Das Urteil des Supreme Courts war kaum eine Stunde alt, als sich Jeff Landry mit einer Stellungnahme zu Wort meldete. "Das ist der Tag, den der Herr gemacht hat", erklärte der republikanische Justizminister des konservativen Bundesstaats Louisiana: "Lasst uns jubeln und uns freuen." Wenige Sätze später erklärte der Politiker, dass ein vorsorglich beschlossenes Gesetz in Kraft trete und Abtreibungen in seinem Bundesstaat ab sofort verboten seien: "Ich werde alles tun, um das Gesetz durchzusetzen".
Tatsächlich hat der Südstaat am Golf von Mexiko schon seit längerem eines der rigidesten Abtreibungsgesetze in den USA. Der Schwangerschaftsabbruch ist selbst bei Vergewaltigung und Inzest verboten und wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren bedroht. Bislang hatte das Urteil "Roe gegen Wade" des Supreme Courts von 1973 die Anwendung des Gesetzes jedoch verhindert. Nachdem der Oberste Gerichtshof am Freitagmorgen das Urteil gekippt hatte, tritt das Verbot hier wie in einer Reihe anderer Bundesstaaten unverzüglich in Kraft.
Ganz überraschend kam der radikale Bruch des Obersten Gerichtshofs mit dem seit 50 Jahren geltenden Abtreibungsrecht nicht. Schon im Mai war ein Entwurf des vom erzreaktionären Richter Samuel Alito geschriebenen Spruchs durchgesickert, der kaum verändert wurde. Gleichwohl schlug die Veröffentlichung am Freitag wie eine Bombe ein. Konservative Abtreibungsgegner führten Freudentänze vor dem mit hohen Gittern gesicherten Gerichtsgebäude in Washington auf, während sich die geschockten Befürworter der bisherigen Regelung im ganzen Land zu Protesten aufmachten. Für das Wochenende werden Unruhen erwartet. Amerika befindet sich im Ausnahmezustand.
Demokratin Nancy Pelosi: "Schlag ins Gesicht aller Frauen"
"Es ist ein Schlag ins Gesicht aller Frauen", sagte Nancy Pelosi, die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses. Ex-Präsident Barack Obama meldete sich mit einer seltenen Stellungnahme zu Wort, in der er dem Supreme Court vorwarf, "die persönlichste Entscheidung, die jemand treffen kann, den Launen von Politikern und Ideologen zu überlassen". Auf der anderen Seite des politischen Spektrums forderte der fanatisch-evangelikale Ex-Vizepräsident Mike Pence: "Wir dürfen keine Ruhe geben, bevor die Unverletzlichkeit des Lebens ins Zentrum der Gesetze aller Bundesstaaten rückt."
Nach dem Urteil wird es nun nämlich zunächst einen juristischen Flickenteppich in den USA geben. Rund die Hälfte der Bundesstaaten mit rund 26 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter werden sofort oder in den nächsten Tagen Schwangerschaftsabbrüche verbieten. Von den Demokraten regierte Bundesstaaten wie Kalifornien oder New York werden aber weiterhin Abtreibungen zulassen. Viele Frauen werden deshalb notgedrungen von einem Bundesstaat in den anderen reisen, um den Eingriff vornehmen zu lassen. Für einkommensschwächere Afroamerikanerinnen oder Migrantinnen, die nicht die nötigen Mittel haben oder nicht so einfach Urlaub nehmen können, kann dies große Probleme verursachen.
Dass der Kongress ein Recht auf Abtreibung beschließt, ist kaum vorstellbar
Landesweit sichern ließe sich das Recht auf Abtreibung nur durch ein vom Kongress beschlossenes Gesetz. Doch das ist in den vergangenen 50 Jahren nicht gelungen. Aktuell sind die Chancen denkbar gering, denn die Demokraten im Senat bekommen nicht einmal alle eigenen Stimmen zusammen. Dass sie die für die Mehrheit erforderlichen mindestens zehn Republikaner auf ihre Seite ziehen können, erscheint in der aufgeheizten Stimmung des polarisierten Landes undenkbar.
So forderte Präsident Joe Biden, der von einem "traurigen Tag für das Gericht und das Land" sprach, die Bürger denn auch auf, bei den anstehenden Kongresswahlen im November mehr Abtreibungsbefürworter in das Parlament und den Senat zu wählen. Tatsächlich hatten sich bei Umfragen rund zwei Drittel der Amerikaner gegen das Kippen des Roe-gegen-Wade-Urteils ausgesprochen, das Abtreibungen bis zur 24. Woche erlaubte. Die Demokraten hoffen nun, die öffentliche Empörung über den Spruch des Verfassungsgerichts in Stimmen ummünzen zu können.
Doch ob die Rechnung aufgeht und sich vor allem am Ende die Mehrheiten massiv verschieben, ist fraglich. Kurzfristig will Biden den Frauen mit präsidialen Erlassen und der Macht des Justizministeriums zumindest in den nun absehbaren juristischen Streitfällen beistehen. So wollen einige Bundesstaaten Frauen auch dann belangen, wenn sie irgendwo anders den Abbruch vornehmen lassen. Zudem wollen viele Republikaner den Versand von Abtreibungspillen unterbinden.
Ehe für alle, Verhütungsmittel: Joe Biden sieht weiter liberale Grundrechte in Gefahr
In seiner Ansprache im Weißen Haus machte Biden auf eine möglicherweise noch größere Gefahr aufmerksam. Der Supreme Court kippt das landesweite Abtreibungsrecht nämlich ausdrücklich, weil es nicht in der Verfassung vorgesehen ist und damit Sache der Bundesstaaten sei. Ausdrücklich fordert der ultra-rechte Richter Clarence Thomas in der Urteilsbegründung eine Überprüfung, ob diese Argumentation nicht auch für Verhütungsmittel und die gleichgeschlechtliche Ehe gelte.
Viele Beobachter erwarten daher weitere, dramatische Verfahren vor dem Supreme Court, den Ex-Präsident Donald Trump mit der Ernennung von drei konservativen Richtern dauerhaft nach rechts verschoben hat. "Das ist ein extremer und gefährlicher Pfad, auf den sich das Gericht begibt", sagte Biden: "Der Kampf ist nicht vorbei!"