Mit einer Spur von Selbstkritik blickt Altkanzlerin Angela Merkel (CDU) bei ihrer Vernehmung als Zeugin im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestages auf die Entscheidungen rund um die Evakuierung aus Kabul zurück. Sie betont, beim Abzug der Bundeswehr und der Räumung von Camp Marmal im Norden Afghanistans sei 2021 alles gut gelaufen. Merkel sagt: «Der Zeitplan wurde eingehalten. Ich war darüber sehr erleichtert.»
Sie halte die deutsche Beteiligung an dem Militäreinsatz in Afghanistan auch im Rückblick für richtig, sagt sie. Denn damals habe es die «begründete Hoffnung» gegeben, dass danach keine weiteren Terrorangriffe von Afghanistan aus geplant werden würden.
Kein neues Gemeinwesen in einem anderen Staat etablieren
Bei allen anderen Zielen - von der Rechtsstaatlichkeit bis zu den Frauenrechten - «müssen wir, muss die internationale Gemeinschaft, feststellen, gescheitert zu sein», führt sie weiter aus. Als Ursachen für dieses Scheitern nennt sie unter anderem mangelndes kulturelles Verständnis der westlichen Verbündeten, Vetternwirtschaft und Rauschgifthandel. Auch habe man wohl die geopolitische Lage des Landes und den Einfluss Pakistans nicht ganz richtig eingeschätzt. Dass man Afghanistan damals auf der Flucht vor den Taliban habe verlassen müssen, sei «ein furchtbares Scheitern» gewesen.
Die mangelnden Fortschritte in Afghanistan hätten sie 2011 auch skeptisch werden lassen, was mehr Engagement in Libyen nach dem Aufstand gegen Machthaber Muammar al-Gaddafi betraf. Sie habe damals gedacht, man solle dort nicht «eine nächste Baustelle» anfangen.
Auslöser für die Militärintervention in Afghanistan waren die Anschläge in den USA vom 11. September 2001, zu denen sich das Terrornetzwerk Al-Kaida bekannte.
Dass es in jedem Fall auf eine Evakuierung aus Kabul hinauslaufen werde, sei ihr erst ab dem 13. August 2021 - dem letzten Tag ihres Sommerurlaubs - bewusst gewesen, als sie telefonisch über die dramatische Zuspitzung der Lage in Afghanistan informiert worden sei, sagt Merkel. Die Taliban hatten am 15. August 2021 mit der Eroberung von Kabul - praktisch ohne Gegenwehr - komplett die Kontrolle über Afghanistan übernommen.
Dass Präsident Aschraf Ghani damals aus dem Land geflohen sei, nennt Merkel wenig beispielhaft. Sie vergleicht Ghani mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 vor Ort geblieben sei.
Kanzlerin wollte keine Bilder wie 1975 in Saigon
Merkel habe ihm damals persönlich aufgetragen, dass sie keine Bilder wie in Saigon sehen wolle, berichtet der letzte Kommandeur der Bundeswehr in Afghanistan, Brigadegeneral Ansgar Meyer, den Ausschussmitgliedern bei seiner Vernehmung. «Und das haben wir, was den militärischen Teil angeht, auch geschafft», fügt er hinzu.
Wenige Wochen später habe er «Saigon» dann im Fernsehen gesehen, sagt er mit Blick auf die internationale Evakuierungsaktion in Kabul. «Das hat mich tief getroffen.» Die chaotische Evakuierung von US-Truppen und ihrer Verbündeten im Frühjahr 1975 aus der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon markierte das Ende des Vietnamkriegs.
Auf die Frage des Ausschussvorsitzenden Ralf Stegner (SPD), warum sie das damals gesagt habe, antwortet Merkel, sie selbst könne sich an diese Aussage zwar nicht erinnern. Wenn der General das so sage, so wolle sie dies aber nicht in Abrede stellen. Gemeint habe sie wohl, «dass es ein sicherer Abzug sein soll». Vor der Vernehmung Merkels befragte der Ausschuss ihren einstigen Kanzleramtschef Helge Braun (CDU).
Innerhalb der damaligen schwarz-roten Bundesregierung gab es in den Jahren 2020 und 2021 unterschiedliche Auffassungen, in welchem Umfang und auf welchem Weg lokale Mitarbeiter der Bundeswehr und deutscher Institutionen in Deutschland aufgenommen werden sollten. Zu denjenigen, die auf der Bremse standen, zählte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).
