Am späten Abend, nach sechs quälend langen Sitzungsstunden voller Niederlagen, holte Matt Gaetz zur ultimativen Demütigung des republikanischen Frontmanns Kevin McCarthy aus: „Ich möchte einen Hausbesetzer melden“, schrieb der Abgeordnete aus Florida an die Verwaltung des US-Kongresses und monierte, dass McCarthy bereits das Büro des Parlamentssprechers bezogen habe, ohne gewählt zu sein.
Die Beschwerde des rechtsextremen Parlamentariers, der wie McCarthy der republikanischen Partei angehört, war die bizarre Krönung eines Tages, wie man ihn im ehrwürdigen Washingtoner Kapitol seit 100 Jahren nicht erlebt hat. Traditionell kommt am Mittag des 3. Januar das frisch gewählte Repräsentantenhaus erstmals zusammen. Normalerweise ist das ein großes Fest und die Abstimmung über den mächtigen Posten des „Speakers“, den zuletzt die Demokratin Nancy Pelosi bekleidet hat, eine Formsache: Im Zweiparteiensystem bestimmt die Mehrheitsfraktion die Personalie.
Die Wahl des Sprechers ist normalerweise eine Formalie
Doch an diesem Dienstag war alles anders. „Ob ich mir das so gewünscht hätte? Nein!“, erwiderte McCarthy abends auf Reporterfragen, bevor er schnell zu einer Krisensitzung hinter verschlossenen Türen verschwand. Gemäßigte Abgeordnete der Republikaner empörten sich derweil über die „20 Taliban“ in ihren Reihen. Gaetz, der zu den Anführern der Aufständler gehört, schien das zu gefallen. „So verletzend und falsch die Bezeichnung ist“, konterte er: „Ich bin für einen langen Kampf vorbereitet, den ich am Ende gewinnen werde.“
Nur äußerlich hatte am Dienstagmittag alles wie immer begonnen, als sich pünktlich um 12 Uhr mittags die 434 Abgeordneten zunächst zum Gebet und dann zur Wahl im Plenarsaal versammelten. Viele hatten ihre Familien mit nach Washington gebracht, die das Kapitol besichtigten. Manche Parlamentarier brachten ihre Kinder mit in den Sitzungssaal.
Bei genauerem Hinsehen konnte man von der schmalen Pressetribüne hinter dem Rednerpult jedoch kleine Veränderungen erkennen: Nancy Pelosi, die bisherige Sprecherin des Repräsentantenhauses, nahm in der achten Reihe auf einer Hinterbank Platz. Auch war von dem Sitzblock der Demokraten eine kleine Ecke abgeschnitten und den Republikanern zugeschlagen worden: Mit 222 zu 212 Abgeordneten halten die Republikaner nun die Mehrheit – zumindest auf dem Papier.
19 Republikaner verweigern McCarthy die Stimme
Doch wie wenig die Kopfzahl seiner Fraktion bedeutet, wurde Kevin McCarthy schnell klar. Gerade erst hatte ihn die Trump-treue Fraktionsvizechefin Elise Stefanik für den Posten des Sprechers vorgeschlagen, der letztlich über die Tagesordnung und die Besetzung der Ausschüsse entscheidet, als die Regie aus dem Ruder zu laufen begann. Bei der Abstimmung, zu der die Abgeordneten in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen wurden, war man bei „B“ angekommen, als die ersten Republikaner aus der Reihe tanzten. „Biggs“, antwortete der Abgeordnete Andy Biggs auf die Frage nach seiner Wahl. Kurz danach erwiderte auch der Kollege Dan Bishop: „Biggs“. Eine Minute später war Lauren Boebert dran. „Jim Jordan“, lautete ihre Antwort.
So ging das eine Stunde lang. Am Ende des ersten Wahlgangs war klar, dass McCarthy ein gewaltiges Problem hat: Nicht eine Handvoll, wie er schlimmstenfalls befürchtet hatte, sondern 19 Republikaner verweigerten ihm ihre Gefolgschaft. Der 57-Jährige versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Doch sein Lächeln wirkte zunehmend gequält. Bei den Demokraten kam derweil Partystimmung auf: Ihr Frontmann Hakeem Jeffries hatte nicht nur die Fraktion geschlossen hinter sich versammeln können, sondern sogar mehr Stimmen als McCarthy erhalten.
Trump ruft zur Wahl von McCarthy auf
Zwar ist es angesichts der Mehrheitsverhältnisse und der Tatsache, dass der Aufstand von Ultrarechten und Rechtsextremen angezettelt wurde, sehr unwahrscheinlich, dass am Ende Jeffries als Sieger vom Platz geht. Aber der Kontrast zwischen dem Chaos und der Zerrissenheit auf der rechten und der Geschlossenheit auf der linken Seite des Hauses war beeindruckend.
Am Mittwoch scheiterte McCarthy auch im vierten, fünften und sechsten Anlauf. Auch dieses Mal hatten die Republikaner wieder einen Gegenkandidaten nominiert. In allen Durchgängen wurde Byron Donalds als Gegenkandidat ins Rennen geschickt. Auf ihn entfielen jeweils 20 Stimmen. Damit konnte McCarthy die Zahl seiner Gegner im Vergleich zu den Abstimmungen vom Vortag nicht reduzieren. Immerhin konnte McCarthy den rechten Übervater Donald Trump, der am Dienstag dröhnend geschwiegen hatte, zu einer unterstützenden Stellungnahme bewegen.
Ob sich die ultrarechten Aufständler davon beeindrucken lassen, ist fraglich. Sie wollen McCarthy, den sie für einen unzuverlässigen Wendehals halten, um jeden Preis verhindern. Inhaltlich kann ihnen der inzwischen komplett weichgespülte Kandidat eigentlich gar nicht mehr weiter entgegenkommen. Am Ende könnte die Fraktionsspitze nur einen anderen Bewerber ins Rennen schicken. Doch das lehnte McCarthy ab: „Ich bleibe, bis wir siegen!“