Der Tag begann verdammt früh für Abigail Spanberger, und er sollte mächtig an ihren Nerven zerren. Eine Stunde vor Sonnenaufgang, um kurz vor sechs Uhr, stand die Abgeordnete der Demokraten am Dienstag auf einem Parkplatz im Flecken Dumfries in Virginia, rund 50 Kilometer südlich von Washington. Ein kalter Novemberwind blies gegen ihren Wintermantel.
"Heute ist Wahltag. Vergessen Sie nicht, Ihre Stimme abzugeben", forderte die 43-Jährige Pendler und Passanten auf. Sie strahlte in unzählige Handykameras, posierte für Selfies und demonstrierte optimistische Zuversicht. Dabei musste die ehemalige CIA-Agentin ernsthaft fürchten, dass ihre politische Karriere am Abend ein jähes Ende finden würde. Im November 2018 war sie mit der Anti-Trump-Welle in Amerikas Vorstädten in den Kongress katapultiert worden. Ihr Wahlkreis gilt Demoskopen als Stimmungsbarometer. "Wenn sie verliert, dürften die Demokraten mehr als 20 Sitze im Kongress abgeben müssen", sagte die New York Times voraus. Für viele war Spanbergers Ende schon ausgemacht. Immerhin rechneten Auguren mit einem Zugewinn von bis zu 60 Sitzen für die Republikaner bei den Zwischenwahlen.
Das Ergebnis der Midterms in den USA erwarten auch die Abgeordneten mit Spannung
Erst kurz nach 22 Uhr konnte Spanberger aufatmen. Da rief sie erst Präsident Joe Biden an, um ihr zu ihrem Sieg zu gratulieren. Anschließend trat die Abgeordnete mit ihrem Mann und den drei Töchtern vor einer riesigen amerikanischen Flagge vor ihre Fans. "Danke, Virginia!", sagte sie: "Wir haben es geschafft!" Die Erleichterung war ihr anzumerken.
Nicht nur ihr.
Bei den US-Zwischenwahlen trudeln mit der Zeit erstaunliche Ergebnisse ein
Wahlnächte in den USA sind eine bizarre Angelegenheit. Weil es keine zentrale Erfassung der Stimmen gibt, trudeln nach Schließung der Wahllokale ziemlich zufällig die Ergebnisse einzelner Bezirke ein. Die Datenflut schwappt vom Osten gen Westen des Landes, verzerrt durch fehlende Früh- oder Briefwahlstimmen, während bewundernswerte Zahlendeuter wie John King beim Sender CNN und Steve Kornacki beim Konkurrenten MSNBC daraus mit der Hilfe demografischer Daten, historischer Vergleiche und unfassbaren Detailwissens versuchen, einen Sinn zu machen.
Doch an diesem Dienstag ist das nicht einfach. Klar ist nur: Irgendwas läuft anders als erwartet. Erst fährt der republikanische Gouverneur Ron DeSantis in Florida einen erdrutschartigen Sieg ein. Dann beginnen die anfangs miserablen Zahlen der Demokratin Spanberger plötzlich zu klettern. In Ohio gewinnt Joe Bidens Partei einen Parlamentssitz hinzu. In Georgia bleibt der von Trump gekürte republikanische Senatsbewerber Herschel Walker deutlich hinter dem Trump-kritischen republikanischen Gouverneur Brian Kemp zurück. Und plötzlich erhärten sich die Spekulationen, dass der Demokrat John Fetterman, ein 2,06 Meter großer Polit-Rocker mit Tattoos auf den Armen, der im Wahlkampf durch einen Schlaganfall gehandicapt war, im brutal umkämpften Swing State Pennsylvania tatsächlich für die Demokraten einen Senatssitz hinzugewonnen hat.
Bis das endgültige Ergebnis der Midterms da ist, können Wochen vergehen
Es ist nicht einfach, aus all diesen teils widersprüchlichen Entwicklungen einen großen Trend abzuleiten – zumal wichtige Rennen in Georgia und im Westen des Landes noch offen sind und wohl erst in den nächsten Tagen oder Wochen endgültig entschieden werden, wozu auch die Rechtsstreitigkeiten beitragen, die Republikaner nun allerorten anzetteln.
Aber eines ist klar: Die angesichts miserabler Umfragewerte und Benzinpreisfrusts der Bevölkerung erwartete Mega-Klatsche für Biden ist ausgeblieben. Demonstrativ postet der Präsident bei Twitter ein Foto von sich mit dem Handy am Ohr, einer grünen Kappe auf dem Kopf und einem schrägen Lächeln auf den Lippen.
"Das ist nicht die Nacht, die die Republikaner sich gewünscht haben", konstatiert Nate Cohn, der Daten-Guru der New York Times: "Die Partei bleibt fast überall hinter den Erwartungen zurück." Und Lindsey Graham, ausgerechnet jener Senator, der sonst keine Gelegenheit auslässt, seinem großen Meister Donald Trump nach dem Mund zu reden oder mit ihm grinsend für ein Foto zu posieren, gestand: "Das ist definitiv keine rote Welle." Rot, das muss man wissen, ist in den USA nicht die Farbe der Linken, sondern der Republikaner.
Bei den Republikanern sorgt der Wahlabend zum Teil für Ernüchterung
Die werden an diesem Abend mächtig durchgeschüttelt: Florida liefert ihnen einen Riesenerfolg. Dort spielen die Demokraten plötzlich kaum noch eine Rolle. Dafür kippt das wichtige Pennsylvania, wo sowohl der quacksalbernde rechte Fernseharzt und Verschwörungstheoretiker Mehmet Oz wie auch Gouverneurskandidat Doug Mastriano heftige Niederlagen einfahren. Für die künftigen Mehrheitsverhältnisse im Senat hängt nun alles von dem Ausgang der Wahlen in Arizona, Nevada und Georgia ab. Wenn die Demokraten zwei dieser Rennen verlieren (wonach es derzeit nicht aussieht), dann hätten die Republikaner die Mehrheit.
