Herr Wissing, Bahnreisende und -pendler brauchen viel Geduld und Langmut angesichts zahlreicher Zugausfälle und Verspätungen. Um die marode und überlastete Infrastruktur zu retten, startet die Bahn das größte Schienensanierungsprogramm ihrer Geschichte. Was ist vorgesehen?
VOLKER WISSING: Wir packen jetzt die Generalsanierung des Bestandsnetzes an. Dafür ändern wir die Finanzierungsregeln und legen im neuen Bundesschienenwegeausbaugesetz fest, dass wir nicht nur defekte Infrastrukturen erneuern können, sondern den gesamten Bestand. Außerdem schaffen wir eine Infrastrukturgesellschaft, die sich gemeinwohlorientiert um Schienen und Bahnhöfe kümmert. Und dann haben wir auch noch den großen Finanzplan aufgelegt. Damit stellen wir der Bahn die nötigen Mittel für die Modernisierung des Schienennetzes zur Verfügung und bauen den Finanzierungsrückstau vollständig ab, der sich über die letzten Jahrzehnte aufgebaut hat.
Das Ganze wird Abermilliarden Euro kosten, allein bis 2027 sind 40 Milliarden zusätzlich vorgesehen. Wie wollen Sie diese Summen verbauen?
WISSING: Wir haben vor, unser Schienennetz weiter auszubauen, aber das alleine hilft uns nicht, um die Bahn wieder attraktiv, zuverlässig und pünktlich zu machen. Denn wir haben nicht nur einen Ausbaubedarf, sondern auch einen Erneuerungsbedarf. Die Hauptkorridore des Schienennetzes sind so marode, dass sie durch Baustellen so stark beeinträchtigt sind, dass sie nur noch eingeschränkt für den Verkehr zur Verfügung stehen. Das darf nicht sein. Wir brauchen diese Strecken, auf denen der Großteil des Verkehrs stattfindet, und zwar mit möglichst voller Kapazität und Verfügbarkeit. Unter meinen Vorgängern wurde versucht, diese Korridore im laufenden Betrieb zu reparieren. Das hat aber dazu geführt, dass die Zahl der Baustellen nicht ab-, sondern kontinuierlich zugenommen hat – zum Leidwesen der Fahrgäste und Logistiker. Deshalb ändern wir das jetzt und gehen das Problem von Grund auf an.
Wie wollen Sie es besser machen?
WISSING: Der Sanierungsbedarf ist mittlerweile so groß geworden, dass wir es nicht mehr schaffen, die Bauarbeiten im laufenden Betrieb abzuwickeln. Uns bleibt keine andere Möglichkeit, als für einen vergleichsweise kurzen Zeitraum nach und nach die Hauptkorridore zu sperren, um sie in dieser Zeit grunderneuern zu können – also weg von dem Flickwerk, das zu vielen Baustellen führt, aber das Problem nicht löst. Wir fangen mit der Riedbahn an, sperren diese wichtige Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim im Sommer nächsten Jahres. In nur fünf Monaten wird einmal alles erneuert, also auch die Dinge, die nicht zur Erneuerung anstehen, weil sie noch nicht kaputt sind, aber zeitnah ausgetauscht werden müssten. Damit die Strecke dafür nicht immer wieder neu gesperrt werden muss, erledigt die Bahn Gleisbett, Schwellen und Oberleitungen in einem Aufwasch. So erhalten wir mit einer kurzen Sperrpause quasi einen neuen Korridor, der dann über Jahre störungsfrei ist. Das ist ein Kraftakt, der aktuell vorbereitet wird.
Fürchten Sie, dass Fahrgäste während dieser Zeit aufs Auto ausweichen und dann nicht mehr zur Bahn zurückkehren?
WISSING: Die Sperrung ist natürlich nicht angenehm für die Fahrgäste, die morgens gewohnt sind, mit dem Zug zur Arbeit zu fahren. Da müssen wir um Verständnis bitten. Aber die Bahn tut alles dafür und wir begleiten das auch ganz eng, um die Auswirkungen so gering wie möglich zu halten. Aber wir kommen um diese Grundsanierung nicht herum, wenn die Bahn dauerhaft attraktiv werden soll. Das ist auch im Sinne der Fahrgäste. Es ist wie mit einem Auto, das irgendwann öfter in der Werkstatt als auf der Straße ist. Das ist dann der Zeitpunkt, wo man das mit dem Reparieren aufgeben und was Neues kaufen muss. So ähnlich machen wir es jetzt auch.
Trotz der spürbaren Probleme bei der Bahn steigen immer mehr Menschen in den Zug. Sie haben mit dem 49-Euro-Ticket einen großen Teil dazu beigetragen, nicht nur im Fernverkehr, sondern vor allem im Regionalverkehr. Wird dieser Preis im kommenden Jahr zu halten sein?
