Die Amerikaner lieben das Pathos, das Emotionale und Überschwängliche. Die Guten sind hier immer ein wenig besser, die Bösen ein wenig böser, die Abgründe tiefer, die Helden heldenhafter. Joe Biden kennt das Spiel, er ist seit Jahrzehnten fester Teil davon. Er war Zeuge historischer Momente und politischer Schlachten. Viele hat er auf die Bühne kommen sehen – und viele davon wieder verschwinden. Dutzende Male durchschritt er selbst tiefste Täler, nur um doch wieder emporzusteigen. Doch dass ausgerechnet er, das politische Stehaufmännchen, abserviert wird, einer Konkurrentin weichen soll, von der doch alle gesagt hatten, dass sie es nicht könne, hat er so nicht kommen sehen. Verbissen klammerte er sich an das, was man ihm zu nehmen suchte: die erneute Kandidatur ums Weiße Haus. Doch die Würfel waren längst gefallen.
Biden sitzt im Oval Office, seine Familie hat sich um ihn versammelt, die Enkelin wischt sich Tränen aus den Augen. In den vergangenen Tagen hatten sie im Fernsehen immer wieder Zusammenschnitte seiner größten Patzer, seiner Stolperer und Versprecher gezeigt. Pleiten-, Pech- und Pannen-Schnipsel. Nun sind die Kameras wieder auf ihn gerichtet. Ein letztes Mal der Held sein, auch wenn es ein tragischer ist, das lässt er sich nicht nehmen. „Ich habe dieser Nation mein Herz und meine Seele gegeben“, sagt er. Doch: „Die Verteidigung der Demokratie, die auf dem Spiel steht, ist wichtiger als irgendein Amtstitel.“
Joe Biden beerdigte seinen Lebenstraum von der zweiten Amtszeit
Elf Minuten dauert seine Ansprache an das Volk, elf Minuten, die nicht nur deutlich machen, wie sehr sich dieser 46. amerikanische Präsident von seinem Vorgänger Trump unterscheidet - jenem Mann, der noch nicht einmal eine Niederlage akzeptiert, geschweige denn sich freiwillig aus einem offenen Rennen zurückziehen würde. Diese elf Minuten machen auch deutlich, welch persönlicher Tiefschlag hinter dieser machtpolitisch richtigen Entscheidung steckt. Der Einzug ins Weiße Haus war zweifellos die Erfüllung von Bidens Lebenstraum. Sein Rückzug aus dem Wahlkampf 2024 dessen tragisches Ende. Keine Woche nach dieser Rede an die Nation muss er erleben, wie seine Partei, die Demokraten, in eine regelrechte Kamala-Harris-Euphorie verfallen, die Spendengelder sprudeln und ein Sieg bei den Wahlen nicht mehr automatisch Wunschdenken ist.
„Mister Biden hat ein Leben lang versucht, das Richtige für die Nation zu tun, und er tat dies auf epische Weise, als er sich entschied, seine Kampagne für die Wiederwahl zu beenden“, schreibt Jon Meacham, Historiker und Professor an der Vanderbilt University in Tennessee, in einem Essay für die New York Times. „Seine Entscheidung ist eine der bemerkenswertesten Führungshandlungen in unserer Geschichte, ein Akt der Selbstaufopferung, der ihn in die Gesellschaft von George Washington stellt, der ebenfalls von der Präsidentschaft zurückgetreten ist. Etwas über seine unmittelbaren Wünsche zu stellen – zu geben, anstatt zu versuchen zu nehmen – ist vielleicht das Schwierigste, was ein Mensch tun kann. Und Mister Biden hat genau das getan.“
Politik war die Konstante in Bidens Leben
Doch der Schritt hat ihn Kraft gekostet. Noch gebrechlicher wirkt er in den ersten Tagen, auch seine Corona-Infektion steckt ihm in den Knochen. Seit Lyndon B. Johnson im Jahr 1968 hat es keinen amtierenden Präsidenten mehr gegeben, der keine zweite Amtszeit angestrebt hat. Die „second term“ mag wie eine Fußnote in der Geschichte klingen, doch in der amerikanischen Politik ist sie entscheidend. „Es ist sehr schwierig, in nur vier Jahren die eigenen Ambitionen zu verwirklichen und dem amerikanischen Volk zu zeigen, dass viele der Wahlkampfversprechen in Erfüllung gegangen sind“, sagt Sudha David-Wilp, Direktorin der Denkfabrik German Marshall Fund Berlin. „Hinzu kommt, dass es etwas Besonderes ist, wenn man zweimal vom amerikanischen Volk gewählt wurde – es ist eine Art Ehrenabzeichen, denn es gibt Präsidenten wie Jimmy Carter oder Georg Bush senior, die das nicht geschafft haben.“
Die Politik war immer so etwas wie die Konstante, der Anker in Bidens Leben. Der älteste Präsident, den die USA je hatten, war einst der jüngste Senator: Im Alter von nur 29 Jahren wurde er 1972 in den US-Senat gewählt und vertrat dort bis 2009 Delaware. Doch sein Triumph wurde von einem Autounfall überschattet, bei dem seine erste Ehefrau Neilia und die gemeinsame Tochter Naomi nur wenig Tage nach der Wahl ums Leben kamen. Die Söhne Beau und Hunter wurden verletzt. Um sie kümmerte sich Joe Biden als alleinerziehender Vater, bis Jill in sein Leben trat. Joe Biden sagte einst, die Söhne hätten ihn gerettet. 2015 starb Beau an den Folgen eines Hirntumors. Hinfallen, wieder aufstehen, das war immer Bidens Motto. Privat wie politisch.
