Es soll wieder direkt verhandelt werden zwischen der Ukraine und Russland. Voraussichtlich am Dienstag findet ein Treffen der Unterhändler der Kriegsparteien in Istanbul statt. Auf dem Spiel steht viel. Wie kann der Krieg, der innerhalb von vier Wochen Tausende von Opfern gefordert und unvorstellbare Zerstörungen mit sich gebracht hat, gestoppt werden? Wie könnte die Ukraine in Zukunft aussehen? Und nicht zuletzt: Ist der russische Machthaber Wladimir Putin tatsächlich bereit, seine hochgesteckten militärischen und politischen Ziele zurückzuschrauben und seinen stockenden Feldzug zu beenden?
Ukraine-Staatschef Selenskyj scheint entschlossen zu Kompromissen
Immer deutlicher wird, dass zumindest der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj entschlossen ist, Kompromisse einzugehen, um das Töten zu beenden. So sagte er am Sonntag in einem Interview mit unabhängigen russischen Journalisten zu, eine Neutralität der Ukraine „gründlich“ zu prüfen. Dies ist eine Kernforderung Moskaus für einen Waffenstillstand. Selenskyj pochte allerdings darauf, dass eine Neutralität nur mit zwingenden „wirksamen Sicherheitsgarantien“ für sein Land denkbar sei.
Der Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen, Klaus Gestwa, sieht weitere Punkte, bei denen der ukrainische Präsident Bewegung angedeutet hat. „Zum Beispiel den Status der Krim oder die Frage, wie man mit den beiden abtrünnigen Volksrepubliken umgeht“, sagte er im Gespräch mit unserer Redaktion. Rund die Hälfte der Verwaltungsbezirke Donezk und Luhansk waren schon vor Kriegsbeginn faktisch unter russischer Kontrolle. Schwieriger wird es, wenn Putin die gesamte ukrainische Küstenregion am Asowschen Meer beanspruchen sollte – samt Mariupol, das ja zu dem Symbol dieses Krieges schlechthin geworden ist. Erst recht wäre eine Aufgabe der Hafenstadt Odessa kaum vorstellbar. Spekuliert wird darüber, ob die Schaffung eines Korridors zwischen dem Donbass und der Krim zumindest eine Zwischenlösung darstellen könnte.
Frieden für Ukraine? Das ist die rote Linie für Wolodymyr Selenskyi
Selenskyj weiß, dass die Zementierung einer Teilung nicht nur für ihn, sondern auch für viele Landsleute sehr schmerzhaft wäre. Nie vergisst er zu versichern, dass jede Gebietsveränderung per Referendum durch die Bevölkerung besiegelt werden würde. „Die rote Linie für Selenskyj ist, dass die Ukraine als souveräner und demokratischer Staat weiter bestehen muss. Das muss auch die rote Linie der europäischen und internationalen Politik sein“, sagte Gestwa. Dabei könnte die Aussicht auf einen EU-Beitritt hilfreich sein – auch wenn er in weiter Ferne liegen dürfte.
Spekulationen über eventuell eingeschränkte Kriegsziele des Kremls hatte Russlands Vize-Generalstabschef Sergej Rudskoj ausgelöst, als er in der vergangenen Woche überraschend ankündigte, dass sich die russischen Streitkräfte auf die Eroberung des kompletten Donbass in der Ostukraine konzentrieren würde. Eine politische Bestätigung aus Moskau blieb jedoch bis dato aus. Tatsächlich gingen in den letzten Tagen russische Bombardierungen und Raketenangriffe auf Ziele im ganzen Land – also auch fernab des Donbass – weiter.
Osteuropa-Experte Gestwa ist skeptisch, ob Putin tatsächlich eine Einigung mit der Ukraine anstrebt: „Seine Vorstellungen hat er im Juni 2020 schriftlich formuliert. Was er will, ist ein neues Jalta. Da sitzen dann Joe Biden, Macron, Boris Johnson, Xi Jinping aus China und er zusammen und teilen die Welt unter sich auf. Das funktioniert aber nicht, weil die Ukraine kein Objekt ist, sondern ein Subjekt der internationalen Politik und mitzureden hat".“
Alle aktuellen Entwicklungen lesen Sie in unserem Liveblog zum Krieg in der Ukraine.