Orden für einen Bundespolizisten und einen Diplomaten?
Jenseits der politisch Verantwortlichen gibt es aus Sicht der Mitglieder des Ausschusses neben den an der Evakuierung beteiligten Bundeswehr-Soldaten noch einige Menschen, die in der akuten Notsituation im August 2021 entschlossen und mutig gehandelt haben. Ein Bundespolizist, ein Diplomat und vier weitere Menschen sollten aus Sicht der FDP-Obfrau im Afghanistan-Untersuchungsausschuss, Ann-Veruschka Jurisch, dafür einen Bundesverdienstorden erhalten.
«Durch ihren unermüdlichen Einsatz und ihre Hartnäckigkeit» hätten insbesondere der damalige Geschäftsträger der deutschen Botschaft, Jan Hendrik van Thiel, und sein Sicherheitsberater von der GSG-9 der Bundespolizei - ein Polizist mit dem Arbeitsnamen «Fisch» - die Landung der Bundeswehr erst möglich gemacht, sagt die Abgeordnete am Rande der wahrscheinlich letzten Zeugenvernehmung des Ausschusses.
Der Ausschuss hat den Auftrag, die Umstände der hektischen deutschen Evakuierung aus Kabul und die Entscheidungswege mit Blick auf die Aufnahme afghanischer Ortskräfte zu untersuchen. Dabei soll er auf mögliche politische Fehlentscheidungen hinweisen und Empfehlungen für das Handeln in der Bundesregierung in künftigen Krisen und Konflikten abgeben.
Szenario «Emirat 2.0»
Helge Braun räumt ein, es wäre wohl besser gewesen, man hätte sich damals auch auf das vom Bundesnachrichtendienst (BND) für unwahrscheinlich erachtete Szenario einer raschen Machtübernahme durch die militant-islamistischen Taliban vorbereitet. Fachaufsicht für den BND hat das Kanzleramt.
Die Grünen-Politikerin Canan Bayram weist Braun darauf hin, dass dieses intern «Emirat 2.0» genannte Szenario in einer Staatssekretärsrunde bereits im November 2020 als wahrscheinlich angesehen wurde. Merkel sagt, darauf angesprochen: «Ich habe dieses Szenario nicht zur Kenntnis bekommen.»
Auf eine Frage des FDP-Abgeordneten Peter Heidt, ob sie in Bezug auf Afghanistan jemals von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht habe, antwortet die Altkanzlerin: «Richtlinienkompetenz ist ja nicht Ordre de Mufti oder basta», vielmehr habe sie sich stets um Einigkeit im Kabinett bemüht.
Jurisch regt in einem Schreiben an den Bundespräsidenten an, neben dem Polizisten und dem Diplomaten auch zwei frühere Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kabul, einen deutschen Zivilisten sowie einen damals in der afghanischen Hauptstadt eingesetzten BND-Mitarbeiter mit dem Bundesverdienstorden zu ehren. Zur Begründung führt sie aus, sie alle hätten sich freiwillig entschieden, trotz der hohen damit verbundenen Gefahren über zwölf Tage am Flughafen Kabul zu bleiben, um zusammen mit der Bundeswehr die Evakuierungsoperation vorzubereiten und zum Erfolg zu führen.
Bundespolizist sah Entscheidungen des Auswärtigen Amts kritisch
Der frühere Sicherheitsberater der Botschaft - der Polizist «Fisch» - hatte bei einer früheren Sitzung des Untersuchungsausschusses als Zeuge gesagt, er habe nach seinen Erfahrungen im Irak und in Afghanistan entschieden, «dass ich nicht mehr für das Auswärtige Amt im Ausland arbeiten werde». Der Diplomat Markus Potzel war, bevor die Taliban in Kabul die Macht übernahmen, als neuer deutscher Botschafter für Afghanistan vorgesehen. Potzel habe ihm am Samstag, dem 14. August, - einen Tag vor der hektischen Evakuierung - noch schriftlich mitgeteilt, er sei gegen eine Verlegung des Botschaftspersonals zum Flughafen, berichtete der Bundespolizist.
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