WISSING: Der Preis ist sehr, sehr attraktiv, aber der Preis allein ist nicht die eigentliche Revolution. Das Revolutionäre ist die Kombination mit der radikalen Vereinfachung komplexer Tarifsysteme. Dass man ein Ticket, das man irgendwo im Regionalverkehrsverbund kauft, in ganz Deutschland nutzen kann. Die vielen komplizierten Tarifstrukturen wurden damit beseitigt und das Fahren in Tarifzonen abgeschafft. Das schätzen die Bürgerinnen und Bürger. Das ist das Revolutionäre. Aber im ÖPNV gibt es noch sehr viel zu tun. Wir müssen jetzt im Sinne der Fahrgäste die Strukturen weiter verbessern, dafür sind die Länder zuständig. Wir haben noch über 60 Verkehrsverbünde. Das ist zu viel. Wenn diese verschmolzen werden würden, hätte man z.B. weniger Verwaltungsstrukturen, die auch bezahlt werden müssen. Ich kann nur appellieren, nicht eine permanente Preisdebatte zu führen. Es ist völlig klar, je günstiger desto angenehmer, aber am Ende ist das nicht das allein Entscheidende bei diesem Ticket. Bevor das Deutschlandticket eingeführt worden ist, kostete eine Monatsfahrkarte teils zweihundert Euro oder mehr und da durfte man dann nur in wenigen Tarifzonen fahren. Wir sind jetzt bei einem sehr günstigen Preis, aber eben noch nicht am Ende mit der Reform.
Die Landesverkehrsminister fordern jetzt schon mehr Geld ...
WISSING: Einfach nur Geld auf den Tisch legen tötet jede Reform. Wenn ich dem Wunsch der Länder nachgegeben hätte, die am Anfang gar nichts bei den Tarifen verändern, sondern einfach nur mehr Regionalisierungsmittel wollten, gäbe es heute kein Deutschlandticket. Reformdruck ist nur zu erzeugen, wenn man Finanzierungsfragen an Inhalte knüpft. Es kann nicht sein, dass man bestehende Defizite einfach nur ständig finanziell ausgleicht. So löst man keine Probleme und verändert nichts. Die Länder sollten jetzt gemeinsam mit dem Bund nach vorne schauen, ihre Strukturen überprüfen und überlegen, wie der ÖPNV effizienter und digitaler werden kann. Deswegen haben wir die Finanzfragen auch bis 2025 geklärt.
Aus Bayern beschwert sich Landesverkehrsminister Christian Bernreiter von der CSU, der sagt, mit dem Wissing sei alles schwierig, er kriege da keine Termine, der lasse Bayern hängen. Was ist da dran?
WISSING: Nichts. Ich kümmere mich sehr um Bayern und Herr Bernreiter hatte auch schon drei Termine bei mir, um die Anliegen des Freistaats vorzutragen. Wo wir helfen können, helfen wir auch. Ich finde die Aussagen deshalb befremdlich. Sie entsprechen einfach nicht den Tatsachen. Ich hatte im Übrigen nicht mit jedem Verkehrsminister so oft Einzeltermine wie mit Herrn Bernreiter – und es waren vergleichsweise lange Termine. Der Großteil des normalen Abstimmungsbedarfs läuft übrigens auch nicht auf Ministerebene. Herr Bernreiter kann da seinen eigenen Fachbeamten auch gerne mal vertrauen, die in sehr intensivem Austausch mit den Expertinnen und Experten in unserem Haus die meisten Dinge ganz gut geklärt bekommen.
Gerade hier in Berlin legt die sogenannte 'Letzte Generation' häufiger den Verkehr lahm und besprüht ikonische Bauwerke wie das Brandenburger Tor mit Farbe. Sie haben sich bereits mit Vertretern dieser Gruppe getroffen. Konnten sie Ihnen den Protest irgendwie schlüssig begründen?
WISSING: Ich habe kein Verständnis für diese Form des Protests, weil ich finde, dass wir in der Gesellschaft diskutieren, Argumente austauschen müssen und sich am Ende die besseren Argumente durchsetzen müssen. Ich finde es nicht hinnehmbar, dass man Straftaten begeht, um seine politischen Ziele durchzusetzen. Bei einigen Gruppierungen nehmen die Proteste inzwischen Formen von Terror an, bis hin zu Sabotage-Anschlägen auf die Bahninfrastruktur. Wir können nur von Glück sprechen, wenn Menschen dabei keinen körperlichen Schaden erleiden. Zur Letzten Generation: Ich finde Dialog grundsätzlich richtig und wichtig. Wir haben uns unter anderem damals über den Preis des Deutschlandtickets unterhalten. Ich habe erklärt, warum es aus meiner Sicht schlecht für die Bahn wäre, das 9-Euro-Ticket zu diesem Preis fortzuführen, weil dann die Mittel für den Ausbau des Angebots fehlen. Aber um es noch einmal klar zu sagen: Gespräche sind in keiner Weise eine Legitimation des Protests.
Zum Ende eine Frage, die zu Ihrer Herkunft und zur Jahreszeit passt. Sie stammen von einem Pfälzer Weingut und jetzt wird der Wein gelesen. Welche Ernte erwarten Sie dieses Jahr?
WISSING: Als mein Vater verstarb, mussten wir den Betrieb aufgeben. Nach über 200 Jahren Tradition in der Familie war das eine ganz schwierige Entscheidung, aber meine Mutter hätte das allein nicht geschafft. Ich habe dort früher mit Leidenschaft geholfen. Trauben ernten, Kellerarbeit, die Rebstöcke pflegen. Mein Vater und ich sind dabei richtige Freunde geworden. Es war kein klassisches Vater-Sohn-Verhältnis, sondern mehr. Heute haben wir unsere Flächen verpachtet. Aber weil ich früher auch Weinbauminister in Rheinland-Pfalz war, habe ich noch gute Kontakte zu den Winzern. Dieser Jahrgang scheint ein guter zu werden. Sehr hohe Qualität, in sehr großer Menge.