Es wird ein Marathon-Nervenkrimi. In Georgia nämlich scheint keiner der beiden Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit zu gewinnen. Damit geht das Rennen in die Verlängerung: Am 6. Dezember dürfte es – wie vor zwei Jahren, als Joe Biden ebenfalls wochenlang um seine Mehrheit zittern musste – eine Stichwahl geben.
Demokraten dürften im Repräsentantenhaus ihre knappe Mehrheit nach den Midterms einbüßen
Im Repräsentantenhaus ist die Lage nicht viel klarer. Zwar zeichnet sich ab, dass die Demokraten dort ihre knappe Mehrheit verlieren. Das beschert dem Präsidenten ein mächtiges Handicap für die kommenden zwei Jahre. Aber politisch ist der Schaden nicht so dramatisch wie befürchtet. Die Midterms sind immer eine Denkzettelwahl. 29 Sitze verlieren die Amtsinhaber im historischen Durchschnitt zur Mitte ihrer Amtszeit. Bei Donald Trump waren es gar 40. Dieses Mal dürften die Republikaner aber deutlich weniger als 20 Sitze umdrehen. Genau wird man auch das erst in ein paar Tagen wissen, weil einige der umkämpften Mandate aus dem Westen kommen, wo etwas langsamer ausgezählt wird.
So richtige Partystimmung wollte bei der "Grand Old Party" denn am Abend in Washington auch nicht aufkommen. "Es ist klar, dass wir das Repräsentantenhaus zurückgewinnen", verkündete der derzeitige Fraktionschef Kevin McCarthy um zwei Uhr morgens und setzte hinzu: "Das amerikanische Volk erwartet einen Richtungswechsel, der Amerika zurück auf den richtigen Kurs bringt. Und die Republikaner sind bereit, diesen zu liefern."
Die Arbeit mit dem Repräsentantenhaus wird für Biden wohl deutlich schwieriger werden
Es klang beinahe ein wenig trotzig. Denn vor McCarthy liegt nun eine regelrechte Herkulesaufgabe. Die neue republikanische Fraktion, die er gerne anführen möchte, wird deutlich radikaler sein als die alte. Rechtsextreme Krawallmacher wie die wiedergewählte Abgeordnete Marjorie Taylor Greene setzen ganz auf Trumps Strategie des Chaos und der Spaltung. An einer konstruktiven Politik sind sie nicht interessiert. "Wir werden die Regierungsbehörden bloßstellen, die mit Big Tech zusammenarbeiten, um das Biden-Regime zu schützen, und die Wahrheit hinter einer Mauer der Korruption verstecken", kündigte die Verschwörungsideologin noch am Wahlabend an: "Der Laptop von Hunter (Biden, dem Sohn des Präsidenten, d. Red.) könnte nur die Spitze des Eisbergs sein."
Damit ist klar, wohin die Reise gehen dürfte: Joe Biden dürfte in den nächsten zwei Jahren kaum noch ein Gesetz durch das Parlament bekommen. Er wird mit Erlassen und der Unterstützung des Senats bei Personalentscheidungen regieren müssen. Aus dem Repräsentantenhaus dürften ihm Querschüsse, Blockaden und Untersuchungsausschüsse drohen. Rechte Hitzköpfe wie Greene und der von Trump hochgeschätzte Abgeordnete Jim Jordan fordern bereits eine Impeachment-Anklage und ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten. Sachliche Gründe gibt es dafür nicht, die Erfolgsaussichten sind gering, aber in dem vergifteten politischen Klima der USA bringen solche Vergeltungsaktionen Punkte an der Basis und wichtige Unterstützung vom TV-Propagandakanal Fox News.
Republikaner stehen vor Gezerre um wegweisende Parteientscheidungen
Doch auch für McCarthy, einen politischen Opportunisten, der sich – anders als der republikanische Senats-Fraktionschef Mitch McConnell – nach dem Kapitolssturm vom 6. Januar auf Trumps Seite schlug, brechen schwierige Zeiten an. Seine Mehrheit wird mutmaßlich hauchdünn sein. Und das ruppige Selbstbewusstsein der Trumpianer in seiner Fraktion steht in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zum sich abzeichnenden Ausgang der Midterms, wo Trumps durchgeknallteste Kandidaten eher schlecht abschnitten.
So drohen den Republikanern heftige interne Richtungskämpfe. Fast scheint es, als habe der Ex-Präsident schon so etwas geahnt. Lange bevor die Wahllokale am Dienstag schlossen, schickte er eine vierseitige Liste mit seinen angeblichen Erfolgen bei den Midterms herum. Den mächtig erstarkten Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, warnte er schon einmal, er mache "einen großen Fehler", wenn er sich für die republikanische Präsidentschaftskandidatur bewerben sollte.
Vor ein paar Tagen schon hatte Trump seinen innerparteilichen Kandidaten als "Ron DeSanctimonious" (Ron, der Scheinheilige) verunglimpft. Am Mittwoch freilich dürfte der Ex-Präsident einen Wutanfall bekommen haben. Das Boulevardblatt New York Post, seine Lieblingslektüre am Morgen, brachte ein Foto des Gouverneurs von Florida auf der Titelseite. Darunter stand fett: "DeFuture" – die Zukunft.