Mit Joe Bidens Rückzug könnte eine Ära enden
Bei den Wahlen 1988 und 2008 wollte er als Kandidat bei der Präsidentenwahl antreten. Beim ersten Mal stolperte er über eine Plagiatsaffäre. Beim zweiten Mal hatte er keine Chance gegen Barack Obama. Obama ernannte Biden dann immerhin zum Vizepräsidenten seiner zwei Amtszeiten. Als er es 2016 erneut versuchen wollte, musste er für Hillary Clinton zurückstecken – ausgerechnet Obama, dem Biden so treu gedient hatte, machte sich für sie stark. Erst mit 78 Jahren zog er als ältester Präsident der Geschichte ins Weiße Haus ein. Die Wahl war ein Referendum über Donald Trump, dessen Amtszeit das Land tief gespalten hatte. Auch das machte Bildens Präsidentschaft zu einer besonderen. „Durch seinen Rückzug aus dem Wahlkampf kann er sein Vermächtnis bewahren“, sagt David-Wilp. „Er wird in die Geschichte eingehen als ein Präsident, der nicht nur eine bahnbrechende Gesetzgebung auf den Weg gebracht hat, sondern nach vier Jahren der Unberechenbarkeit unter Präsident Trump wieder Stabilität in die transatlantischen Beziehungen gebracht hat.“ Biden brachte wichtige Wirtschaftsreformen auf den Weg, er investierte in Technologie, in Infrastruktur, in die Umwelt. Er stärkte die Nato und stand an der Seite der Ukraine.
Vielleicht steck hinter Bidens Rückzug sogar mehr als nur die übliche politische Gesetzmäßigkeit. Vielleicht steht er symbolisch für den Umbruch, der die Vereinigten Staaten schon seit einiger Zeit erfasst hat. Das Ende einer Ära. Minderheiten werden langsam zu Mehrheiten, der Anteil der Weißen liegt unter 60 Prozent und schrumpft kontinuierlich. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass der amerikanische Traum für ihre Generation nicht mehr greifbar ist: ein eigenes Haus, ein sicheres Einkommen, stabile Verhältnisse. Eine gute Ausbildung für ihre Kinder ist für viele Amerikaner unbezahlbar geworden, die Lebenserwartung der Amerikaner ist im westlichen Vergleich niedrig.
„Ich glaube, dass Amerika endlich erkennt, dass sich die demografischen Verhältnisse ändern und jüngere Leute da draußen sein müssen, um die Herausforderungen zu meistern“, sagt US-Expertin David-Wilp. Und Herausforderungen gibt es nicht nur im Innern, sondern auch im internationalen Gefüge. Mächte wie Russland und China ringen um die Vorherrschaft in der Welt, immer mehr Amerikanerinnen und Amerikaner hadern damit, dass ihr Land als Weltpolizist überfordert ist. „Biden ist im Laufe seiner Karriere zu einer Schüsselfigur geworden, wenn es darum geht, Amerikas Rolle in der Welt zu definieren“, sagt sie. „Ich denke, es ist die Aufgabe des nächsten Amtsinhabers zu zeigen, dass Investitionen im eigenen Land notwendig sind, aber Amerika auch in der Welt präsent sein muss, um unseren Wohlstand zu erhalten.“
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