Im laufenden Jahr 2023 werden 68 Milliarden Euro für die Verteidigung ausgegeben – entspricht 1,7 Prozent der Wirtschaftsleistung. Und das Ifo-Institut mit Sitz in München sieht auch im nächsten Jahr eine deutliche Lücke.
Für 2024 plane die Regierung mit einem Verteidigungshaushalt von 52 Milliarden Euro sowie Ausgaben des Sondervermögens Bundeswehr von 19 Milliarden Euro (inklusive Zinszahlungen). "Auch das sind nur 1,7 Prozent der Wirtschaftsleistung. Es fehlen 14 Milliarden Euro, die bei anderen Ministerien als Verteidigungsausgaben klassifiziert werden müssten", sagt Ifo-Militärexperte Marcel Schlepper. Was diese Ausgaben im Umfang von 0,3 Prozent der Wirtschaftsleistung genau sein sollen, ist bislang unklar.
Schon in der Vergangenheit wurden, so kritisieren die Münchner Wirtschaftsforscher, Ausgaben anderer Ministerien bei der Berechnung der Verteidigungsausgaben einbezogen. Es ist ein haushalterischer Kniff. Im Jahr 2014 waren es 1,6 Milliarden Euro. "Die Bundesregierung sollte Transparenz schaffen, in welchem Umfang sich die anderen Ressorts neu für Verteidigung engagieren oder ob es sich lediglich um eine Umetikettierung schon länger bestehender Ausgabenposten handelt", sagt Schlepper.
Sondervermögen könnte schon bald aufgebraucht sein
Seit 2022 ist der Verteidigungshaushalt preisbereinigt sogar zurückgegangen. Aus dem 100 Milliarden Euro umfassenden Sondervermögen Bundeswehr sind bis Mitte 2023 erst 1,2 Milliarden Euro abgeflossen. Täuschen sollte das allerdings nicht. Der Topf – ein wichtiger Bestandteil, um das Nato-Ziel zu erreichen – könnte schneller leer sein als gedacht. Annette Lehnigk-Emden, die neue Präsidentin des Beschaffungsamtes der Bundeswehr, sagte, dass das Geld schon im kommenden Jahr vollständig ausgegeben sein könnte.
Bislang war erwartet worden, dass das 2028 der Fall sein dürfte. "In diesem Jahr werden wir noch Verträge in zweistelliger Milliardenhöhe schließen, sowohl aus dem Wehretat als auch aus dem Sondervermögen finanziert", kündigte sie an. Sie fordert deshalb eine Erhöhung des Wehretats. Das wäre auch notwendig, wenn Scholz sein Versprechen halten will. Er hatte zugesichert, das Zwei-Prozent-Ziel auch dann einzuhalten, wenn das Sondervermögen aufgebraucht ist. Das würde dann harte Einschnitte für andere Bereiche des Haushalts oder eine Anhebung von Steuern bedeuten, weil die Budget-Lücke ohne das Sondervermögen umso größer ist.
Ohnehin ist das über Schulden finanzierte Sondervermögen durch die hohe Inflation bereits jetzt faktisch zusammengeschmolzen. Hinzu kommen die steigenden Zinsen, die der Bund für die Kreditaufnahme auch aus dem Sondervermögen begleichen muss. Steigen die Zinsen, steht also weniger Geld für die konkreten Anschaffungen für die Bundeswehr zur Verfügung. Bei der Truppe steigen zudem die Betriebskosten durch Gehälter, Pensionen und zum Beispiel Sprit. Das Ifo-Institut hat ausgerechnet, dass die "echte" Investitionssumme bei nur noch 59 Milliarden Euro statt 100 Milliarden Euro liegen könnte.
Deutschland liegt im internationalen Vergleich weit abgeschlagen
Kritik am Vorgehen der Regierung kommt sogar aus den eigenen Reihen. Der SPD-Verteidigungspolitiker Joe Weingarten sagte dem Spiegel: "Wenn wir das Zwei-Prozent-Ziel nicht ohne Wenn und Aber umsetzen, stehen wir sowohl gegenüber der Nato als auch gegenüber den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr unglaubwürdig da", mahnt der Sozialdemokrat. "Semantische Verrenkungen helfen da nicht."
Deutschland liegt mit seinen Ausgaben für die Verteidigung schon jetzt hinter vielen anderen Ländern der Nato. Das Verteidigungsbündnis wird zum Großteil von den USA finanziert. Sie tragen rund zwei Drittel der Bündnisausgaben von 1,2 Billionen Euro. Mit 860 Milliarden US-Dollar (791 Mrd. Euro/3,49 Prozent) plante Washington zuletzt mehr als doppelt so viel Geld für Verteidigung ein wie alle anderen Bündnisstaaten zusammen. Setzt man die Ausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt, landen die USA dennoch nur auf Platz 2.
An erster Stelle liegt mittlerweile Polen, das 3,9 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für das Militär ausgibt und damit mehr, als es eigentlich müsste. Die Atommächte Großbritannien (2,07 Prozent) und Frankreich (1,9 Prozent) liegen etwas über beziehungsweise knapp unter der Zielmarke. Auch Finnland, Griechenland, Ungarn, Polen, Litauen, Estland, Lettland, Rumänien und die Slowakei erreichen das Zwei-Prozent-Ziel. Deutschland liegt nach Berechnung der Nato auf Platz 21.